Lissy Meyer-Kemperling sagte sich tausend Mal, dass sie auf ihre Mutter hätte hören sollen. Natürlich wusste sie, dass all das »hätte«, »wäre ich doch« und »wenn doch damals« so überflüssig war wie ein Gerstenkorn im Auge. Geschehen ist geschehen, und sie hatte nun einmal einen unsensiblen Naturburschen geheiratet, weil ihre Hoffnungen auf eine Designer-Karriere nach verpatzter Schneiderlehre geplatzt waren.
Lissy, damals umworbene Dorfschönheit, war vor zwanzig Jahren, die sich wie mindestens fünfzig anfühlten, auf diesen unsäglichen muskelstarken, intellektlosen, ständig fremdgehenden Lukas hereingefallen.
Immer hatte sie auf Besserung gehofft. Dass er zur Ruhe käme, mehr vom Gehirn als vom Unterleib gesteuert. Doch nun war ihr jegliche Hoffnung ausgegangen. Die fünf Blagen waren auf dem besten Wege, zu Kopien des Ehegatten zu werden, Lissy fütterte immer noch die Hühner und die Schweine. Fett war sie geworden, und ziemlich sauer. Jedes Jahr ein bisschen fetter, ein bisschen saurer. Und jeder Krug geht schließlich nur so lange zum Brunnen, bis er bricht. Früher oder später. Zwanzig Jahre - war das nun früher oder war das später? Lissy war es egal.
Lukas hatte wie immer ohne ein Wort der Anerkennung das Abendessen in sich hineingeschlungen, Augen und Ohren nur für das Fernsehgerät. Ob das Pilzgericht etwas bitterer schmeckte als sonst, kommentierte er nicht. Statt dessen schrie er die Mattscheibe an: »Gibt doch den Ball ab, du Volltrottel! So ein Idiot!«
Und nun steht er vor der Tür, der Förster, Lukas Kumpel, schon einen Tag nach der Entsorgung, und will mit dem Verblichenen sprechen. Aber der liegt ja nun zerstückelt im Haschelmoor, mitten im Haschelwald, wo er gern auf Wildschweinjagd gegangen ist, der selige Lukas, niemals ohne Schnaps, niemals, ohne vorher Lissy eine zu ballern und zu sagen: »Ich will meine verdammte Ruhe haben.«
Lissy erklärt dem Förster: »Er ruht sich aus, nehme ich an. Er hat gesagt, er wolle seine Ruhe haben.«
»Im Bett oder wo?«, fragt der Förster, dessen Intelligenz sich mit der des verschiedenen Gatten trefflich messen kann.
»Nein. Er ist von mir geschieden.«
»Geschieden? Hä?«
»Weg. Fort. Vielleicht in seinem Lieblingswald.«
Seine Mine verrät nichts als Misstrauen, aber der Förster zuckt mit den Schultern und wendet sich zum Gehen. »Dann schau ich mal, ob ich ihn finde«, sagt er noch. Und: »Tschö mit Ö.«
Lissy schließt zögernd die Türe. Was nun? Lukas liegt häppchenweise im Wald, der Förster runzelt die Stirn und schnuffelt nach ihm. Da fällt ihr ein, dass ja noch eine große Portion vom gestrigen Pilzgericht im Kühlschrank steht. Sie reißt die Türe auf und ruft ihm hinterher: »Willst du nicht hier im Warmen warten? Bei einem Bierchen und einem Teller Pilzragout?«
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Hier die Erklärung zu diesem wunderlichen Meisterwerk. Also, das ist so: Ich bin (je nach verfügbarer Zeit, manchmal auch Monate lang nicht) im Kurzgeschichten-Forum (in der Seitenleiste zu finden) aktiv. Dort gibt es immer wieder viel zu lernen, für mich als Autor und für mich als Kritiker. Den hiesigen Blogbeitrag über Mikroliteratur hatte ich auch dort eingestellt, mit wesentlich mehr Resonanz als auf dem Blog. Irgendwann im Verlauf der angeregten Diskussion schrieb K*R*, eifrige Forumsteilnehmerin und Autorin:
Mein Mann hat seine Waldesruh', was mache ich mit dem Förster?
Was sagt uns das? Ist das Literatur? Könnte was werden. Wenn sich z.B. M* an die Arbeit macht (gern, stimmt's?) und daraus klugen Kopfes eine Geschichte formt.
Er könnte uns erzählen, dass Lissy Meyer-Kemperling einen unsensiblen Naturburschen/Bauerndepp geheiratet hat, weil ihre Hoffnungen auf eine Designer-Karriere nach verpatzter Schneiderlehre geplatzt sind. Lissy, ehemals Dorfschönheit, heiratet den starken, intellektlosen, ständig fremdgehenden Lukas, kriegt fünf Blagen, füttert die Hühner und die Schweine, wird fett und ziemlich sauer. Lukas wird von ihr entsorgt/getötet, der Förster, sein Kumpel, fragt nach ihm, aber der liegt ja nun zerstückelt im Haschelmoor. Das befindet sich im Haschelwald, wo er gern auf Wildschweinjagd gegangen ist, niemals ohne Schnaps, niemals, ohne vorher Lissy eine zu ballern und zu sagen: "Ich will meine verdammte Ruhe haben."
Das kommentierte ich mit:
Also DAS gefällt mir! Auf ins Haschelmoor, die Leiche suchen.
Darauf K* R*:
Günter, mach da was draus, ist Dein Genre. Lukas liegt häppchenweise im Wald, der Förster runzelt die Stirn und schnuffelt nach ihm.
Das ließ ich mir einige Minuten durch den Kopf und dann in die Finger auf der Tastatur gehen. Sowas kommt von sowas.
Penible Blogbesucher dürfen nun herausklamüsern, welche Worte von K* R* und welche von mir stammen. Wer weniger penibel ist, oder zu faul, kann hier eine farbcodierte Version studieren: Mein Mann hat seine Waldesruh’
*Forumsnamen ausgesternt