Donnerstag, 30. Januar 2014

Gibt es was Neues? Nö.

Das Gleichnis mit dem Glas, das man als halb voll oder halb leer zu betrachten in der Lage ist, kann ja mittlerweile mit Fug und Recht zu den alten Eisen gezählt werden. Originell wäre es höchstens noch, neben dem Optimisten und dem Pessimisten noch eine dritte Figur ins Spiel zu bringen, nämlich den Opportunisten, der flugs das Glas austrinkt. Aber neu ist auch diese Wendung der betagten Metapher nicht.

Was ist neu? Ganz und gar neu? Wie ein eben aus dem Ei, das nicht auf dem Frühstücktisch des Bauern gelandet ist, geschlüpftes Küken? Solch ein Hühnernachwuchs ist neu, zweifellos. Als Individuum. Das Minihuhn ähnelt vielleicht anderen, aber es war noch nicht da. Und wird nicht wieder sein. Andererseits: Dass aus Eiern, wenn sie bebrütet werden, Küken schlüpfen, ist ganz und gar nicht neu. Das geht schon Jahrhunderte und Jahrtausende so vor sich, Tag für Tag. Bildschirmfoto - gemopst von puk.comWer etwas wirklich ganz und gar Neues sucht, wird so leicht nicht fündig.

Mir war in letzter Zeit danach, eine neue Kurzgeschichte zu schreiben. Aber, so dachte ich mir nach den ersten Sätzen immer wieder, wird das wirklich etwas noch nicht Geschriebenes, eine neue, ganz und gar noch nicht dagewesene Erzählung?

Tom Waits, ein einzigartiger Musiker, dessen Kunst ich außerordentlich schätze, erzählte bei einem Konzert: My wife says I can only write two songs. Grand weepers or grim reapers. So ähnlich geht es mir mit dem Schreiben. Ich fange eine Erzählung an und schon weiß ich, dass sie zwar neu als individuelle Geschichte entstehen würde, dass aber sehr ähnliche Texte schon unendlich oft geschrieben wurden, von mir oder von anderen Autoren. Daher ist es bisher bei mehreren Fragmenten geblieben, aus denen Erzählungen hätten werden können.

Beispiel 1:
»Und wie geht das nun genau? Ich meine, wie fange ich an, was kommt als nächstes ... so ganz praktisch. Das hat mir in all den Aufklärungsbüchern und –stunden in der Schule noch niemand sagen wollen.«
Jennifer blickte ratlos um sich.

Der so angefangene Text würde sich zu einer Erzählung über das Erwachen beziehungsweise die Entdeckung der Erotik in einem jungen Menschenleben entwickeln. Eine Geschichte die täglich millionenfach erlebt wird und über die schon unzählige Autoren mehr oder weniger gelungene Sätze zu Papier gebracht haben. Neu natürlich für Jennifer, aber für die Menschheit eine uralte Geschichte, die auch in Zukunft Tag für Tag erlebt werden wird.

Beispiel 2:
»Denken Sie«, sagt der Dozent, »denken Sie jetzt mal bitte nicht an einen rosa Elefanten. Denken Sie an alles andere, was Ihnen so einfällt, aber nicht an einen rosa Elefanten.«
Na, liebe Leser, was sehen wir wohl vor uns nach dieser Aufforderung?
Genau.

Aus diesem Ansatz kann nur ein philosophischer Exkurs werden, oder eine Erzählung über jemanden, der es doch schafft, nicht an einen rosa Elefanten zu denken. Dieser Jemand ist nämlich anders als alle anderen, und damit hat der Autor Stoff genug, um auch 900 Seiten zu füllen, wenn es denn ein Roman werden soll. Aber auch diese Geschichte ereignet sich alle Tage und wurde in zahlreichen Varianten immer wieder aufgeschrieben.

Beispiel 3:
Es ziemt sich nicht, sagte ich mir, es ziemt sich ganz und gar nicht.
Wurde die Waffe in meiner Hand schwerer? Nein, natürlich nicht. Es kam mir nur so vor. Ich zielte schließlich nicht täglich mit einem Revolver auf einen Menschen.

Bildschirmfoto - gemopst von puk.comNa ja, und daraus, das ist klar, kann nur eine Krimiszene oder eine Horrorepisode oder etwas ähnliches entstehen. Auch das hat die Welt schon tausend Mal gelesen und gehört und gesehen. Ob mein Ich-Erzähler dann der Böse oder der Gute ist, ob er wider Willen oder ganz bewusst mit der Waffe in der Hand vor einem Mitmenschen gelandet ist, sei dahingestellt. Aber wirklich neu wären solche Ideen nicht.

So. Das war es, was ich heute an neuen Erkenntnissen mitzuteilen hatte.

Dass diese Erkenntnisse so ganz taufrisch nicht sind, brauchen Sie mir nicht extra unter die Nase reiben, liebe Leser. Ich kenne das Lied Time von Roger Waters: You run and you run to catch up with the sun but it is sinking, and racing around to come up behind you again! Und ich habe auch die deprimierten Worte des König Salomo gelesen: Alle Flüsse fließen ins Meer, und das Meer wird nicht voll. Zum Ort, wohin sie fließen, da fließen und fließen sie. Alle Dinge mühen sich ab, keiner fasst sie alle in Worte. Das Auge wird vom Sehen nicht satt und das Ohr vom Hören nicht voll. Was gewesen ist, wird wieder sein; was man getan hat, wird man wieder tun; und nichts ist wirklich neu unter der Sonne.

Quod erat demonstrandum.

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