Den Anfang verpasst oder vergessen? Bitteschön, hier entlang: [Teil 1]
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Elisabeth wurde schwanger, gegen alle Erwartungen und Wahrscheinlichkeiten. Nun hätte man meinen mögen, dass sie von ihren Zustand voller Freude Freunden, Nachbarn und Verwandten erzählt hätte, denn immerhin war endlich die Schande, die zu jener Zeit mit der Kinderlosigkeit einher ging, getilgt. Doch sie versteckte sich vor den Menschen, nur Zacharias hatte jetzt, neben der Zwangsverstummung, einen zweiten Beleg dafür, dass Gabriel ihm tatsächlich eine Botschaft Gottes gebracht hatte.
Fünf Monate lang zog sich Elisabeth zurück und war zufrieden damit, dass »der Herr sie mit Wohlgefallen angesehen« und »die Schmach von ihr genommen« hatte, wie sie sich ausdrückte. Sie freute sich, wollte aber ihre Freude mit niemandem teilen. Oder wollte sie ihre Freude von niemandem trüben lassen?
Eigentlich ging es ja niemanden etwas an, ob ein alt gewordenes Paar das nächtliche Ruhelager nur noch für den Schlaf nützte oder nach wie vor Gefallen an der liebe- und lustvollen Vereinigung der beiden Körper fand. Aber die Nachbarn, sie redeten eben gerne und viel und nicht immer freundlich … da war es wohl besser, sich nicht zum Gegenstand der Unterhaltungen zu machen.
Außerdem konnte ein so spät im Leben gezeugtes Kind womöglich im Mutterleib absterben oder als nicht lebensfähige Frühgeburt auf die Welt kommen. Wir sind ja weit in der Zeit zurückgereist, damals war weder an Ultraschall noch an Fruchtwasseruntersuchungen oder medizinische Hilfe für Frühgeborene zu denken. Kinder starben bei der Geburt oder wurden tot ausgestoßen, das war schmerzlich und bitter; in solch einem tragischen Fall der Fälle wollte Elisabeth lieber mit ihrem Zacharias allein trauern und sich all die Kommentare ersparen, die auf das Paar herabregnen würden, das die Lebensspanne der Fortpflanzung längst hinter sich gelassen hatte und trotzdem – wer weiß auf welche Weise! – noch den Versuch unternommen hatte, Nachkommen in die Welt zu setzen.
Welche Gründe auch immer die beiden hatten, das im Mutterleib heranreifende Kind sollte ihr Geheimnis bleiben bis zur Geburt. Dachten sie zumindest.
Als Elisabeth im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft war, hatte Gabriel in einer Nachbarstadt eine weitere Botschaft zu überbringen.
Er suchte in Nazareth ein Mädchen auf, eine gewisse Maria. Seine Nachricht war noch um einiges unerhörter als die Worte an Zacharias, aber dazu kommen wir gleich. Erst wollen wir noch festhalten, dass Maria verlobt war, mit einem jungen Mann namens Joseph. Seinerzeit und in jener Gegend gab es zwischen verlobt und verheiratet manche Unterschiede, und einer bestand darin, dass eine Vereinigung der Körper – heute würde man unbekümmert das Wort Sex nennen – und somit eine Schwangerschaft ausgeschlossen war. Es gab zwar Frauen, die das Bett mit Männern teilten, mit denen sie nicht verheiratet waren, genauso wie es Männer gab, die ständig auf der Suche nach solchen Frauen waren, aber für Maria wäre das so undenkbar gewesen wie für die meisten jungen Menschen ihrer Zeit. Wir sind, wie gesagt, weit in der Zeit zurück gereist. Mancher mag das heute für unvorstellbar halten, jedoch – es war nun einmal so.
Als der Engel bei Maria auftauchte, erschrak sie nicht so sehr über das unerwartete Erscheinen des Boten, sondern mehr über seine merkwürdigen Worte.
»Gegrüßet seist du, Holdselige«, sprach Gabriel das Mädchen nämlich an, »der Herr ist mit dir, du Gebenedeite unter den Frauen.«
Holdselig, gebenedeit – solche aus unserem aktiven Wortschatz verschwundenen Wörter machen es uns etwas schwer zu verstehen, worüber Maria sich so wundern musste. Diese Wortwahl ist bei jemandem zu finden, der diese Geschichte vor längerer Zeit erzählt hat, und er hat seine Worte stets mit Bedacht, wenn auch aus heutiger Sicht nicht immer ganz treffend, gewählt. In diesem Fall war seine Übersetzung des Textes ins Deutsche nicht falsch, allerdings sind uns solche Begrifflichkeiten im Lauf der Jahrhunderte fremd geworden. Wir wollen versuchen, uns auszumalen, warum Maria bei dieser Anrede erschrak.
Sie war ein ganz normales bürgerliches Mädchen, keine Fürstentochter, und sie war auch nicht verlobt mit einem Königssohn, sondern mit einem Tischler. Der unvermutete und unheimliche Besucher grüßte sie jedoch wie eine Persönlichkeit von hohem gesellschaftlichen Rang. Was sollte diese übertriebene Anrede, welchen Zweck verfolgte der sonderbare Mann, der da vor ihr stand? Maria war zu Recht irritiert und erschrocken. Wie Zacharias vor seinem Räucheraltar einerseits wegen des unerwarteten und unerklärlichen Auftauchens einer Gestalt aus dem Nichts, aber eben auch angesichts der völlig deplazierten Worte. Für ein junges, normales, überhaupt nicht außergewöhnliches Mädchen war die Anrede so unpassend wie für uns heute eine Badehose in der Sauna.
Hatte Gabriel vor lauter Ehrerbietung das Naheliegende, nämlich ein paar beruhigende Worte, übersehen? Bei Zacharias hatte er bekanntlich zunächst vergessen, sich vorzustellen, und auch Maria wusste nicht, wer sie da ungebeten heimsuchte. Der Engel fuhr fort: »Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott.«
Göttliche Gnade – das war ja durchaus ein Grund, sich nicht zu fürchten, oder sich wenigstens nicht mehr allzu sehr zu fürchten, so irritierend auch der Beginn der Ansprache gewesen war. Marias Herz klopfte etwas weniger ungestüm, während sie weiter zuhörte. Die Ansprache wurde immer rätselhafter.
»Du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen, dem sollst du dann den Namen Jesus geben. Er wird ein bedeutender Mensch sein, man wird ihn als Sohn des Höchsten bezeichnen. Gott der Herr wird ihm den Königsthron seines Vaters David geben.«
Moment mal, wieso denn David? Sie sollte und wollte doch Joseph heiraten, aber wenn der Vater ihres Kindes David hieß, dann wurde aus der geplanten Hochzeit wohl nichts? Und warum sollte ausgerechnet ihr Sohn, wenn sie irgendwann, in ein oder zwei Jahren vielleicht, einmal einen bekommen würde, ein bedeutender Mann werden, von den Leuten noch dazu als Sohn des Höchsten bezeichnet? Darüber hinaus war es irritierend, dass von einem Königsthron die Rede war. Der Königsthron Davids stand für die Herrschaft über dieses Volk, und die wurde nun schon eine ganze Weile von fremder Hand bestimmt, da die Römer inzwischen das Sagen hatten. Herodes saß zwar auf dem Königsthron, aber wichtige Dinge entschied er nicht. Maria schüttelte den Kopf angesichts der vielen Ungereimtheiten. Sie versuchte, weiter zuzuhören, der Engel war ja noch nicht fertig. »Er wird für immer König sein über das Haus Jakob, sein Königreich wird nämlich kein Ende haben.«
Also ein ewig lebender Sohn wurde ihr da angekündigt? Das Mädchen hatte in den paar Sätzen zu viel Unbegreifliches gehört, um die einzelnen Fragen noch sortieren zu können. Als nun die Gelegenheit da war, etwas zu dieser Botschaft zu sagen, fiel ihr nur die fehlende biologische Voraussetzung für das ganze Gedankengebäude ein: »Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann weiß?«
Von keinem Mann wissen, das bedeutete nichts anderes, als dass sie weder mit ihrem Joseph noch sonst einem Mann eine intime Beziehung hatte, und auch nicht haben wollte, bevor sie rechtmäßig und ordnungsgemäß verheiratet war. Einen David, den Gott wohl als Bräutigam ausgesucht hatte, kannte sie noch nicht einmal. Ganz zu schweigen von einem zukünftigen Ehemann, der Anspruch auf das Königtum hätte, wenn man die Römer und ihren Hampelmann Herodes gedanklich einmal ausblenden wollte.
Gabriel hatte den Priester Zacharias ein paar Monate zuvor mit einer temporären Verstummung bedacht, als dieser Einwände gegen die überbrachte Botschaft vorgebracht hatte. Mit Maria ging er behutsamer um. Anstatt ihre Frage als Unglaube oder Widerborstigkeit auszulegen und mit Stummheit oder sonst einer Plage zu ahnden, erklärte er ihr, wie sie zu einem Sohn kommen sollte: »Der heilige Geist wird über dich kommen, die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Aus diesem Grund wird auch das Heilige, das du zur Welt bringen wirst, Sohn des Höchsten genannt werden.«
Vorstellen konnte sich das Mädchen auch nach dieser Erklärung immer noch nichts, vermutlich las Gabriel die Verwirrung in ihren Augen und gab ihr noch ein Zeichen mit auf den Weg, an dem sie erkennen sollte, dass er ihr wirklich eine Botschaft von Gott gebracht hatte. Er verriet Maria ein Geheimnis: »Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn. Und das in ihrem hohen Alter. Alle gingen davon aus, dass sie unfruchtbar wäre, und jetzt ist sie im sechsten Monat. Bei Gott ist nämlich kein Ding unmöglich.«
Elisabeth sollte schwanger sein? Ausgerechnet diese zwar nette, aber doch ziemlich betagte Dame? Maria beschloss, nicht weiter nachzudenken, was alles möglich oder unmöglich war. Sie glaubte an Gott, kannte die Geschichten von den Wundern, die in der Vergangenheit geschehen waren. Vom Wasser in der Wüste für ein ganzes Volk bis zum lodernden Feuer auf einem Altar, der vorher samt Opfer darauf mit Wasser überflutet worden war. Selbstverständlich konnte dieser Gott tun, was er sich vorgenommen hatte, und eine Schwangerschaft ohne vorangegangene erotische Begegnung und Vereinigung war für ihn auch nicht schwieriger zu bewerkstelligen als andere Wundertaten, von denen man hörte. Also antwortete das Mädchen nur: »Ich bin eine Dienerin des Herrn, mir geschehe, was du eben angekündigt hast.«
Der Engel war zufrieden, er hatte seinen Auftrag erfüllt. Die Botschaft war überbracht, Maria hatte eingewilligt. Er verließ die Holdselige.
Elisabeth und Zacharias wussten noch nicht, dass ihr sorgsam gehütetes Geheimnis keines mehr war.
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Fortsetzung? Folgt.
P.S.: Das Bild zeigt ein altes, ein sehr altes Wörterbuch.