Dienstag, 28. August 2007

Ein Fragment

Am Wochenende unterhielt ich mich mit zwei sehr liebenswerten Menschen, die kürzlich mein Buch Gänsehaut und Übelkeit gelesen haben. Eine der dringendsten Fragen, die sie mir stellen wollten: "Wie kommt ein Autor auf seine Ideen?"
"Mal so, mal so", ist meine immer wieder gegebene (zugegeben unergiebige) Antwort.
Aber ich belasse es ja nicht bei diesen lakonisch anmutenden Worten, sondern erzähle dann illustrierend, wie Jessika zur Kannibalin geworden ist weil ich als Kind in der Haeselerstraße in Charlottenburg gewohnt habe oder was eine Fahrt ins Büro von Berlin Lichterfelde nach Berlin Neukölln mit dem tragischen Schicksal einer Metropole zu tun hat, in der ein liebeskummerkranker Soldat...

Ein anderes, unfertiges Beispiel: Beim Musikhören (ich liege auf dem Sofa, Augen zu, Kopfhörer auf den Ohren) sehe ich eine Dame auf einer weißen Veranda stehen, was dem Text des Liedes entspricht, aber dann kommt ein Mann dazu, der verstohlen... ach was, hier ist das Fragment. Allerdings eine Warnung vorne weg für diejenigen, die dem Wort Fragment keinen Sinn zuzuordnen vermögen: Es gibt kein Ende, die Erzählung bricht plötzlich ab.

Sie lehnt an der Brüstung, trägt Halstuch und Panamahut, als hätte sie bedachtsam Accessoires zum Ort gewählt. Die Veranda aus gekalktem Stein gestattet einen atemberaubenden Blick auf das Meer, aus gebleichtem Holz und viel Glas wurde sie am Steilhang konstruiert. Der Anstrich der Tische und Stühle schimmert exakt in dem Eierschalenfarbton, den Panamahut und Halstuch aufweisen. Sie schaut hinaus auf die Wogen.

Sein Blick kann sich nicht von ihr lösen. Ihre dezent gebräunte Haut, das dunkle, volle Haar, das im leichten Wind vom Meer auf die Schultern herabwellt, hellgraue Leinenhose und Bluse, die Segeltuchschuhe wiederum in dem Farbton von Hut und Halstuch… wie eine makellose griechische Göttin steht ihm die Fremde vor den Augen, die verweilen und verweilen wollen. Es ist wohl ungehörig, jemanden so lange anzustarren, aber niemand kann es bemerken, denn die Göttin ist abgesehen von ihm der einzige Gast auf der Veranda. Und sie, die unentwegt auf das Meer hinausblickt, kann hoffentlich den Blick nicht spüren? Man sagt, es wäre zu empfinden, und wenn sie sich umsieht, ist er der einzige, dem das Anstarren zurechnen könnte. Kurz blickt er beschämt hinab auf seine Hände, die entspannt auf dem linken Knie ruhen. Er sitzt zurückgelehnt, die Beine übereinander geschlagen. Sein leichtes Baumwollhemd und seine Leinenhose sind von exakt dem gleichen Grau wie Bluse und Beinkleid der Göttin. Das mag ihn, als er die Veranda betrat, überhaupt erst auf sie aufmerksam gemacht haben, denn eigentlich starrt er Frauen nicht an. Er nimmt Schönheit zur Kenntnis, genau wie Unansehnlichkeit, wohl wissend, dass der Mensch, der ihm nicht gutaussehend scheint, für jemand anderen der Inbegriff des Schönen sein kann. Er weiß auch, dass er selbst nicht dem zur Zeit von Modemachern propagierten idealen Mann gleicht.

Weder pflegt er einen Dreitagebart, noch zeigt er mittels halb geknöpftem Hemd die Haut der Brust. Das einzige, was er in letzter Zeit an Gemeinsamkeit mit den in Katalogen und Frauenmagazinen dargestellten Modellen bemerkt, ist dass die abgelichteten Männer gelegentlich wieder Hut tragen. Er selbst ist Jahre schon behütet, die Mode diesbezüglich war ihm stets so gleichgültig wie die Mode an und für sich.

Die Göttin steht noch immer unbeweglich an der Brüstung. Zum ersten Mal in diesen mehr als zehn Minuten kommt ihm ein Gedanke, den er gerne von sich wiese. Die Brüstung ragt hüfthoch nur mit geschnitztem Holzwerk rechts und links, darunter fällt der Felsen dreißig, vierzig Meter lotrecht in ein niemals stilles Meer.

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Das Bild in ihrem Pass zeigt ein Gesicht aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort, sie gleicht dem Foto nicht, nicht mehr. An der Rezeption hatte niemand es für notwendig erachtet, ihr angebotenes Reisedokument auch nur in die Hand zu nehmen, mit einem zuvorkommenden Lächeln hatte der Concierge „Danke, nicht nötig“ gesagt und ihr die Schlüssel gereicht. Die Plastikarten, die in fast allen Hotels inzwischen Zugang zu den Räumen verschafften, sind hier nicht willkommen, solange der Inhaber des Hotels am Leben sein wird zumindest. Das Wohl der Gäste steht für ihn an erster Stelle, die Wahrung der bewährten Traditionen seines Hauses an der zweiten, wobei das oft zusammenfällt.

Sie fühlt schon die ganze Zeit den Blick in ihrem Rücken. Es kann doch nicht sein, das jemand sie erkennt, nach so langer Zeit? Selbst wenn die alten Fotos jemandem gewärtig wären, wer würde jemals sie mit ihr verbinden können?

Sie reißt ihren Blick los von den Fluten unter sich und schaut ihm in die Augen, der sie so lange nun bereits betrachtet hat. Er wendet schnell den Blick aufs Meer, als habe er nur zufällig gerade zu ihr hingeblickt.


So. Und wie geht es weiter? Keine Ahnung, weiter habe ich noch nicht geschrieben. Vielleicht fällt ja Dir ein, was sich anschließend ereignen und ergeben kann?
So jedenfalls, und darum geht es ja in diesem Beitrag, kann mir eine Geschichte entstehen. Oder auch ganz anders...

P.S.: Jawohl, selbstverständlich habe ich Black Diamond Bay gehört, als die Bilder entstanden, was denn sonst? Aber natürlich will ich nicht die gleiche Geschichte erzählen wie Bob, wenn ich dieses Fragment fortsetze.

P.P.S.: Inzwischen gibt es die Fortsetzung: Fragment Teil 2