Donnerstag, 7. Juli 2011

Jessika–die Konfrontation /// Teil 7

Der Blick zurück: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6]. Und nun die Fortsetzung:

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Ich war nie sonderlich gut im Schätzen des Alters einer Person, ob nun männlichen oder weiblichen Geschlechts. Ich konnte auch nicht sagen, ob ich selbst älter, jünger oder eben genau meinem Alter entsprechend aussah. Als Jana Nováková ihre Türe öffnete, meinte ich, einer 120jährigen gegenüber zu stehen. Mindestens 120.

Sie hatte Jessikas Größe, dichte weiße Haare zu einem altertümlichen Kranz geflochten, trug ein beiges Sommerkleid, an den Füßen Filzpantoffeln. Frau Novákovás Haltung war aufrecht, ihre Statur schlank – aber ihre Haut schien nur aus Runzeln zu bestehen.

»Jessičhko!«, rief sie und strahlte uns mit vergnügt funkelnden Augen an. »Vítejte!«

»Das ist Johannes«, stellte mich Jessika vor, »er gehört zu mir, aber er spricht kein Tschechisch.«

»So so, warum denn nicht? Herzlich willkommen, Johannes.«

Sie trat zurück, um uns in die Wohnung zu lassen. Ich war überrascht, welcher Luxus sich mir offenbarte. Der Boden war mit einem weichen, hellgrauen Teppich ausgelegt, die Möbel von allerbester Qualität und geschmackvoll zusammengestellt. Die Luft war angenehm kühl und duftete dezent nach Limone, wie ich es aus amerikanischen Gebäuden kannte.

»Haben Sie eine Klimaanlage?«, fragte ich.

»Ich heiße Jana, wir sind per Du und jawohl, ich habe eine Klimaanlage. Setzt euch, Kinder, setzt euch.«

Wir nahmen auf dem Sofa Platz, das so bequem war, wie es aussah. Jana verschwand in ihre Küche und kam bald mit einem Tablett zurück, auf dem Gläser, eine Flasche Wein und ein Teller mit Salzgebäck standen. Sie schenkte ein, schob das Gebäck zu uns hinüber und meinte: »Kinderchen, greift zu!«

Ich antwortete: »Danke, aber ich muss gleich noch Auto fahren, in Tschechien gilt ja null Promille …«

»Ich kann dein Monstrum fahren, wenn ich darf«, sagte Jessika. »Trink ruhig einen Schluck, der Wein ist etwas ganz Besonderes.«

»Aus der Heimat«, fügte Jana hinzu.

Ich probierte – es war vermutlich der beste Roséwein, den ich je gekostet hatte. Was auf dem Etikett stand, konnte ich nicht entziffern, es mochten arabische Schriftzeichen sein. Ich blickte Jana fragend an. »Welche Heimat?«

»Na der kommt aus Israel, aus der Heimat unserer Art«, antwortete sie etwas irritiert.

Jessika erklärte: »Johannes gehört zu mir, aber er ist keiner von uns. Deshalb kann er auch nur zwei Sprachen, Deutsch und Englisch, und er muss die Gesetze und Vorschriften der Menschen beachten. Er ist aber ein Freund, vor dem wir keine Geheimnisse haben müssen. Er kennt die Nephilim, mich und andere. Wir können ihm vertrauen.«

»Ein Mensch? Einfach ein Mensch?« Jana musterte mich erstaunt, als sei ich ein exotisches Lebewesen oder eine Rarität aus dem Gruselkabinett.

»Ja«, antwortete ich, »einfach ein Mensch. Ganz normal.«

Die alte Frau schüttelte den Kopf und wandte sich an Jessika: »Aber das gibt es nicht, dass ein Mensch unser Geheimnis kennt und weiter leben darf. Das weißt du doch.«

Sie antwortete: »Nitzrek ist einverstanden.«

»Nein, das kann gar nicht sein. Das hat es zu meiner Lebzeit noch nie gegeben, und du weißt, dass ich nicht mehr die Jüngste bin.«

Merkwürdigerweise war mir keineswegs mulmig zumute. Ich vermutete, dass mir Jana Nováková trotz ihres Alters überlegen war, was die Kräfte betraf – Jessika sowieso. Kostproben ihrer Stärke hatte ich wiederholt beobachtet, zuletzt auf dem schwarzen Turm.

Beobachtet? Du hast darüber geschrieben, nichts hast du beobachtet.

In meinen Gedanken vermochte ich nicht mehr zu trennen zwischen dem, was sein konnte und dem, was unmöglich war. Inzwischen hatte ich mich an die absurde Situation gewöhnt, mit einer Frau unterwegs zu sein, die gar nicht existieren konnte, weil ich sie nur für meine Geschichten erfunden hatte. Eine Frau, die ein paar Stunden zuvor einem Kind das Genick gebrochen hatte, die Dinge von mir wusste, die sie gar nicht wissen konnte. Eine Frau, deren virtuelles Leben ich in meinen Erzählungen schon mehrmals auslöschen wollte, die jedoch jedes Mal – literarische Figuren haben nun mal ein Eigenleben, zumindest im Rahmen der jeweiligen Geschichte – einen Weg gefunden hatte, am Leben zu bleiben.

Ich lächelte zu Jana hinüber und fragte: »Wie alt sind Sie – bist du eigentlich?«

»Kannst du rechnen, Kindchen?«

»Ich glaube schon.«

»Ich bin am gleichen Tag auf die Welt gekommen wie Leonardo da Vinci, und das war im Jahr 1452.«

Ja ja, und Elvis lebt. Er spielt Poker mit Michael Jackson.

559 Jahre alt wollte die Frau sein? Ich wusste von Jessika bereits, dass die Lebensspanne ihrer Art sich viel weiter erstrecken konnte als die menschliche. Aber das war nun doch ein unvorstellbares Alter. Ich schüttelte den Kopf und meinte: »Nein, das ist Unfug. So lange lebt kein Mensch und kein Nephilim.«

»Sagt der Fachmann«, gab Jessika trocken zurück.

Die womöglich mehr als fünf Jahrhunderte alte Dame kicherte vor sich hin und schenkte Wein nach. »Trinkt, Kinderchen«, ermunterte sie uns, »es ist genug Vorrat im Haus.«

Jessika ergänzte: »Ich fahre, du brauchst keine Angst vor Führerscheinverlust und tschechischer Gerichtsbarkeit haben.«

Unmerklich hatte sich eine gewisse Gleichgültigkeit meiner bemächtigt. Zwei Gläschen Wein hatten normalerweise bei mir keine spürbaren oder sichtbaren Auswirkungen, aber jetzt bemerkte ich, dass ich die Situation wie ein Betrachter von außen wahrnahm. Das alles hier, die neben mir sitzende Phantasiegestalt aus meinen eigenen Geschichten, die gegenüber sitzende Person aus einer anderen Epoche, die luxuriöse Wohnung in einem unscheinbaren Nachkriegsbauwerk, das alles hatte nichts mit mir zu tun. Das zwölfjährige Mädchen, das in Jessikas Armen den letzten Atemzug getan hatte, die Polizei, die vermutlich hinter den Tätern her war, das war ein Film, den ich mir mit mäßigem Interesse anschaute.

Ich schloss für einen Moment die Augen, war plötzlich sehr müde.

»Was macht dein Kunstprojekt?«, hörte ich Jessika fragen.

Jana antwortete: »Das geht recht gut voran. Die Sammlung wächst. Bisher habe ich 249 Exemplare.«

Mühsam öffnete ich meine Augen, hoffte, dass mein Sekundenschlaf nicht bemerkt worden war. Doch Jana musterte mich aufmerksam, ein Lächeln auf den Lippen, das die Millionen Falten noch zu multiplizieren schien.

Jana erklärte: »Wenn ihr möchtet, zeige ich euch nachher die Sammlung.«

Ich wollte fragen, um welche Kunst es ging, aber mir fielen wieder die Augen zu. Mühsam riss ich mich zusammen.

Kaltes Wasser ins Gesicht. Steh auf und geh ins Bad.

»Ich muss mal auf die Toilette«, wollte ich sagen, aber es kam so etwas wie »I-muh-hauf-doli« aus meinem Mund. Ich wollte aufstehen, aber selbst das misslang. Die Augen bekam ich nicht mehr auf.

Ich fühlte Jessikas Arm um meine Schultern. Sie drückte mich an sich und gab mir einen Kuss auf die vom kalten Schweiß feuchten Lippen. Dann spürte ich ihre Hand auf meiner Stirn.

So hat sie auch das Kind auf dem Turm gehalten, bevor …

Noch einmal bekam ich kurz die Augen auf, für eine oder zwei Sekunden, aber ich erkannte nichts und niemanden mehr. Verschwommene Formen und Schatten, die auf mich zukamen. So weit ich auch schon weggedriftet war, ich hörte Janas Stimme noch deutlich: »Und dein Johannes wird dann die Nummer 250.«

Jessika entgegnete: »Aber doch lieber erst morgen, wenn er …«

Mehr hörte und spürte ich nicht mehr. Die Welt wurde schwarz und still.

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So, liebe Leser, nun seid ihr wieder dran.

Ja ja, der Johannes ...
... wird Schlimmes erleben.
... kommt irgendwie ungeschoren davon.
Ach du liebe Güte!
Auswertung

Fort. Setz. Ung. Folgt.