Liebe Blogbesucher, wir haben ja sicher nicht vergessen, dass wir hier eine Geschichte lesen. Falls doch, möchte ich erinnern: Die Handlung und alle handelnden Personen, Bezeichnungen und Lokalitäten sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen oder Lokalitäten und Bezeichnungen wären rein zufällig.
Es wäre übrigens nicht sinnvoll, eine Geschichte mit dem Ende zu beginnen Falls also jemand die zuvor geschriebenen Teile noch nicht gelesen hat: [Teil 1] // [Teil 2] // [Teil 3]
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Am 8. April 2016 saß er dann beim jährlichen »Mitarbeitergespräch« dem (noch) gut gelaunten, wohl nichts ahnenden Herrn Immermüller gegenüber und ergriff das Wort: »Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Sie auf meinen Verbleib in der Firma keinen Wert legen. Sie haben es ja schon vor einiger Zeit geschafft, dass ich Ihnen kein Wort mehr glauben kann, wenn Sie etwas versprechen. Daher will ich in diesem Gespräch von Ihnen auch keine Zusagen mehr hören, was Sie eventuell zu tun gedenken. Ich will Ihnen nur mitteilen, dass ich lieber heute als morgen die Firma verlassen würde, um dieser Situation, die mich zunehmend krank macht, zu entkommen …«
Damit war das Leitlinien-Konzept für ein solches Gespräch zunichte gemacht. In den nächsten dreißig Minuten ging es nur noch darum, wie der Ausstieg vonstatten gehen konnte. Eine Kündigung seitens der Firma kam nicht in Frage, da Johannes Matthäus 18 Jahre Betriebszugehörigkeit hatte und schwerbehindert war. Er lehnte es ab, selbst zu kündigen, da ihn das ohne jegliche finanzielle Abfederung hätte dastehen lassen und schlug einen Aufhebungsvertrag aus gesundheitlichen Gründen vor. Sollte diese Einigung nicht zustande kommen, würde er so gut wie möglich durchhalten. Dass er aber zukünftig öfter krankheitsbedingt ausfallen würde, war absehbar. Er erklärte seinem Vorgesetzten die Zusammenhänge zwischen Krebserkrankung, Chemotherapie und Fatigue Syndrom, seine gesundheitlichen Einschränkungen und die Unzumutbarkeit der Zwangsverdunkelungen und mangelnden Frischluftzufuhr zum nunmehr vierten Mal. Erstmals hatte er den Eindruck, dass Herr Immermüller das alles tatsächlich zur Kenntnis nahm.
Johannes Matthäus hatte alle Varianten des Ausstiegs vorher mit seiner Frau besprochen. Sie hatten die Vorausberechnungen der vorzeitigen Rente bekommen und hin- und hergerechnet, was finanziell noch machbar war und was nicht. Johannes Matthäus hatte sich mit seinem Arzt beraten, der aus medizinischer Sicht eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses dringend empfahl. Eine Freundin der Familie, die ihr gesamtes Berufsleben bei der Rentenversicherung verbracht hatte, hatte bei der Entschlüsselung der für Laien unverständlichen Rentenauskunft geholfen und sofort Fehler aufgespürt.
Johannes Matthäus hatte mit sich gehadert, denn er war nun mal ein Mensch, der nicht zum Aufgeben neigte. Er kämpfte eher als zu kapitulieren. Aber er hatte sich auch nichts vorgemacht: Es würde sich nichts bessern an seinem Arbeitsplatz. Absolut nichts. Das machte ihm zusehends mehr zu schaffen. Sich zusammenreißen, sich einen Ruck geben – das funktionierte nicht mehr. »Du musst hier raus!« – die innere Stimme wurde immer lauter und deutlicher.
Johannes Matthäus rechnete, als er nun seinem Vorgesetzten gegenübersaß, aufgrund der in den letzten Jahren gemachten Erfahrungen nicht damit, dass er mit seinem Vorschlag Gehör finden würde. Es war zwar so manches Gebet um einen Ausweg aus der Lage zum Himmel gestiegen, aber all die Enttäuschungen der Vergangenheit ließen nichts Gutes ahnen. Doch zu seiner großen Überraschung wirkte Herr Immermüller nicht nur ehrlich überrascht, sondern aufmerksam und zugewandt. Damit hatte er offenbar nicht gerechnet. Er sagte keine Ergebnisse zu, versprach lediglich, dass er sich die Sache in den nächsten Tagen durch den Kopf gehen lassen und dann der Geschäftsleitung unterbreiten wollte.
Nach einer Woche signalisierte Herr Immermüller, dass er einverstanden sei und sich bei der Geschäftsleitung für das Modell Aufhebungsvertrag stark machen wolle. Johannes Matthäus war skeptisch. Zehn Tage später allerdings waren dann die Vertragsinhalte ohne Abstriche an den Vorgaben von Johannes Matthäus abgestimmt, und die Aufhebungsvereinbarung wurde unterschrieben. Herr Immermüller hatte sein Wort gehalten. Johannes Matthäus hatte lediglich noch fünf Monate im Hause QVL vor sich.
Schon dieses Wissen war eine Erleichterung, die innerliche Verkrampfung löste sich ein wenig. Er konnte aufatmen. Durchatmen. Beschwerliche Stunden leichter überstehen. Die verbliebene Zeit wurde darüber hinaus durch die glückliche Fügung erträglicher gestaltet, dass Schnepfe 1 für längere Zeit ausfiel – so konnte das Büro in den Sommermonaten ordentlich belüftet werden, Fenster und Tür standen weit offen, es herrschte herrlicher Durchzug. Schnepfe 2 war eine Weile im Urlaub, so dass es Licht an Johannes Matthäus Arbeitsplatz gab. Er brauchte seinen Resturlaub auf und arbeitete schließlich in den letzten vier Wochen seinen Nachfolger ein.
Die Geschäftsleitung organisierte eine Feier zur Verabschiedung und überraschte ihn mit einem großzügigen Geschenk sowie einer gelungenen Ansprache eines Geschäftsführers. Auch die Belegschaft hatte gesammelt und so ein weiteres Geschenk ermöglicht. Auf der begleitenden Karte voller Autogramme fehlten Schnepfenunterschriften, aber das überraschte Johannes Matthäus nicht. Es kamen so gut wie alle Angestellten zur Feier, um sich zu verabschieden, mit vielen lieben Worten, sogar Umarmungen und ein paar Tränen in manchen Augen.
Mit Herrn Immermüller hatte es ein paar Tage zuvor ein letztes ausführliches Gespräch gegeben, bei dem dieser sein Bedauern ausgedrückt hatte, dass es ihm nicht gelungen war, Johannes Matthäus seine Wertschätzung zu vermitteln. Es wurde nicht mehr diskutiert oder gestritten, sondern die beiden gingen in allem Frieden und gutem Einvernehmen darüber auseinander, dass ein Einvernehmen in manchen Punkten nicht möglich war und auch nicht sein würde. So etwas passiert nun mal im Leben. Damit kann man sich arrangieren. So konnten sich die beiden dann bei der Abschiedsfeier in die Augen sehen und mit einem festen Händedruck endete nach achtzehneinhalb Jahren Johannes Matthäus Berufstätigkeit im Hause QVL.
Dieser harmonische und versöhnliche Ausklang nach so langer Zeit in der Firma tat ihm gut. Er wusste noch nicht, wie es finanziell weitergehen würde, da die beteiligten Behörden im ihnen eigenen Tempo arbeiteten. Aber sein Gottvertrauen war gestärkt und von Tag zu Tag erholte er sich mehr. Er wusste, dass er das chronische Fatigue Syndrom nicht loswerden konnte, aber nun gab es keine Umstände mehr, die zur Verschlimmerung der Auswirkungen führten. Das deutliche Plus an Lebensqualität wog schwerer als die voraussichtlichen finanziellen Einbußen.
Niemand weiß, wie lange sein Leben währt. Bitter wäre es, wenn man eines Tages feststellen müsste, dass das, was man für das Stimmen der Instrumente gehalten hatte, schon das Konzert gewesen ist.