Montag, 30. April 2012

Vom Wegdenken

Es ist so verkehrt nicht, wegzudenken. Nicht, dass etwas verschwinden würde, wenn ich nicht daran denke, nein nein, es bleibt schon alles wo und wie es ist. Aber die Gedanken weglenken, auf etwas anderes … das tut gut. Der Seele, dem Körper und dem Geist.

Am 7. Mai beginnt für mich die 28 Wochen dauernde Chemotherapie. Anstatt pausenlos daran zu denken, welche Wirkungen, Auswirkungen, Nebenwirkungen das haben wird, tut mir Ablenkung gut. Und das ist auch keine Flucht vor einer Verantwortung oder Entscheidung, denn alles Grübeln würde kein Problem lösen helfen, nichts aus dem Weg räumen, keine Tatsachen umstoßen.

Nachdenken, Grübeln, Mutmaßen, Alternativen suchen … alles gut und richtig, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen, eine Frage zu beantworten, eine Entscheidung zu treffen. Aber es hilft nichts, wenn die Entscheidung bereits getroffen ist.

Also genieße ich guten Gewissens und so weit es gelingt jede Ablenkung zum Wegdenken. Zum Beispiel den gestrigen Familienausflug zu neunt in einen nahe gelegenen Vogel- und Streichezoo, der keineswegs spektakulär ist, auch keine weite Anreise wert wäre, aber eben als unterhaltsamer und freundlicher Schauplatz für ein Beisammensein mit Kindern und Kindeskindern nebst Schwiegertöchtern durchaus tauglich ist.

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Buntgefiederte Lebewesen kann man betrachten. Oder auch mal Vierbeiner, die gerade von einem Frisör kommen, über dessen ästhetische Vorstellungen man geteilter Meinung sein darf:

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Oder sich Gedanken darüber machen, wie lange ein Blumenstrauß als dekorativ gelten darf.

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Oder nachsinnen, ob es nicht besser wäre, Blumen nicht abzuschneiden, sondern den Blüten ihre Verbindung zu Wurzelwerk und Nahrung zu belassen, denn dann blüht es sich für wohl alle Pflanzen viel länger:

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Doch bei aller Vielfalt an Tieren und Pflanzen: Das Schönste und Wichtigste ist das gemeinsame Erleben, das Zusammensein, das Austauschen, das Lachen, das Wegdenken von dem, was nächste Woche kommen mag oder auch nicht.

Schließlich gab jemand, der eine Menge von Leid und Krankheit verstand, schon vor rund 2000 Jahren diesen Rat: »Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.«

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Mittwoch, 25. April 2012

Vom Für, vom Wider und von der Kopfentscheidung

Ausführliche Beratung und Information durch Fachleute ist wohl so gut wie überall wertvoller als »Gefühle« oder das, was irgend jemand irgend wo vom Hörensagen aufgeschnappt hat. Je scherwiegender das Problem, vor dem jemand steht, desto wichtiger dürfte auch der Rat und die Hilfe von denjenigen sein, die durch Studium und langjährige Erfahrung wirklich etwas Substantielles zu sagen haben.

Ich musste mich entscheiden: Adjuvante Chemotherapie oder nicht? Ein weiteres Abwarten und Hinausschieben wäre auch eine Entscheidung gewesen, und zwar gegen eine Therapie. Die ist nämlich nur sinnvoll, wenn sie innerhalb von 4 bis höchstens 8 Wochen nach der Operation startet.

Die beste aller Ehefrauen ist ja nicht weniger als ich betroffen von dem was mit mir geschieht oder nicht geschieht, und es fiel uns beiden nicht leicht, all das Für und Wider abzuwägen, zumal die Fachliteratur auch nicht immer so ganz eindeutig ist – mit gutem Grund, wie die Ärzte erklären: Jeder Mensch reagiert ganz individuell, alle Statistiken und Erfahrungswerte können höchstens aussagen, was in der Mehrzahl der Fälle passiert oder nicht geschieht – aber nie und nimmer würde ein seriöser Mediziner eine Voraussage treffen, was dem einzelnen Patienten bevorsteht oder wie dessen Krebserkrankung sich weiter verhalten wird.

Injection 2Wir hatten letztendlich als Für an Erkenntnis:

  • Ein nicht zu bemessender Prozentsatz von Patienten, die sich einer adjuvanten Chemotherapie unterziehen, tun dies insofern vergeblich, als in ihrem Körper (nach der gelungenen Operation) gar keine einzelnen Krebszellen unterwegs sind. Es ist schlicht und einfach nicht feststellbar, ob oder ob nicht.
    Je nach statistischem Modell verbessern sich für Patienten, in deren Körper Krebszellen herumgeistern, die Chancen auf Heilung vom Krebs um 10 bis 15, nach anderen Berechnungsmodellen 3 bis 5 Prozent. Da niemand jedoch im Nachhinein feststellen kann, ob solche Krebszellen unterwegs waren oder nicht, sind all die Zahlenspiele wirklich nicht verlässlich. Sicher ist nur, dass in manchen Fällen die Chemotherapie ein Wiederauftreten der Krebserkrankung verhindert.

Als Wider blieben diese Punkte stehen:

  • Die bei der Chemotherapie über 24 Wochen eingesetzten Giftstoffe wirken auf alle Zellen ein, die sich gerade teilen, nicht nur auf Krebszellen. Also werden immer und unausweichlich blutbildende Zellen im Knochenmark, in den Schleimhäuten und in den Haarwurzeln vernichtet.
  • Durch die Wirkung auf das Knochenmark wird das körpereigene Immunsystem ausgeschaltet. Die Anfälligkeit für Infektionen steigt erheblich, schon ein simpler Husten oder Schnupfen kann tödlich enden, wenn nicht rechtzeitig und vehement mit Medikamenten gegengesteuert wird.
  • Die Chemikalien schädigen zwangsläufig das Nervensystem. Bei den für mich vorgesehenen Wirkstoffen heißt das mit 99%iger Sicherheit: Es kommt zu übersteigerter Kälteempfindlichkeit, schon der Griff in den Kühlschrank nach der Milchpackung kann solche Schmerzen verursachen, dass es unmöglich wird, etwas aus dem Kühlschrank zu nehmen. Auch herbstliche oder winterliche Witterung verursacht allerstärkste Schmerzen. Innerhalb von 12 Monaten nach der Chemotherapie verschwindet diese Schädigung aber so gut wie in allen Fällen wieder.
  • Zu den nervenschäden, die nicht vermieden werden können, gehört auch (je nach Patient unterschiedlich stark) das Hand-Fuß-Syndrom. Vom Kribbeln in den Händen und Füßen bis zur Taubheit ist alles möglich. Je nach Intensität wird das Gehen und das Hantieren mit Gegenständen erschwert.
  • Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen treten ebenfalls zwangsläufig ein, man kann allerdings mit Medikamenten gegensteuern. Es mag einiges an Geduld brauchen, bis die richtige Mischung von Gegenwirkstoffen gefunden ist … aber dann sollte Übelkeit so gut wie nicht mehr auftreten.
  • Nicht unbedingt auftreten müssen Nebenwirkungen im Verdauungstrakt vom Mund bis zum Enddarm, es kann zu Entzündungen kommen, zu Durchfall oder Verstopfung bis zum Darmverschluss … aber das kann mir auch erspart bleiben, hier liegen die Chancen wohl bei 50 Prozent.
  • Haarausfall ist möglich, muss aber nicht oder nicht vollständig auftreten.
  • Die Erektionsfähigkeit geht mit größter Wahrscheinlichkeit für die Dauer der Behandlung verloren, die Libido verschwindet, Samenbildung findet nicht statt (letzteres ist nun wirklich in meinem Fall unerheblich). Nach Abschluss der Therapie normalisiert sich das sexuelle Vermögen des Patienten meist wieder.
  • Schließlich haben die Mediziner noch zu bedenken gegeben: Schäden am Lymphsystem, der Leber, der Lunge, dem Herzen und den Nieren sind nicht auszuschließen. Ebenfalls ist nicht auszuschließen, dass eine Chemotherapie Krebs begünstigt oder gar auslöst, zum Beispiel Leukämie.

Die Kopfentscheidung sieht nun so aus:

  • Ich willige in die Chemotherapie ein, denn ich will trotz der erheblichen Risiken und Nebenwirkungen nichts unversucht lassen, was einem Wiederauftreten der Krebserkrankung entgegenwirken könnte. Sechs Monate Chemotherapie sehen unendlich lang aus, aber sie könnten mir und uns – unter Umständen – keiner weiß es allerdings – einige oder viele Lebensjahre schenken.

Es entscheidet in diesem Fall der Kopf, nicht der Bauch oder das Herz. Ich habe Angst vor den Monaten, die vor mir und uns liegen. Aber ich will mir auch nicht in drei oder vier Jahren sagen müssen: Hättest du damals …

Die Behandlung beginnt voraussichtlich in der kommenden Woche. Der Termin steht noch nicht fest.

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Dienstag, 24. April 2012

Das Fatigue-Syndrom und ich

Woher es so ganz genau stammt, wissen die Ärzte wohl bis heute nicht, überwiegend wird vom Zusammenspiel mehrerer Ursachen ausgegangen, bei Krebskranken können das unter anderem psychologische Faktoren, Blutbildveränderungen und Ernährungseinflüsse sein.

Jedenfalls war das Fatigue-Syndrom ein Alarmzeichen meines Körpers, dass er an Krebs erkrankt ist – und ich konnte das Alarmzeichen nicht zuordnen. Daher blieb die Warnung eine vergebliche.
Three treesAußergewöhnliche Müdigkeit trat seit Monaten bei mir auf, oft genug fielen mir bei den Nachrichten, beim Tatort oder auch schon tagsüber, beim Lesen, beim Arbeiten am Computer sogar, die Augen zu, obwohl ich nicht weniger schlief als üblich. Wenn es an Feiertagen oder Wochenenden die Möglichkeit zum Ausschlafen gab, konnte ich die in der Regel nutzen und war trotzdem tagsüber häufig müde.

Dazu kam ein zunehmendes Schwächegefühl, ohne dass es dafür einen Anlass (einen mir erklärlichen Anlass) gegeben hätte, es wollte mir auch zunehmend schwer fallen, mich zu Ausflügen oder auch nur Restaurantbesuchen oder Spaziergängen aufzuraffen. Ich raffte mich trotzdem auf, allemal, denn ich bin nun mal keiner, der sich gehen oder hängen lässt.

Traurigkeit ohne Ursache (ohne eine mir erkennbare Ursache) überfiel mich gelegentlich – aber da ich schon mein Leben lang seit der Kindheit damit zu tun gehabt hatte, nahm ich das nicht richtig zur Kenntnis.

Ich dachte an Überarbeitung, Urlaubsreife, widrige Umstände, Sauerstoffmangel im Büro wegen fehlender Durchlüftung … alle möglichen und unmöglichen Erklärungen kamen mir so in den Sinn in den letzten zwölf oder mehr Monaten, aber auf Krebs wäre ich nie gekommen.

Nun weiß ich, seit die Ärztin, die mich während der Rehabilitationsmaßname betreut, mir das zum Teil noch unerforschte, aber inzwischen wissenschaftlich anerkannte und festgestellte Fatigue-Syndrom erklärt hat, dass mein Körper mit den Symptomen nur sagen wollte: »Lieber Inhaber dieses Körpers, ich bin vom Krebs befallen, tu mal was dagegen, wenn es geht.«

Durch eine mir wahrscheinlich bevorstehende Chemotherapie wird das Syndrom, das mehrere Monate über den Behandlungszeitraum (Operation und Genesung) hinaus anhalten kann, in der Regel weiter verstärkt. Bei manchen Menschen wird es auch erst dadurch »richtig« ausgelöst. Typische Merkmale, weiß Wikipedia, sind eine anhaltende Schwäche und Abgeschlagenheit trotz ausreichender Schlafphasen, eine Überforderung bereits bei geringen Belastungen und eine deutliche Aktivitätsabnahme im privaten und beruflichen Umfeld.

Wie auch immer: Irgendwann, in einigen Monaten oder in einem Jahr, hoffe ich, das Syndrom los zu sein. Bis dahin werde ich mich damit abfinden, dass ich nachts aufwache und dunkle Gedanken in meinem Kopf entdecke: Wie stirbt man eigentlich an Krebs? Völlig zugedröhnt von Drogen? Oder bekommt man das mit, dass es zu Ende geht? Wird die Chemotherapie alles noch schlimmer machen oder ist sie die Chance, den Krebs endgültig zu besiegen? Wenn er sowieso schon endgültig besiegt ist, welche Schäden richtet dann die Chemotherapie an? Falls ich die nächsten fünf Jahre überlebe, oder die nächsten acht Jahre … wie viel von meiner Rente werde ich eigentlich genießen können?

Na und dann, nach einer halben Stunde, schlafe ich doch wieder ein und am Morgen sind die dunklen Gedanken weit weg, irgendwo tief drin verschüttet. Ich kann mich an kleinen und großen Dingen freuen, die der Tag mir bringt. Jeden Tag genießen als Geschenk – denn ich hätte im März auf der Intensivstation auch sterben können. Und bin nicht gestorben.
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Montag, 23. April 2012

Nebenbei und zwischendurch ein paar …

… von meinen Instagram-Kunstwerken.

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Wer meine Bilder daselbst suchen oder gar verfolgen möchte: gjmberlin ist der werte Instagram-Name.

Aber das nur so zwischendurch und nebenbei.

P.S.: Instagram ist dir kein Begriff, lieber Blogbesucher? Dann frag mal Tante Google. Die weiß fast alles.

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Samstag, 21. April 2012

Gut für die Seele

»Shopping for plants. Good for the soul.« Diese Inschrift hat die beste aller Ehefrauen auf Facebook dem Foto beigegeben, das sie heute im Pflanzenmarkt von meiner Wenigkeit aufgenommen hat:

Von den Olivenbäumen durfte dann allerdings keiner mit nach Hause, die waren nämlich entweder noch viel zu klein für den vorgesehenen Standort auf unserem Balkon, oder bereits über das gewünschte Maß hinausgewachsen. Es gab nur die kleinen (50 cm) und die riesigen (2 Meter und mehr).

Statt dessen hat nun eine Hanfpalme den Platz rechts neben der Türe zum Wohnzimmer eingenommen, die verträgt (behauptet die vor dem Einkauf studierte Fachliteratur) immerhin bis minus 15 Grad im Winter:

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Etwas kahl sieht noch die Pflanze aus, die links von der Sitzbank ihren Platz gefunden hat, ein Feigenbäumchen, das ebenfalls mit den Witterungsverhältnissen in Berlin zurechtkommen sollte, falls die Beschreibung im Pflanzenmarkt eine wahrheitsgemäße war:

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Unser Farn aus dem Garten von Freunden in Zehlendorf ist seit vielen Jahren Dauerbewohner unseres Balkons, der hat noch jeden Winter und jeden Sommer überlebt. Er wird auch von Jahr zu Jahr üppiger, noch ist er recht niedrig, aber im letzten Jahr streckte er sich schon auf halbe Türhöhe. Mal sehen, was ihm dieses Jahr so einfällt.

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Seit Jahren wollte ich statt eher exotischen Blütenpflanzen mal wieder eine simple, völlig langweilige und vermutlich altmodische Hängegeranie haben. Gestern vor dem Supermarkt wurden Geranien stehend und hängend für ganz wenig Geld vor dem Eingang feilgeboten – dieses noch zarte Pflänzchen fand seinen Weg in unseren Einkaufswagen und heute schließlich in das passende Gefäß auf unserem Balkon:

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Die beste aller Ehefrauen hatte schon während ich im Krankenhaus war eine Magnolie gekauft, die wohnt in dem Topf mit der orangen Glaskugel, und die kleine fette Henne kommt wie der Farn Jahr für Jahr wieder aus dem Winterschlaf zum Vorschein.

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Auf dem Fensterbrett in den Gefäßen sind ebenfalls Gewächse zu Hause, die schon mehrere Jahre bei uns und mit uns den Balkon genießen. So. Nun muss es nur noch richtig warm werden, alles gut sprießen und dann können wir die schon durch den Kauf von Pflanzen gekräftigte Seele in all dem Grün baumeln und sich erholen lassen. Ich bin fest entschlossen und die meiste Zeit auch zuversichtlich, dass ich noch viele Jahre Gelegenheit dazu haben werde.

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Donnerstag, 19. April 2012

Der erste Tag in der Rehabilitationsklinik

Das Gefühl, in guten Händen zu sein, ist für den Erfolg medizinischer und therapeutischer Maßnahmen sicher von nicht zu unterschätzendem Wert. Der erste Tag in der Rehabilitationsklinik des Auguste-Viktoria-Klinikums in Berlin hat mir ein solches Gefühl vermittelt, was nicht zuletzt daran liegt, dass sich erstmals seit ich von meiner Krebserkrankung weiß, eine Ärztin runde 90 Minuten Zeit genommen hat, um mich zu untersuchen und mit mir über die Krankheit, den bisherigen Verlauf, meinen Zustand und die nächste Zukunft zu sprechen. Diese Frau Dr. Brandis betreut mich während der drei Wochen, die ich voraussichtlich in der Rehabilitationsmaßnahme verbringe, als behandelnder Arzt weiter. Auch einige Fragen, die mich bezüglich der Chemotherapie quälen (wirklich quälen), konnte ich bereits stellen, dazu wird es weitere Gespräche mit Antworten geben, wurde mir heute zugesagt.

Andere Ärzte, sei es im Krankenhaus vor und nach der Operation, sei es in der Hausarztpraxis, haben sich auch Zeit genommen, zugehört, Fragen beantwortet, aber immer unter einem spürbaren Termindruck, der aus meiner Sicht auch völlig verständlich ist. Ich war und bin ja nicht der einzige Patient weit und breit, die Wartezimmer sind voll, im Krankenhaus herrscht Personalmangel … beschweren will ich mich nicht, habe auch keinen ernsthaften Grund dazu. Aber das heutige lange und in ruhiger, offener Atmosphäre geführte Aufnahmegespräch war eine wohltuend andere Begegnung mit einer Fachfrau.

Zuerst, nach meiner morgendlichen Ankunft, wurden ein Ermittlungen durchgeführt: EKG aufzeichnen, Blutdruck messen, Körpergewicht ermitteln, Blut zapfen … na ja, das übliche eben. (Warum wollte eigentlich niemand Urin haben? Kommt das vielleicht morgen dran?) Dann kam das Gespräch mit der Ärztin, anschließend ging ich zur Atemschule und lernte schon am ersten Tag, dass Atmen nicht gleich Atmen ist und wie die Atmung auf Anspannung des Körpers (Beine / Füße / Arme / Hände / Hals / alle zusammen) reagiert.

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Ihre Majestät, Königin (oder war sie Kaiserin?) Auguste Viktoria bewacht den Weg zur Kantine, daselbst bekam ich einen Hähnchenschenkel, Kartoffeln, Gemüse (Karotten/Erbsen) und zum Nachtisch einen Joghurt.

Anschließend durfte ich noch an einer Führung teilnehmen, während der ich erfuhr, in welchem Gebäude und wo dort genau welche Behandlungsräume zu finden sind, wo mein verschließbarer Spind sich befindet, dass ich mit dem Spindschlüssel auch meinen persönlichen Briefkasten im Untergeschoss öffnen kann (wo vielleicht wichtige Informationen zu finden sein könnten) und wie das mit den Flucht- und Rettungswegen so gedacht ist.

Zu guter Letzt lauschte ich nebst anderen heute aufgenommenen Patienten noch einem Vortrag über Inhalte und Ziele der Rehabilitation und was zu tun ist, wenn irgendwelche Maßnahmen oder Therapien dem Patienten nicht gut zu bekommen scheinen.

Und dann? Ja dann! Das ist das, was ich so wunderbar finde: Dann fuhr ich nach Hause, denn meine Rehabilitation ist eine ambulante. Circa sechs Stunden pro Tag bin ich in der Klinik, der Rest des Lebens spielt sich ohne Kasernierung ab. Darüber bin ich sehr froh.

Morgen werde ich, so der Plan, unter anderem in den Genuss von »PC Ausgleichstraining«, »Atemschule 2«, »Gehtraining (bitte warm anziehen)« und einer »Wirbelsäulen-Gruppe« kommen. Na denn!

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Dienstag, 17. April 2012

Das Leben verlängern oder verkürzen mit einer einzigen Entscheidung

Das Bewusstsein unserer Sterblichkeit ist ein köstliches Geschenk, nicht die Sterblichkeit allein, die wir mit den Molchen teilen, sondern unser Bewusstsein davon. Das macht unser Dasein erst menschlich. -Max Frisch, Tagebuch
Was gibt es nicht alles für schlaue, weniger schlaue und ziemlich dumme Sprüche und Aphorismen über das Sterben und den Tod. Es lässt sich ja auch ziemlich leicht über etwas schwadronieren, was weit weg zu sein scheint. Ganz anders sieht es aus, wenn das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit nicht eine ferne Theorie ist, sondern zu einer Tatsache wird, die unerwartet nah sein könnte.

Ich weiß nicht, wie viele Jahre mir auf dieser Welt noch bleiben. Ich hoffe und wünsche mir, dass es sehr viele sind. Aber ich komme nun auch nicht mehr an den Fakten vorbei, dass es für Darmkrebspatienten, auch wenn der Tumor operativ vollständig entfernt wurde, ein von Statistik zu Statistik unterschiedlich hohes Risiko einer erneuten Krebserkrankung gibt. Nur derjenige, der die ersten fünf Jahre nach der Operation ohne erneutes Auftreten von Krebs übersteht, hat relativ gute Chancen, wirklich geheilt zu sein.
Es wurde bei meiner Operation – soweit ich das, was die Ärzte erklärten und was ich am Befund selbst entziffern kann – sämtliches vom Krebs befallene Gewebe entfernt. Restlos. Keine Metastasen, keine weiteren Tumore sind im Körper verblieben. So weit, so gut.

Jedoch kann es sein, so die Mediziner, dass einzelne Krebszellen, die mikroskopisch nicht festzustellen sind, irgendwo verblieben sind. Verblieben sein könnten. Möglicherweise, vielleicht, unter Umständen … feststellen kann man das schlicht und einfach nicht. Daher ist die Standardprozedur (mir sagte man im Krankenhaus: »Das macht man eben so.«) eine »adjuvante Chemotherapie«. Dabei wird der Körper auf Verdacht hin, dass es womöglich irgendwo solch eine oder mehrere Zellen geben könnte, über sechs Monate mit starkem Gift »beschossen«.

Die Nebenwirkungen sind unstrittig, die habe ich auch schwarz auf weiß vom Krankenhaus mit nach Hause bekommen. Sie treten unabhängig voneinander auf und können ganz ausbleiben oder in verschiedener Stärke (von mild bis tödlich) auftreten: Veränderungen im Knochenmark führen zu Blutbildveränderungen, daher erhöhte Anfälligkeit für Infektionen; Übelkeit und Erbrechen; Appetitlosigkeit; Erschöpfung; Haarausfall; Schleimhautentzündungen; ein paar weitere Nebenwirkungen gibt es auch noch.

Strittig ist der Erfolg. Laut einer Untersuchung in Australien und den USA aus dem Jahr 2005 wird der Gesamtbeitrag adjuvant angewandter zytotoxischer Chemotherapien zur Fünf-Jahres-Überlebensrate bei Erwachsenen auf 2,3 % in Australien und 2,1 % in den USA geschätzt. Der Facharzt im Klinikum Steglitz, der mich vor der Entlassung noch aufsuchte, um mir die adjuvante Chemotherapie zu empfehlen, behauptete, dass eine Verbesserung um 10 bis 15 % möglich sei.

Über die mittel- und langfristigen Schäden, die eine solche Chemotherapie auslöst, gibt es schlicht und ergreifend noch keinerlei verlässliche medizinische Forschungsergebnisse. Dazu ist das Prozedere noch zu neu.

Question MarkUnd nun? Nun sitze, stehe und liege ich da und weiß nicht, was richtig und was falsch ist. Natürlich möchte ich alles tun, um meine Jahre auf der Erde zu verlängern, nichts versäumen, was womöglich positive Wirkung hätte. Aber alles in mir sträubt sich gegen den Gedanken, in die adjuvante Chemotherapie einzuwilligen.
Das Leben verlängern oder verkürzen mit einer einzigen Entscheidung – um nichts weniger könnte es gehen. Muss nicht sein, könnte aber sein. Das ist kein angenehmer Zustand.

Ein wenig Zeit bleibt ja noch. Am Donnerstag beginnt meine ambulante Rehabilitation; vor Ort stehen mir dann – so die Ankündigung – auch Fachärzte zur Verfügung, mit denen ich über die Histologie und das weitere Vorgehen sprechen kann. Und am Dienstag der kommenden Woche habe ich einen Termin bei einer onkologischen Praxis zur Beratung über den gleichen Sachverhalt. So werde ich zumindest zweierlei von einander unabhängige Meinungen zu hören bekommen.

Am liebsten hätte ich so eine Schrift an der Wohnzimmerwand nach biblischem Vorbild des Menetekel: »Mach die Chemotherapie.« oder »Lass das bloß sein!«. Aber man bekommt ja selten das, was man am liebsten hätte …
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Montag, 16. April 2012

Seine Majestät, der Kaiser …

… von Japan, hat uns in Berlin Lichterfelde, als die Mauer zwischen uns und der DDR entfernt war, mit einer mehrere Kilometer langen und von Jahr zu Jahr ansehnlicher werdenden Allee von Kirschbäumen beschenkt. Auf dem Streifen Land zwischen Teltow (links im Foto) und Berlin Lichterfelde (rechts auf dem Bild) stand sie, die Mauer.

Gestern wollte ich doch mal sehen, ob nicht bald mit der Baumblüte gerechnet werden kann. Die Allee sah so aus:

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Mit den Kirschblüten wird es also noch ein Weilchen dauern.

Aber es war auch nicht so, dass noch gar nichts blühen würde. Unser nachmittäglicher Spaziergang brachte meine Kamera und mich zu weißen Blüten …

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… und rosarot geschmückten Pflanzen …

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… ein frisches kräftiges Gelb hier und dort fehlte auch nicht …

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und kurz bevor wir wieder zu Hause waren fand die beste aller Ehefrauen dann noch dieses nette Farbenspiel:

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Es wird also langsam aber sicher doch Frühling in Berlin.

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Sonntag, 15. April 2012

Nein danke, Herr Baudelaire

Das Leben ist ein Hospital, in dem jeder sein Bett wechseln möchte.
-Charles Baudelaire, französischer Schriftsteller *09-Apr-1821, † 31-Aug-1867

Nicht ganz, lieber Herr Baudelaire, würde ich antworten, wenn besagter Herr das heute und in meiner Gegenwart geäußert hätte. Denn ich möchte das Bett eigentlich nicht wechseln, falls ich mich in einem metaphorischen Hospital befinden sollte.

Glücklich aus dem Krankenhaus entlassen wieder zu Hause am 31.3.2012 Sicher könnte es mir vielleicht besser gehen, wenn ich einen anderen Platz im Leben einnehmen würde, theoretisch wäre das allemal denkbar. Ich könnte, dem Gedankenspiel folgend, zum Beispiel der aller materiellen Sorgen enthobene Sohn eines Multimillionärs sein, meine Zeit ausschließlich für Tätigkeiten verwenden, die mir Freude machen, mein Interesse und meine Begeisterung wecken. Ich könnte auch das Bett von jemandem einnehmen, der keinen Krebs bekommt, nie im langen und gesunden Leben bekommen wird.

Aber. Aber abgesehen davon, dass beim Bettentausch ja wohl keineswegs die Gewissheit gegeben wäre, dass ich in ein »besseres« Schicksal hinein wechseln würde (wie viele reiche Menschen bringen sich um oder saufen sich langsam ins Grab, wie viele körperlich gesunde Menschen sind innerlich totunglücklich?), abgesehen davon würde mir vieles fehlen, was mir wichtig und wertvoll ist.

Hätte ich nach dem Bettentausch meine Familie um mich? Wäre da die beste aller Ehefrauen an meiner Seite, in guten wie in schlechten Tagen, in sehr guten wie in hundsmiserabel schlechten Tagen? Wären da meine Kinder samt Ehefrauen und Enkeln? Wäre da Teresa, wären da all die guten Freunde, wären da die vielen Menschen, die mein Leben auf unterschiedliche Weise bereichern?

Und hätte ich all die bösen und guten Stunden und Tage und Wochen und Monate erlebt, die mich geprägt haben, die mein Denken, mein Glauben, mein Wissen geformt und geprägt haben? Könnte ich so wie jetzt in diesen Tagen das Alltägliche als wunderbares Geschenk begreifen und mich daran freuen? Wäre ich dankbar, wäre ich zufrieden, wäre ich ich?

Lieber Herr Baudelaire, Sie sehen schon: Das Wechseln des Bettes gehört zu meinen Wünschen im Hospital des Lebens nicht. Ich würde mein Leben und mein Erleben nicht hergeben wollen. Ich bin dankbar für das, was ich genießen und erleben darf, ich bin zufrieden mit dem, was das Leben mir trotz aller Widrigkeiten oder gerade auch in allen Widrigkeiten gebracht und gezeigt hat.

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Freitag, 13. April 2012

Von der Relativität des Befindens

»Es geht mir gut«, sagt der eine. »Es geht ihr sehr schlecht«, beurteilt jemand den Zustand einer anderen. Dabei mag letztere Dame selbst der begründeten Meinung sein, es ginge ihr gut, während der Erstgenannte aus der Sicht seiner Mitmenschen ziemlich erbärmlich dran sein könnte. Und alle haben irgendwie gleichzeitig recht. Die Ampel leuchtet nicht einfach rot oder grün, nein nein, so leicht ist es nun einmal nicht.

Während der Wochen im Krankenhaus ging es mir nicht gut, objektiv gesehen zumindest, denn wenn es jemandem gut geht, besteht in der Regel keine Veranlassung für einen Aufenthalt im Krankenhaus, Pflege auf der Intensivstation oder Durchführung einer vierstündigen Operation. Doch ging es mir mehrmals durch den Kopf, dass es mir mit einigen Mitpatienten verglichen richtig gut ging.

Da war der Komapatient, der Wochen zuvor aus der Narkose nicht wieder zu sich gekommen war. Täglich bekam er Besuch von seiner Frau, meist kam auch der Sohn. Die beiden erzählten ihm, was sich so im Alltag ereignete, wer einen Brief oder eine Karte geschrieben hatte, wie sich im Garten die ersten Knospen zeigten. Und der Patient reagierte nicht, nicht einmal ein Zucken des Mundes oder eines Fingers konnte als Zeichen gedeutet werden, dass er irgend etwas mitbekam. Die Pflegekräfte sprachen ebenfalls mit ihm, erklärten jeden Handgriff. »Ich wechsle jetzt den Verband … wir drehen Sie jetzt auf die andere Seite … das wird jetzt kalt auf der Haut, wegen des Desinfektionssprays … ich muss Ihnen Blut abnehmen, das piekst gleich ein wenig.« Ich vermochte nicht zu sagen, wer mir mehr leid tat, der Patient oder seine Familie. Aber verglichen mit diesem Mann ging es mir gut.

Da war die serbische Frau auf der Intensivstation (dort werden die Räume nicht nach Geschlechtern getrennt belegt), die wohl nichts oder nur ein paar rudimentäre Brocken von dem verstand, was Ärzte oder Pflegepersonal ihr sagten oder von ihr wissen wollten. Sie war, wenn sie nicht schlief, stets und ausschließlich schlecht gelaunt, brüllte vernehmlich »will nix haben!« oder »nein!«, sobald jemand sie berührte, versuchte ständig, sich vom zentralen Venenkatheder oder anderen medizinischen Vorrichtungen zu befreien … Besuch hatte sie niemals, so lange ich auf der Intensivstation war. Eine der Putzfrauen konnte ein paar Worte mit ihr wechseln, das war alles, was an Kommunikation gelang.

Da war der Patient auf der Chirurgie, der Tag und Nacht, rund um die Uhr, alle zwei Stunden (zu Hause mit Hilfe seiner Frau) seinen künstlichen Darmausgang reinigen und den Auffangbeutel wechseln musste. Seit inzwischen sechs Monaten. Man muss sich das vorstellen: Schlafen gehen mit dem Wissen, dass in zwei Stunden der Wecker klingelt. Weiter schlafen mit dem gleichen Wissen. Egal, wo man ist, was man tut oder nicht tut, alle zwei Stunden … fürchterlich. Er wurde am Tag meiner Entlassung aufgenommen, wir lernten uns nur flüchtig kennen. Es sollte nun der zweite operative Versuch unternommen werden, den natürlichen Darmausgang wieder zu aktivieren, eine vorangegangene Operation hatte nicht das erhoffte Ergebnis gehabt. Verglichen mit diesem Mann ging es mir, da mir der künstliche Darmausgang erspart geblieben und die Operation ohne nachträgliche Komplikationen verlaufen war, rundum gut.

Da waren noch so manche anderen Patienten, deren Schicksal mir so leid tat, dass mir mitunter das Herz schwer wurde, weil ich nichts tun konnte, um ihren Zustand auch nur ein wenig zu verbessern. Mein Mitleid machte es auch nicht besser für diese Menschen, aber es schärfte mir den Blick für die eigene Situation und die vielen oft so klein scheinenden Schritte zur Genesung, die ich an mir beobachten konnte: Gestern konnte ich nur zehn Minuten auf den Beinen sein, heute schon 15. Gestern habe ich das Joghurt wieder erbrochen, heute blieb es im Magen.

Wann geht es einem Menschen also gut, wann geht es ihm schlecht? Und wie geht es mir heute?

Gut, würde ich sagen, verglichen mit diesem oder jenem Mitmenschen. Zwar liegt vor mir womöglich noch eine Chemotherapie, deren Nutzen zweifelhaft, deren Nebenwirkungen felsenfest sicher sind – falls ich mich ihr unterziehe. Seit heute erst habe ich die schriftlichen Befunde (die zu verstehen und zu interpretieren mir als medizinischem Laien nicht gelingt). Nächste Woche werde ich mit meinem Hausarzt und dann gegen Ende der Woche mit Fachärzten über die Befunde und Sinn und Unsinn der Chemotherapie reden können. Das liegt vor mir, womöglich. Vor mir liegt auch ein Leben mit der Möglichkeit, dass der Krebs irgendwann irgendwo im Körper wieder auftaucht. Das muss nicht so sein, ich bin auch zuversichtlich und voller Hoffnung, dass es nicht passiert – aber die Wahrscheinlichkeit ist nun einmal größer als bei einem Menschen, der noch nie Krebs hatte. Dennoch: Es geht mir gut, verglichen mit anderen Menschen, die zum Beispiel mitten im Bürgerkrieg in Syrien leben, in Japan den Folgen der Atomverstrahlung nach dem Tsunami wehrlos ausgeliefert sind, Opfer von Gewalttaten oder Unfällen werden … Tag für Tag und überall gibt es schlimmere Schicksale als meines.

Daher geht es mir gut. Darum habe ich genug Grund, dankbar zu sein, mich zu freuen, Gutes ganz bewusst zu genießen und Alltägliches zu schätzen, weil es zwar alltäglich, aber nicht selbstverständlich ist.

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Mittwoch, 11. April 2012

Aufzeichnungen nach dem Krankenhaus /// Ende

Welcher Idiot hat Ihnen denn das gegeben?

Meine letzte Mahlzeit hatte ich am 14. März zu mir genommen und am 15. morgens wieder erbrochen. Als ich dann am dritten postoperativen Tag, also am 24. März zum ersten Mal wieder etwas anderes als künstliche Ernährung per Infusion zu mir nehmen durfte, nämlich einen schlichten Magerjoghurt ohne Fruchtzusatz, war das ein kleiner Sieg, ein weiterer kleiner Schritt zurück in Richtung normales Leben. Dann kam die erste klare Brühe, der erste Haferschleim … dann Joghurt mit Frucht, dann Gemüsesuppe, das erste Mal Brot … vor der Erkrankung war Nahrungsaufnahme eine Selbstverständlichkeit, Gedanken machte man sich höchstens in Richtung »was essen wir morgen« oder »welches Restaurant besuchen wir«, und nun war der Vorgang des Essens auf einmal etwas, worüber ich mich freuen konnte, wofür ich dankbar war.

image Zunächst plagte mich noch ziemliche Übelkeit, nach jeder Mahlzeit, so klein sie auch ausfallen mochte, wurde die Übelkeit schlimmer, es kam der gefürchtete Schluckauf unweigerlich dazu, der oft stundenlang anhielt und mehr als einmal musste ich einen Teil des Gegessenen nach ein oder zwei Stunden wieder erbrechen. Ich bekam Medikamente gegen die Übelkeit, und nach und nach, jeden Tag ein kleines bisschen, ging es mir beim und nach dem Essen ein wenig besser. Ich kann mich lebhaft an den glücklichen Abend erinnern, als ich eine ganze Brotscheibe mit Butter und Käse schaffte und anschließend keinen Schluckauf bekam, es stellte sich keine Übelkeit ein und ich schlief ohne die Angst ein, gleich nach dem Beutel auf dem Nachttisch greifen zu müssen, der zum Auffangen des Mageninhaltes bereit lag.

Auch die »Spaziergänge« auf dem Gang wurden täglich etwas länger, gelangen mit weniger Schweißaufwand, aus 20 Minuten Bewegung wurden 30, dann 40 … lauter kleine Fortschritte, alle in die richtige Richtung, denn ich wollte nur eins: Zügig zu Kräften kommen, bald nach Hause.

Am 29. März wurde endlich der Schlauch entfernt, der links aus dem Bauch kam und der Drainage diente. Es war reichlich Wundsekret, in den ersten Tagen nach der Operation auch Blut, abgeflossen, und das Problem, dass ständig Nachthemd und Bettzeug feucht oder nass waren, weil Flüssigkeit nicht nur durch den Schlauch, sondern auch am Schlauch vorbei durch das Loch in der Haut abfloss, konnte bis zum Schluss trotz allerlei Variationen des Verbandes und zusätzlicher Drainageumhüllungen nicht wirklich behoben werden. Als dann der Schlauch gezogen worden war, konnte wenigstens ein Druckverband auf der Wunde angebracht werden, der bei regelmäßigem Wechsel nicht durchnässte.

Was die Klammern in der Operationsnaht betraf, erlebte ich wieder mal die kuriosesten Widersprüche. Mein Chirurg meinte am 29., als die Drainage entfernt war, bei der Untersuchung der Naht: »Die Klammern können morgen raus, sagen Sie der Schwester bitte Bescheid.« Das tat ich. Die Stationsschwester (Frühdienst) erklärte: »Nein, auf keinen Fall, das geht frühestens am 10 Tag nach der Operation.« Die Stationsärztin kam am Nachmittag vorbei, ich fragte sie wegen der Klammern und bekam die Antwort: »Die hätten ja, zumindest jede zweite, schon gestern entfernt werden können. Ich schreibe das nachher in Ihre Akte, dann kann das morgen früh erledigt werden.« Als die Schwester im Spätdienst gegen 17 Uhr zum Verbandwechsel der Drainagewunde kam, schaute sie sich die Naht an und meinte: »Die Klammern müssen aber raus, das ist ja schon ganz rot geworden.« Am nächsten Morgen meinte eine andere Chirurgin: »Nein nein, die lassen wir alle drin, das kann dann, falls Sie am Wochenende entlassen werden, der Hausarzt machen.«

Was soll man als Patient machen, außer sich das alles anhören und zu dem Schluss kommen, dass niemand von den Fachkräften so recht weiß, wann und ob solche Klammern entfernt werden können, dürften, sollten. Letztendlich ging es so aus, dass am Tag der Entlassung, also am 31. März, morgens jede zweite Klammer entfernt wurde.

Ähnliches erlebte ich mit den Ernährungsratschlägen. Ein Diätassistent kam auf Anforderung zu mir, um mir die Ernährung für die nächsten Wochen und lebenslange Einschränkungen zu erläutern. Ich bekam von ihm auch eine schriftliche Liste in die Hand gedrückt, auf der es unter anderem heißt:

Trinkmenge maximal 1500 ml pro Tag, zwischen den Mahlzeiten, kleine Mengen, ggf. schluckweise. … Ernährung eiweißreich, fettreich, lactosearm … ungeeignete Lebensmittel u. a.: Handelsübliche Milcherzeugnisse (Fruchtjoghurt, Fruchtquark) …

Nun bekam ich drei oder vier Fruchtjoghurt pro Tag hingestellt und die Krankenschwestern lagen mir dauernd in den Ohren, ich müsse mehr trinken, 2 Liter sei das mindeste, besser wäre 3 Liter pro Tag. Als ich der Stationsschwester dann, als sie mich ermahnte, mehr als die 2 Liter, die ich bereits notiert hatte, zu trinken, das Dokument zeigte, war sie ziemlich entsetzt. »Welcher Idiot hat Ihnen denn das gegeben? Das wäre etwas für jemanden, dem der Magen entfernt worden ist, aber doch nicht für Sie! Ihnen fehlt ein großes Stück Dickdarm, da kann man doch nicht mit einer Dumping-Prophylaxe arbeiten!«

Sie beriet sich dann sofort mit dem Ärzteteam und ich bekam anschließend eine Ernährungsliste, die so gut wie gar nichts mehr mit dem zu tun hatte, was der Fachmann von der Abteilung Ernährungsberatung mir gegeben hatte.

Schließlich konnte ich am 31. März, nach vielen kleinen Fortschritten in den Tagen nach der Operation und auch etlichen Rückschlägen und schwierigen Tagen (ich hatte hier bereits über den Wechsel von der Schmerzmittelpumpe zu oralen Medikamenten berichtet) nach Hause entlassen werden. Dankbar für die insgesamt überraschend zügige Erholung und für das neue Leben, das für mich mit dem Tag der gelungenen Operation begonnen hat.

Vieles ist heute noch offen und unklar. Die Histologie liegt noch immer nicht vor, daher kann über Anschlussbehandlungen (Chemotherapie zum Beispiel) noch nicht gesprochen und entschieden werden. Eine Rehabilitationsmaßnahme ist beantragt, aber ich weiß bisher nicht, wann sie gegebenenfalls beginnen kann und wie lange sie dauert. Die Operationswunde nässt nur noch wenig, ist aber immer noch nicht völlig geschlossen. Ich bin dabei, schrittweise und ärztlich begleitet den Morphinkonsum abzubauen, was bisher sehr gut gelingt und in drei Wochen geschafft sein sollte. Dann kann ich auch auf die Abführmittel verzichten, die jetzt notwendig sind, weil Morphin nun einmal Verstopfung verursacht.

Also manches ist offen – aber ich bin glücklich und dankbar für das, was erreicht und geschafft ist. So soll es jetzt auch weiter gehen. Mein Wunsch ist, dass der Krebs nicht wieder auftritt, weder im Darm noch an anderen Organen. Ich möchte noch viele Jahre leben, mit der besten aller Ehefrauen glücklich sein und dabei dankbar bleiben, nichts mehr für selbstverständlich halten, was dem Menschen – wie ich erlebt habe – von einem Moment zum anderen entrissen werden kann. Möge Gott mir und uns helfen, dass diese Pläne für die Zukunft Wirklichkeit werden.

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Dienstag, 10. April 2012

Aufzeichnungen nach dem Krankenhaus /// Teil 5

Norovirus? Clostridienkolitis? Oder eine Wohltat?

Der Arztbericht formuliert es so:

Am zweiten postoperativen Tag kam es allerdings zu heftigem Erbrechen und Durchfällen, sodass wir den Patienten bei V. a. Norovirusinfektion vorsorglich isolierten.

Wie sich dieses Erbrechen und die Durchfälle aus meiner Patientensicht ereigneten, hatte ich bereits am 2. April bei den Aufzeichnungen aus dem Krankenhaus hier kundgetan. Wer es noch nicht gelesen hat oder wegen der unappetitlichen Details noch einmal lesen möchte: [27. März, 14 Uhr]

Ziemlich Hals über Kopf wurde ich am frühen Vormittag nach den nächtlichen Übelkeits- und Durchfall-Attacken aus dem 3-Bett-Zimmer geschoben und fand mich kurz darauf in einem Zimmer für Privatpatienten wieder. Ein Flachbildfernseher von vernünftigen Ausmaßen hing in günstigem Winkel an der Wand, das Mobiliar war aus ansehnlichem Holz gefertigt, ich hatte ein eigenes Badezimmer mit Toilette und Dusche und – da Isolation angeordnet war – ich war allein im 2-Bett-Zimmer.

In Krankenhäusern geht man bei einem Verdacht auf Norovirus wohl heutzutage überall auf Nummer sicher. Ich erfuhr von der Schwester (die mit Mundschutz und Extra-Kittel zu mir kam), dass eine Dame der Reinigungskräfte, die auch im Zimmer, in dem ich vorher lag, sauber gemacht hatte, sich am Abend vorher wegen Erbrechen und Durchfall krank gemeldet hatte. Als nun bei mir nachts die gleichen Symptome auftraten, schrillten sofort die Alarmglocken: Norovirus!

Für einen von einer großen und schwierigen Operation geschwächten Organismus ist eine Virusinfektion natürlich noch wesentlich gefährlicher als für den gesunden Körper. Ich erfuhr sehr viel Aufmerksamkeit, regelmäßig wurden Kreislauf, Puls, Temperatur und Blutwerte kontrolliert. An den ersten beiden Tagen (und zugehörigen Nächten) kamen alle, Ärzte und Pflegekräfte, mit Mundschutz und Überkittel, ich war gehalten, bei meinen noch kurzen Gehversuchen auf dem Gang anderen Patienten weder die Hand zu geben noch ihnen überhaupt zu nahe zu kommen, die Teeküche war verbotenes Terrain für mich und meine Besucher wurden gebeten, von den Desinfektionsmitteln vor meinem Zimmer Gebrauch zu machen.

Mein Privatzimmer Nach zwei Tagen waren auf einmal die Masken und Extra-Kittel weg. Der Verdacht hatte sich offenbar nicht bestätigt. Die Stationsärztin erzählte mir etwas von Clostridienkolitis, allerdings eher halbherzig, als suche sie nach einer halbwegs stichhaltigen Begründung, mich nicht in ein 3-Bett-Zimmer zurück zu verlegen.

An dieser Stelle fällt mir etwas ein, was mir im Krankenhaus von der Aufnahmestation über die Intensivstation bis zur normalen Chirurgie aufgefallen ist: Die Mehrzahl der Patienten, soweit sie bei Sinnen und zurechnungsfähig sind, zeichnet sich durch ein gehöriges Maß an Undankbarkeit, rüpelhaftem Benehmen und Mangel an gesellschaftlichen Verhaltensmaßstäben aus. Ich habe mich mehr als einmal gefragt, woher Ärzte und Pflegekräfte eigentlich die Geduld und Ruhe nehmen, mit solchen Patienten geduldig und freundlich zu bleiben. Mir wäre da öfter mal die Hutschnur geplatzt, obwohl ich ja nur Zuschauer war.

Für mich stand von vorne herein fest: Diese Menschen, vom Reinigungspersonal über Pflegekräfte bis zu den Ärzten, wollen mir mit ihrer Arbeit helfen. Manches, was sie taten, hat mich gequält, mir Schmerzen bereitet, war mehr als nur unangenehm – aber ich wusste ja, dass dahinter nichts anderes stand als der Wunsch, mich einer Heilung und Genesung näher zu bringen. Daher habe ich, soweit es meine Kräfte zuließen, von der ersten bis zur letzten Minute im Krankenhaus jedem ein Lächeln geschenkt, immer danke und bitte gesagt, so oft wie möglich zum Ausdruck gebracht, dass ich die Dienste sehr zu schätzen weiß und so gut wie irgend möglich bei allem aktiv mitgemacht, was ich irgendwie unterstützen konnte.

Ich bin überzeugt, dass mein Verhalten allen Beteiligten gegenüber dafür ausschlaggebend war, dass man mir auch ohne eine medizinische Notwendigkeit das Einzelzimmer bis zum Tag der Entlassung gegönnt hat. Ich genoss dadurch ungestörte Nachtruhe, meine Besucher konnten in angenehmer Umgebung und ohne weitere Anwesende bei mir verweilen und mit mir reden, ich konnte auch am Tag hier und da ein Stündchen schlummern … es war eine Wohltat, ein Extra-Bonus, den ich zwar nicht verdient oder durch eine private Krankenversicherung finanziert hatte, den ich aber dankbar und gerne in Empfang nahm.

Eine Virusinfektion hatte es gar nicht gegeben. Es war ein Fehlalarm, Erbrechen und Durchfall waren lediglich Folgen der Operation gewesen. Ein Fehlalarm, der mir zum Segen wurde.

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Montag, 9. April 2012

Aufzeichnungen nach dem Krankenhaus /// Teil 4

»Ohne!«

In der Medizinern nun einmal eigenen Sprache heißt es:

Am 21.03. führten wir den Eingriff als Hemikolektomie links unter Mitnahme von Anteilen des Zwerchfells durch. Die Darmkontinuität wurde mittels Transversorektostomie wiederhergestellt. Die postoperative Behandlung erfolgte für einen Tag auf der Intensivstation.

Um 10 Uhr wurde ich am 21. März zum Operationstrakt gefahren. Zunächst wurde der Periduralkatheder gelegt, das ist eine Leitung, die wenige Millimeter vom Rückenmark entfernt endet, durch die dann nach der Operation eine Schmerzmittelpumpe Morphin und andere Medikamente direkt zu bestimmten Nervenbahnen führen kann. Dadurch entsteht ein tauber Gürtel rings um den Körper. Man hatte mir diese Methode sowie zwei andere für die Schmerzbehandlung vorgestellt, mir schien die automatische Variante trotz der genannten Risiken (Querschnittlähmung, Impotenz, Verlust von Gefühl in bestimmten Regionen … ) am praktischsten und ich unterschrieb nun die Belehrung, so dass der Zugang gelegt werden konnte.

Anschließend unterschrieb ich, dass ich über die Risiken und Nebenwirkungen der Narkose aufgeklärt worden war und um 10:30 Uhr schaute ich zum letzten Mal auf die Uhr über dem Durchgang zum eigentlichen Operationssaal. »Wir fangen jetzt an«, sagte jemand, und bevor ich noch ja oder nein dazu sagen konnte, war ich schon weggetreten aus dieser unserer Wirklichkeit.

Der Schnitt ein paar Tage späterDer Rest des Mittwochs ist ziemlich vernebelt in der Erinnerung. Um 15:30 kam ich kurz zu mir, bemerkte, dass ich mich wieder auf der Intensivstation befand und fragte mich, ob das ein schlechtes Zeichen sein mochte. Dann tauchte mein Chirurg in meinem Blickfeld auf, strahlte mich an und sagte: »Ohne!« Es dauerte wohl einen Moment, bis ich verstand. Ich fragte: »Kein künstlicher Darmausgang?« »Nein. Wir müssen abwarten, ob die Nähte halten und der Darm so zusammenwächst, aber erst einmal sind Sie ohne davon gekommen.« Ich wollte mich bedanken, aber die Augen fielen wieder zu.

Um 16:30 Uhr war dann Eva, die beste aller Ehefrauen, da. Sie hielt meine Hand, sah sehr müde aus, aber sie lächelte und es tat mir gut, dass sie da war. Viel zu reden war ich nicht in der Lage, immer wieder überwältigte mich der Schlaf ohne dass ich es wollte, aber immerhin brachte ich es fertig, sie zu fragen, ob ich ihr irgend etwas holen könnte, einen Tee vielleicht?

Ansonsten, wie gesagt, ist der 21. März in meiner Erinnerung nur bruchstückhaft und vernebelt vorhanden. Ich weiß noch, dass zwei Menschen vom Schmerzdienst kamen und mir erklärten, dass die Schmerzmittelpumpe in Betrieb sei und dass ich mich sofort melden solle, wenn ich Schmerzen hätte, die Krankenschwestern oder Ärzte würden dann rund um die Uhr jemanden vom Schmerzdienst erreichen und holen können.

Am nächsten Tag musste ich einige Male Gebrauch davon machen. Im Laufe des Vormittags stellten sich Schmerzen ein, die ziemlich rasch zunahmen. Da niemand von den Pflegekräften und auch niemand von den Ärzten die »sündhaft teure« Schmerzmittelpumpe bedienen oder irgend welche Einstellungen ändern wollten (»da gehen wir nie und nimmer ran, das machen nur die Spezialisten vom Schmerzdienst«), bekam ich zunächst Tropfen und dann über die Infusion zusätzliche Schmerzmittel. Die Spezialisten für die Pumpe kamen alle paar Stunden vorbei und am späten Nachmittag, als ich schon wieder auf der chirurgischen Station lag, war dann die richtige Dosierung gefunden.

Ich bin ja, da ich schon als Kind Karl May gelesen und mich mit Winnetou und Old Shatterhand verbündet hatte, überzeugt, dass ein Indianer (also ich) keinen Schmerz kennt (also nie und nimmer zugibt, dass er ebendiesen erleidet). Im Krankenhaus allerdings machten mir die Ärzte sehr ernsthaft klar, dass es der Heilung förderlich sei, wenn ich tatsächlich völlig schmerzfrei war, denn andernfalls verkrampft sich der Mensch, Indianer hin oder her, und ein verkrampfter Organismus heilt langsamer oder gar nicht an den entscheidenden Stellen.

Was, wie der Arztbericht formuliert, »am zweiten postoperativen Tag allerdings« passierte und inwiefern mir das zugute kam, obwohl es erst einmal ganz böse aussah, davon berichte ich dann in der nächsten Fortsetzung.

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Sonntag, 8. April 2012

Frohe Feiertage!

Allen Blogbesuchern wünsche ich ein erholsames und frohes Oster- oder Auferstehungsfest, je nach Vorliebe mit Schokolade, Eiern, Hasen, Kirchgang, Konzertbesuchen, Spaziergängen oder einer Mischung aus mehreren Zutaten.

Samstag, 7. April 2012

Aufzeichnungen nach dem Krankenhaus /// Teil 3

Aktuelles in Kürze: Ab heute der nächste Schritt beim »Ausschleichen« des Morphin (Ärztedeutsch für langsam abgewöhnen). 40 mg täglich statt 50. Ab nächsten Samstag dann 30 mg täglich … in drei Wochen sollte ich also wieder clean sein. Fein.

So, nun zurück ins Krankenhaus zu den Tagen vor der Operation.

… auf eine ziemlich unappetitliche, aber außerordentlich erfolgreiche Weise …

Der Arztbericht formuliert nüchtern:

Unter regelmäßigem Anspülen der Entlastungssonde konnte Herr Matthia mehrere Liter Stuhl absetzen, sodass er aus dem Ileuszustand rekompensierte und am 19. 03. auf die Normalstation zurückverlegt werden konnte.

Die Verlegung fand gegen Mittag statt, ich kam in ein Zimmer mit drei Betten, am Fenster lag ein Patient, der schon seit einigen Tagen operiert war und aufstehen konnte, in der Mitte ein kaum jemals das Bewusstsein erlangender Sterbenskranker und dann eben ich, an der Türseite. An mir hatten die Pflegekräfte erst einmal nicht viel zu tun, ich konnte unter Mitnahme des fahrbaren Infusionsständers sowie der drei am Bett befestigten Beutel (Darm- und Blasenausscheidungen sowie Magensondenauffangbeutel) aufstehen, mir die Zähne putzen und mich einigermaßen erfolgreich waschen. Da der Darm unterhalb des Ileus ja seit Tagen restlos leer war, erübrigte sich jeglicher Toilettenbesuch. Ich bekam über die Infusion Flüssigkeit und zwei Mal täglich künstliche Ernährung zugeführt, ansonsten diverse Medikamente, darunter immer noch das Antibiotikum gegen die vermutete Bauchfellentzündung.

Am Abend des 19. März erfuhr ich, dass die Operation auf den 21. verschoben worden war. Die Begründung war, übrigens ein ab und zu auftretendes Phänomen in diesem Krankenhaus, von Person zu Person unterschiedlich. Es sei der Terminplan zu voll, sagte mir ein Arzt. Nein, es ginge um die Entzündungswerte in meinem Blutbild, sagte eine Ärztin. Die Stationsschwester erklärte, mein Bauch sei noch zu geschwollen, man hoffe darauf, dass die Entlastungssonde in den zusätzlichen 24 Stunden noch reichlich Stuhl aus dem Körper fördern würde. Womöglich stimmte ja alles oder nichts – aber für den Patienten wäre es schon einfacher, wenn sich die Ärzte und Pflegekräfte bezüglich möglicher Fragen des Patienten vorher auf jeweils eine Auskunft einigen würden.

In mir sah es so aus, dass die (sicherlich völlig normale) Angst vor der Operation Tag und Nacht nicht weichen wollte. Mal trat sie in den Vordergrund, mal konnte ich sie etwas vergessen. Beim Lesen reichte die Konzentration in der Regel nicht für viel mehr als 20 oder 30 Minuten, dann schloss ich wieder die Augen und dachte nach, schlummerte ein wenig, wurde wieder hellwach …

image Wenigstens war im Gegensatz zur Intensivstation in der Nacht mehrstündiger Schlaf möglich, auch tagsüber konnte ich einiges nachholen, da meine Mitpatienten beide ruhige Zeitgenossen waren. Lediglich die beiden am Klinikum stationierten Hubschrauber, deren Anflugweg zum Landeplatz fast direkt an unserem Fenster vorbei führte, verursachten bei ihrer lebensrettenden Tätigkeit einen ziemlichen Lärmpegel.

Am Abend des 20. März kam mein Chirurg zu mir ans Bett, um noch einmal die Operation mit mir durchzusprechen. Er untersuchte meinen Bauch und musste mir dann sichtlich betrübt mitteilen, dass angesichts des doch noch erheblich angeschwollenen Darms ein künstlicher Ausgang für ein paar Monate nicht zu vermeiden sei. Die Entlastungsonde förderte zwar weiter Kot, aber die Menge, die noch im Darm verblieben war, sei doch recht erheblich.

Eine Stunde später erschien dann eine Stoma-Fachkraft, um zwei mögliche Punkte für den künstlichen Darmausgang auf der Haut zu markieren. Im Sitzen und Stehen wurde vermessen, welche Stellen am weitesten von einem Hosengürtel weg lagen, ohne wiederum das Sitzen zu behindern. Die beiden Punkte wurden schließlich auf meinem Bauch gekennzeichnet.

Da lag ich nun, zur Angst vor der Operation kam jetzt die fast 100prozentige Gewissheit, dass das Befürchtete eintreten würde. Der Glaube an einen Gott, der unbedingt das Erbetene tut, wenn man nur a) genug Glauben aufbringt, b) keine Zweifel zulässt, c) fortwährend die Heilung proklamiert und d) noch sonstige Voraussetzungen erfüllt, war mir vor einigen Jahren beim qualvollen und schon nicht mehr menschlich zumutbaren Tod meiner Schwiegermutter abhanden gekommen. Ich hatte göttliches Handeln in meinem Leben erfahren, vor vielen Jahren, daran zweifelte ich nicht, denn was man selbst erleb hat, kann einem ja niemand ausreden. Aber ich hatte ebenso erlebt, dass jedes Flehen, jedes verzweifelte Schreien völlig ohne Antwort blieb, obwohl alle Beteiligten alles „richtig machten“, soweit es die frommen Lehren definierten.

Was ich an diesem Abend vor der Operation noch hatte, war die Hoffnung, dass dieser häufig so ferne, so unbeteiligte Gott vielleicht eine Ausnahme machen würde. Vielleicht. Das konnte ich mir nicht verdienen, nicht erarbeiten, ich wollte ihm auch nicht irgendwelche abenteuerlichen Versprechungen machen, quasi einen Tauschhandel anbieten: Wenn du mir jetzt hilfst, dann werde ich … was auch immer. Nein, dachte ich, wenn er überhaupt hilft, eingreift, wie auch immer das aussehen mag, dann ist das nichts als ein unverdientes Geschenk. Gnade, um das fromme Wort zu wählen.

Also formulierte ich ein aufrichtiges Gebet, ungefähr so habe ich es in Erinnerung: Du oft so ferner, manchmal aber auch naher Gott, an den zu glauben ich nicht lassen kann und will, ich bitte dich, dass mir der künstliche Darmausgang erspart bleibt. Wie das gehen soll, da kann ich dir keine Vorschläge machen, da ist ja sogar mein Chirurg ratlos. Höchsten ein Verschieben der Operation kann ich mir vorstellen. Dass du helfen kannst, daran habe ich keinen Zweifel, ob du es willst, weiß ich nicht. Aber falls ja, dann würde ich mich ungeheuer freuen und dankbar sein. Letztendlich bin ich ja wohl in deinen Händen, nicht in den Händen der Ärzte, die können aber immerhin als deine Helfer fungieren. Also, wie gesagt, falls du mir zuhörst und meine Bitte gewähren willst, sage ich im Voraus danke. Amen.

Sicher kein mustergültiges Gebet aus einem Katechismus, Gebetbuch oder frommen Erbauungswerk. Aber alles andere wäre gelogen gewesen, und, soviel wusste ich, falls Gott zugehört hatte, wäre ihm ein vorgeheucheltes »hach wie stark ist doch mein Vertrauen!« sicher genauso übel aufgestoßen wie mir selbst. Etwas Trost und Ruhe gab mir auch das Wissen, dass nach wie vor zahlreiche Freunde und Bekannte und Verwandte, gläubig und ungläubig, Atheisten und Christen, für Eva und mich auf ihre jeweilige Weise beteten und hofften und die Daumen drückten bis sie flachgequetscht waren. Damit schlief ich dann ein.

Die Entlastungssonde musste alle zwei Stunden gespült werden, Tag und Nacht. Der Beutel, der 2 Liter Inhalt speicherte, war in der Regel zwei Mal täglich ausgewechselt worden. Gegen Mitternacht hörte ich ein ziemlich erschrockenes „ach du liebe Güte, was ist denn hier los!“ und schlug die Augen auf. Die Nachtschwester stand neben meinem Bett und starrte entsetzt auf den Boden. Ich folgte ihrem Blick und sah die Bescherung: Der Beutel war – ganz offensichtlich wegen Überfüllung - geplatzt, ein gewaltiger See von Kot breitete sich auf dem Fußboden aus. Das Krankenzimmer stank ziemlich erbärmlich.

Zu zweit, die andere Nachtschwester kam zur Hilfe, beseitigten die Damen die Schweinerei und brachten einen neuen Auffangbeutel am Schlauch der Sonde an. Im Verlauf der Nacht wurde ich aus dem Halbschlaf noch vier Mal wach, weil der Beutel voll war, jeweils 2 Liter, und ausgewechselt wurde. In den nächtlichen Stunden vor der Operation floss so viel Stuhl ab, wie an mehreren Tagen zuvor nicht. Auch die Magensonde förderte auf einmal bisher nicht dagewesene Mengen Kot, der Auffangbeutel wurde in dieser Nacht zwei mal gewechselt. Ich sah am Morgen das Ergebnis mit eigenen Augen: Der am Vorabend noch deutlich gewölbte, gespannte Bauch war weich und flach und ganz unübersehbar geleert.

Zufall? Schwein gehabt? Ein merkwürdiges medizinisches Phänomen? Eine autosuggestive Reaktion des Körpers?

Man kann selbstverständlich alle möglichen und unmöglichen Erklärungsversuche anstellen. Für mich ist und bleibt die wahrscheinlichste Antwort, bei der ich mein Denken und meinen Verstand am wenigsten verbiegen muss: Der oft so unzugängliche Gott hatte sich zugänglich gezeigt und meine Bitte auf eine ziemlich unappetitliche, aber außerordentlich erfolgreiche Weise erhört. Ganz einfach so, als Geschenk und ohne eine von mir versprochene Gegenleistung.

Wenige Stunden später wurde ich dann zum Operationssaal gebracht.

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Freitag, 6. April 2012

Aufzeichnungen nach dem Krankenhaus /// Teil 2

Vorab wieder Aktuelles: Gestern (Gründonnerstag) gab es einen gehörigen Schrecken. Von der Hausarztpraxis, wo sicherheitshalber vor den Feiertagen die Operationswunde/narbe in Augenschein genommen wurde, durfte ich direkt in die Notaufnahme des Krankenhauses zurück. Eva und ich waren zunächst ziemlich geschockt, wie man sich vorstellen kann, noch nicht einmal eine ganze Woche zu Hause und schon wieder in die Klinik?

In der Notaufnahme kümmerte sich dann eine Chirurgin, die mich bereits recht gut von meinem Aufenthalt kannte, um uns und meine Narbe. Es war alles im grünen Bereich, die Verhärtung darf so sein, wie sie ist, wird auch noch über Monate so bleiben, und dass wieder Wundsekret abgesondert wird, ist auch kein Grund zur Besorgnis. Vorsichtshalber schnitt die Chirurgin ca. einen Zentimeter der Narbe wieder auf – es kam kein Eiter zum Vorschein, und das ist auch gut so.

Also durfte ich, Gott sei es gedankt, wieder nach Hause fahren.

Ansonsten: Es geht weiter in kleinen Schritten täglich bergauf, meine Kraft nimmt zu, ich kann Tag für Tag ein wenig länger aufstehen statt liegen, die Entwöhnung vom Morphin funktioniert in ebenfalls kleinen Schritten bisher reibungslos (in ca. 4 Wochen sollte ich dann, wenn alles weiter so klappt, clean sein).

So. Nun zur Fortsetzung des Berichtes. Wir erinnern uns, der letzte Teil hörte so auf:

Das nahm ich aber eher am Rande zur Kenntnis, es schien mir nicht weiter besorgniserregend, die – wie ich inzwischen wusste – zwei Tumore belasteten meine Gedanken und Gefühle mehr.

Woher nimmt er bloß diesen Lebenswillen?

image Es dauerte ja, bis die Wahrheit ans Licht kam und bis ich sie nach und nach erfuhr. Eingeliefert worden war ich noch mit dem Verdacht auf eine akute Divertikulitis. Dann wurde klar, dass es sich um einen Ileus, also Darmverschluss, handelte. Es war die Rede von Zysten, die sich entzündet hatten. Es wurde versucht, auf konventionelle Weise die Darmtätigkeit in Gang zu bringen, als sich das als untauglich erwies folgten dann CT und Kolonoskopie (Darmspiegelung). Erst danach hörte ich von einem Tumor, dann von zwei Tumoren, und dann erst fiel endlich das insgeheim längst befürchtete Wort Darmkrebs.

Vom Hören zum Begreifen und schließlich Akzeptieren – für mich war das eine mentale Anstrengung. Ich wollte nicht akzeptieren, wollte wegschieben, Ausflüchte für meine Ängste suchen, beschwichtigen: Kann ja sein, dass es doch nur eine Zyste ist. Zwei, von mir aus. Kann ja sein, dass es auch einen Tumor gibt, der kein Krebs ist.

Aber schließlich schaffte ich es, zu sagen: Krebs. Ich habe Krebs.

Und damit war es mir dann auch möglich, weiter zu denken, zu fühlen. Die Tatsache war akzeptiert, und nun musste ich herausfinden, wie ich damit umgehen wollte. Natürlich war da Angst, große Angst. Schwiegervater und Schwiegermutter waren vor wenigen Jahren an Krebs gestorben, kurz nacheinander. Ich hatte in meinem Leben genug über Krebs gelesen, gehört und gesehen, um zu wissen, dass ich es mit einer ernsten, einer tödlichen Krankheit zu tun hatte. Einer heimtückischen noch dazu. Mehr als einmal hatte meine Schwiegermutter von Ärzten gehört: „Es ist jetzt sämtliches vom Tumor befallenes Gewebe aus dem Körper entfernt.“ An anderer Stelle trat relativ kurz danach dann jeweils ein neuer Tumor in Erscheinung.

Ich will mich, da ich diese Dinge jetzt einigermaßen chronologisch zur eigenen Erinnerung in späteren Jahren notiere, erst einmal auf das beschränken, was ich zur jeweiligen Zeit empfunden und erlebt habe. In diesen Tagen vor der Operation war es eindeutig sehr viel Angst, aber auch immer wieder Trost durch das Wissen, dass sehr viele Menschen mir alles Gute wünschten, an mich dachten, für mich beteten, sogar Freunde, die nicht gläubig sind, schickten Gebete für mich „ans Universum“ oder wohin auch immer. Am Anfang dieser Reihe von Texten hatte ich ja bereits davon berichtet.

Trotz all der Angst, obwohl mir jegliches Vermögen abhanden gekommen war, selbst an ein heilendes Eingreifen Gottes zu glauben, wollte ich leben. Ich wollte nicht resignieren, mich bemitleiden, als armes, unschuldiges Opfer bejammern. Nein. Wenn ich untergehen würde, dann aber nicht als Häufchen Elend, solange ich es irgendwie vermochte, wollte ich ein einziges Ziel im Auge behalten: Gesund werden. Auf die Beine kommen. Für meine Frau, meine Familie, und auch für Freunde und Bekannte da sein. Im Vordergrund stand aber eindeutig Eva, unsere Liebe, unsere gemeinsame Zukunft. Daran wollte ich mich festhalten.

Nach einer der besonders schlimmen Abführ-Erbrechen-Zusammenklappen-Aktionen hörte ich den Arzt zur Schwester sagen: „Woher nimmt er bloß diesen Lebenswillen, diese Kraft? So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Die Schwester: „Ich auch nicht, ich staune genau wie Sie.“

Heute, im Nachhinein, beim Aufschreiben der Ereignisse, würde ich als Antwort anbieten, dass in mir Gottes Kraft wirkte, die über menschliche Möglichkeiten nun einmal erhaben ist. Ich habe damit im Krankenhaus nicht gerechnet, habe es nicht bewusst wahrgenommen, nicht darum gebetet oder auch nur geglaubt, aber woher ich die Kraft sonst gehabt haben soll, wäre mir noch rätselhafter als die Erklärung, dass Gott bei mir war, auch wenn ich damit nicht rechnete.

 

In den Tagen und Nächten auf der Intensivstation war aufgrund der ständigen Geräuschkulisse und des auch nachts häufig notwendigen hellen Lichtes von ungestörtem Schlaf über längere Zeiträume nicht die Rede. Das war auch meinen Ärzten klar. „Wir wissen, dass Schlafentzug eine anerkannte Foltermethode ist“, sagte mein Chirurg eines morgens zu mir, „aber einstweilen ist das nun einmal das kleinere Übel für Sie. Versuchen Sie, zwischendurch so oft wie möglich zu schlummern, zehn Minuten, eine halbe Stunde ... was immer möglich ist. Sobald wir es verantworten können, verlegen wir Sie zurück auf die Chirurgie.“

Am 19. März war es dann so weit, ich durfte die Intensivstation verlassen. Die Operation war für den 20. März vorgesehen. Dass sie dann auf den 21. verschoben wurde und welches Wunder sich in der Nacht vor der Operation ereignete, davon berichte ich im nächsten Kapitel.

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Donnerstag, 5. April 2012

Aufzeichnungen nach dem Krankenhaus /// Teil 1

Zunächst, liebe Leser, ein paar aktuelle Fakten: Die schriftlichen Befunde liegen bis heute nicht vor. Ich habe nachher einen Termin beim Hausarzt, an den sie geschickt werden sollen - vielleicht ist ja heute was angekommen. Bisher weiß ich also nicht, wie es weiter geht, denn das hängt alles von der Histologie ab.

Es geht mir zu Hause Tag für Tag besser, in winzigen Schritten zwar, aber doch für mich deutlich sichtbar. Ich kann inzwischen bei mittags reduziertem Morphin völlig auf zusätzliche Schmerzmittel verzichten, zum Beispiel. Ich kann länger sitzen und durch die Wohnung laufen als vor ein paar Tagen, zum Beispiel. Die wunderhübsche Operationsnarbe sondert weniger Flüssigkeit nach außen ab als gestern und vorgestern, zum Beispiel.

Einige Leser haben via Facebook ihre Ungeduld bezüglich dessen zum Ausdruck gebracht, was denn nun in jener ersten Nacht auf der Intensivstation vorgefallen ist. Bitteschön, hier der Bericht:

Die akzidentelle Entfernung

Im Arztbericht liest sich das, was in dieser Nacht geschah, so:

… erfolgte die weitere Behandlung auf der Intensivstation. Dort kam es zu einer akzidentellen Entfernung der Entlastungssonde, die am Folgetag neu angelegt wurde.

Der Pfleger sah die ihm unbekannte Sonde samt Auffangbeutel, der sich eher langsam füllte. Er wusste aber offenbar nicht, was es mit der Vorrichtung auf sich hatte, dass mir diese Sonde nicht ohne Risiken vor wenigen Stunden gelegt worden war, um den Darm oberhalb der Tumore zu entleeren und mir auf diesem Wege wenn irgend möglich einen künstlichen Darmausgang zu ersparen und das Reißen der Darmwand zu verhindern. Natürlich hätte der Pfleger all das in der elektronischen Krankenakte, die auf der Intensivstation direkt neben dem Bett per PC abrufbar ist, nachlesen können. Müssen. Natürlich hätte er einen Arzt fragen müssen, wenn er etwas nicht verstand oder zuordnen konnte. Wäre ich so weit bei Bewusstsein gewesen, dass ich mitbekommen hätte, was der Pfleger tut, hätte ich natürlich Zeter und Mordio geschrien, energisch Einhalt geboten. Es kam aber anders.

image Der Pfleger hatte wohl irgendwann irgendwo gelernt, dass es für den Patienten angenehmere Ableitungen bei Darminkontinenz gibt als Sonden mit Schläuchen. Also entfernte er die Sonde und brachte statt dessen irgend eine andere Vorrichtung am Darmausgang an, die selbstverständlich völlig überflüssig war, da der Darm unterhalb der Krebsgeschwüre ja seit Tagen restlos leer war.

Im weiteren Verlauf der Nacht stieß der Pfleger dann auf den blinkenden Hinweis auf meinem Monitor: „Darmsonde spülen mit 200 ml NACL“. Erst jetzt wurde er stutzig, schaute sich die Krankenakte an und murmelte vernehmlich so etwas wie „ach du Scheiße“. Dann ging er zum Telefon und rief den diensthabenden Arzt an.

Die Aufregung an meinem und um mein Bett war groß. Einen gehörigen Teil bekam ich mit, was draußen vor der Tür geredet wurde, natürlich nicht. Der Arzt rief – es war 4 Uhr – meinen Chirurgen zu Hause an, erklärte den Sachverhalt, hörte zu und rief dann die Spezialisten der Abteilung an, auf der die Sonde Stunden zuvor gelegt worden war, um den frühestmöglichen Termin für einen zweiten Versuch zu vereinbaren. Derweil unterzog die Stationsschwester der Intensivabteilung den Pfleger einem Verhör, das von einer weiteren Schwester dokumentiert wurde. „Zum Wohle des Patienten … für ihn angenehmere Variante … erst zu spät in die Krankenakte geschaut“.

Am Morgen kurz nach acht Uhr wurde ich dann wieder eingeschläfert für den nun noch riskanteren zweiten Versuch, die Darmentlastungssonde einzuführen und zu fixieren. Selbstverständlich hatte ich in alle Risiken erneut eingewilligt, denn wenn mir irgend eine Vorstellung grauenhaft war, dann die des künstlichen Darmausganges für vier bis sechs Monate. Danach, so war mir versichert worden, könne man mit einer zweiten Operation den natürlichen Darmausgang wieder aktivieren, was in fast allen Fällen auch gelänge. Aber das wollte ich auf keinen Fall.

Um es kurz zu machen: Die zweite Sonde konnte am 18. März 2012 vormittags eingeführt, an die richtige Stelle gebracht und fixiert werden. Gott sei Dank ohne irgendwelche Schäden an der Darmwand.

 

Die folgenden Tage bewiesen mir, wie recht die Ärztin gehabt hatte, als es um die Magensonde ging. „Glauben Sie mir, das, was Sie womöglich in den nächsten Tagen über den Magen abführen, möchten Sie nicht im Mund haben. Da ist die Magensonde das kleinere Übel“, hatte sie gesagt. Denn der seit vielen Tagen oberhalb des Darmverschlusses gestaute Kot, den der Körper unbedingt loswerden wollte und musste, floss nicht nur durch die Sonde im Darm ab, sondern zunehmend über den Magen. Zweimal täglich wurden mir zusätzlich sehr aggressive Abführmittel über die Infusion verabreicht. Ich wusste, was mich danach jeweils erwartete. Beide Sonden schafften die Mengen nicht, ich erbrach literweise Kot. Die Details erspare ich mir an dieser Stelle, die vergesse ich garantiert nicht. Das Erbrechen und Würgen dauerte jeweils etwa 30 Minuten an, danach hatte ich Schüttelfrost, war klitschnass geschwitzt und so erledigt, dass ich vom Bett frisch beziehen und Nachthemd wechseln samt Wäsche nicht viel mitbekam.

Zur Besuchszeit war ich manchmal so geschwächt durch diese notwendigen Torturen, dass mir, obwohl ich gerne Eva, der besten aller Ehefrauen, manches erzählt hätte und manches erfragen wollte, die Augen zufielen. Aber das war zum Glück nicht immer der Fall.

Die Ärzte vermuteten aufgrund meiner Laborwerte und anderer Befunde inzwischen zusätzlich eine Bauchfellentzündung, daher wurden mir zu den anderen Medikamenten ab dem 19. März Antibiotika verabreicht. Das nahm ich aber eher am Rande zur Kenntnis, es schien mir nicht weiter besorgniserregend, die – wie ich inzwischen wusste – zwei Tumore belasteten meine Gedanken und Gefühle mehr.

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Mittwoch, 4. April 2012

Aufzeichnungen aus dem Krankenhaus /// Teil 5

image Dies ist der letzte Teil der Notizen, die ich mir im Krankenhaus gemacht habe. Gegen 12:30 Uhr am Samstag, dem 31. März, wurde ich entlassen, die beste aller Ehefrauen holte mich ab und kutschierte mich im extra für diesen Anlass frisch gewaschenen Dodge Nitro nach Hause. Ich war glücklich, das Krankenhaus zu verlassen, so gut und umfassend und oft genug liebevoll ich dort auch betreut worden war.
Die Fortsetzungen zu diesem Text sind dann bereits in heimischer Behaglichkeit entstanden, aber hier zunächst der letzte Abschnitt, den ich vor Ort geschrieben habe.

Samstag, 31. März 2012 10:50 Uhr

Die „normale“ Vorgehensweise, erklärte mir Dr. Kruschewski, wäre eine sofortige Notoperation, um den Darmverschluss zu beseitigen, bevor die aufgeblähte Wand reißt. Er wolle jedoch angesichts meines unübersehbaren Lebenswillens und meiner körperlichen Konstitution, die belastbarer sei als bei den meisten Patienten, mit Hilfe der Fachärzte versuchen, vom Darmausgang einen Schlauch am Tumor vorbei in den aufgeblähten Bereich zu schieben, durch den Schlauch könne dann einiges abfließen. Je mehr, desto besser, denn je geringer der Unterschied im Durchmesser zwischen den beiden Schnittstellen bei der Operation sei, desto größere Chancen habe er, mir den künstlichen Darmausgang zu ersparen. „Ich kann nicht einen auf 15 Zentimeter geweiteten Darm mit einem mit 3 oder 4 Zentimeter Durchmesser normal großen Darm zusammennähen. Das geht einfach nicht.“

Ob ich mit dem Versuch, der nicht ohne Risiken sei, einverstanden wäre, wollte er wissen. Ich war einverstanden. Jemand fragte mich: „So, Herr Matthia, wollen Sie ein bisschen schlafen?“ Ich hätte gerne mit „ja“ geantwortet, war aber schon meines Bewusstseins ledig, bevor ich den Mund öffnen konnte.

Die Zeiträume und –abstände dieser Nacht und der nächsten Tage sind mir etwas unklar geblieben. Ich kam auf der Intensivstation zu mir, wo sich gerade ein Arzt und ein Pfleger damit beschäftigten, mich mit den diversen Geräten zu verbinden. „Wir legen jetzt einen ZVK“, sagte der Arzt zu mir. „Und was ist ein ZVK“? „Ein zentraler Venen-Katheder. Dadurch kommen wir mit verschiedenen Sonden, die unterschiedlich weit reichen, bis an die Herzkammer.“ „Na das ist doch sicher eine feine Sache“, meinte ich. „Legen Sie los.“ „Das Dumme ist, dass das nur ohne Betäubung geht – und damit wird es schon recht unangenehm für Sie.“

Es war unangenehm, aber als das Werk vollbracht war, hatte ich nun einen ganz patenten „Multi-Media-Anschluss“, wie ich meinen ZVK taufte, im Hals. Der taugte zum Blut entnehmen, zum Zuführen von Medikamenten und Flüssigkeit sowie künstlicher Ernährung und war hübsch bunt. Der hellgrüne Anschluss war der beste, wenn jemand Blut zu zapfen trachtete. Zeitweise brachte mein Multi-Media-Anschluss es mit zusätzlichen Adaptern auf neun Schläuche gleichzeitig, die mit ihm verbunden waren.

Das Drehen im Bett war auf der Intensivstation eine noch aufwändigere Angelegenheit als zuvor. Ich hatte nun

· durch die Nase eine Magensonde

· unter der Nase zwei Düsen, die mir Sauerstoff zuführten, die aber auch gerne mal verrutschten

· im Hals den ZVK, der gut fest saß

· am Finger einen hübsch rot leuchtenden Sensor, dessen Kabel zu den Geräten hinter mir führte

· im Darm den erfolgreich gelegten Schlauch, an dessen Ende ein Auffangbeutel sich langsam mit flüssigem Kot füllte

· im Penis einen Blasenkatheder

Nach der Operation kam später ein Schlauch aus dem Bauchraum dazu, durch den die Wundsekrete und Blut abließen konnten und eine Leitung zum Rückenmark, durch die Morphin direkt zu den geeigneten Nervenenden fließen konnte. Dafür war dann der Darm-Entlastungsschlauch weg.

Wie gesagt, die Zeiten verrutschten mir ein wenig, wie spät es war, als ich schließlich fertig verkabelt und verschlaucht war und die Müdigkeit mich immer wieder für ein paar Minuten dem ständigen Brummen, Piepsen und Summen um mich herum entriss, weiß ich nicht. Es lagen außer mir drei Patienten in dem Abteil der Intensivstation. Bei irgend einem von uns musste fast immer etwas getan, justiert, überprüft werden. Dazu sind Intensivstationen ja da und ich bin sehr dankbar, dass ich in den Genuss der technischen Möglichkeiten kommen durfte, die doch vieles erleichterten und schmerzärmer gestalten halfen.

Dann kam es wenig später zu einem ernsthaften Anschlag auf den Erfolg meiner Behandlung. Nicht böswillig, sondern aus gut gemeintem, aber ziemlich einfältigem Handeln eines Pflegers. Man könnte natürlich auch von ziemlich grenzenloser Dummheit reden. Er war, wie ich am nächsten Tag mitbekam, als Leasingkraft für die Nacht eingeteilt und wird wohl nach dem Vorfall mit mir dieses Krankenhaus nie wieder von innen sehen. Ob er überhaupt jemals wieder auf einer Intensivstation arbeiten darf, war, soweit ich die Gespräche der Ärzte verstand, sowieso fraglich.

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Dienstag, 3. April 2012

Aufzeichnungen aus dem Krankenhaus /// Teil 4

Auch heute vor dem Text aus dem Krankenhaus ein paar aktuelle Worte: Es sind für die meisten Menschen unbedeutende Kleinigkeiten, aber für mich Grund zur Dankbarkeit und zum Staunen:

  • Ich kann eine Mahlzeit zu mir nehmen, ohne dass mich schon während des Essens ein anschließend stundenlang andauernder Schluckauf befällt.
  • Gestern brauchte ich nur noch zwei Novaminsulfon Tabletten (Schmerzmittel), um die Reduzierung der mittäglichen Morphin-Dosis (Opiat) abzufedern. Bisher waren es 4 oder 6 gewesen.
  • Ich kann wieder auf der linken Seite liegen, ohne dass Schmerzen und Übelkeit die Folge sind.

Kleinigkeiten? Möglich, aber für mich bemerkenswerte Fortschritte.

Nun also die nächste Dosis dessen, was ich mir zum niemals vergessen im Krankenhaus notiert habe. Für mich in erster Linie, und natürlich ist jeder, den es interessiert, eingeladen. Hier beginnt dann auch so etwas wie eine chronologische Ordnung der ganzen Krankheit.

30. März 2012, 7:25

imageDie Umstellung von der Schmerzmittelpumpe auf Tabletten könne etwas holperig verlaufen, hatte man mir angekündigt. Na ja. Am Mittwoch war das Gerät morgens leergelaufen und dann abgeschaltet worden, so gegen 7 Uhr. Um 6 Uhr hatte ich bereits Morphin in Tablettenform erhalten, um 8 Uhr bekam ich Novalgin flüssig dazu – und gegen 13 Uhr wüteten die Schmerzen so bösartig in meinem Bauch, dass mich Schüttelfrost und Krämpfe überfielen. Der Zustand besserte sich dann ein wenig, in Nuancen, als via Infusion weiteres Novalgin zugeführt wurde. Erst am Abend, weil es wirklich keine wesentlichen Fortschritte gab, entschlossen sich die Ärzte, die Dosis auf 3 x 20 mg Morphin heraufzusetzen, die 22 Uhr Gabe waren schon 20 mg. Doch war es in der Nacht gegen 1 Uhr wieder so schlimm, alle Novalgin und sonstigen Beigaben halfen nicht, dass eine erfahrene Schwester mir Paracetamol an die Infusion hängte. Und siehe da: Binnen zwanzig Minuten war ich endlich soweit schmerzfrei, dass ich an Schlaf denken konnte.

Am Donnerstag bewährte sich die Dosierung 3 x 20 mg Morphin, am Morgen war noch eine Infusion mit Paracetamol notwendig, dann kam ich mit dem Morphin aus. Ich bekam zwar Tropfen (Novalgin) ans Bett gestellt für zwischendurch, aber die konnte ich stehen lassen.

Und heute, am Freitag, nach einer Nacht ungestörten Schlafes, ohne Übelkeit aufgewacht, bisher auch ohne quälenden Schluckauf, kann ich mir ernsthaft vorstellen, zu Hause besser aufgehoben zu sein als hier. Zum ersten Mal seit dem 15. März, als ich nachts mit dem Notarztwagen hier eingeliefert wurde.

Am 14. März war ich morgens ganz normal aufgestanden, um mich für den Tag im Büro fertig zu machen. In den Tagen zuvor hatte ich hin und wieder Schmerzen und Übelkeit verspürt, es kam wieder zu häufigem Schluckauf und Aufstoßen – alles Symptome, die mich Anfang Februar schon einmal zum Arzt, in ein anderes Krankenhaus und zu der Diagnose Divertikulitis gebracht hatten. Nur war es jetzt nicht so schlimm wie im Februar. Ich stand also auf, ging in die Küche, um der Kaffeemaschine meinen Wunsch nach Café Latte kundzutun, und dann ins Bad, wo die Zeit gerade noch reichte, den Klodeckel hochzuklappen, bevor sich das gestrige Abendessen kaum verdaut aus dem Magen ergoss. Ich war ziemlich überrascht, weil keine Übelkeit vorangegangen war – die kam nach dem Erbrechen und blieb. Ich rief im Büro an, dass ich eher zum Arzt als zur Arbeit fahren würde und legte mich wieder hin, mit zunehmender Übelkeit. Zweimaliges Erbrechen in den Stunden vor der Praxisöffnung brachte wenig Mageninhalt zum Vorschein, aber doch gewisse Erleichterung, was die Übelkeit betraf.

Die Ärztin, die schon im Februar auf die (wie ich jetzt weiß) Fehldiagnose Divertikulitis hereingefallen war, erklärte mir, ich habe wohl einen Magen-Darm-Virus, solle aber, falls es nicht besser würde, umgehend ein Krankenhaus aufsuchen.

 

30. März 2012, 11:45 Uhr

Das geschah dann am 15. März in den Abendstunden mit Notarztwagen, Blaulicht und neugierigen Nachbarn an den Fenstern und vor der Türe. Die Papiere von der Februar-Behandlung aus dem Bethel-Krankenhaus nahm ich mit.

Es war schon am nächsten Tag ziemlich klar, was ich nicht hatte: Eine Divertikulitis. Einer der zahlreichen Fachärzte knurrte etwas ungehalten vor sich hin: „Mit einem Ultraschall diagnostiziert man überhaupt nichts. Niemals.“

Erleichterung gegen die ständige Übelkeit brachte die Magensonde, so unangenehm die Minuten des Einführens durch die Nase auch waren. „Glauben Sie mir, das, was Sie womöglich in den nächsten Tagen über den Magen abführen, möchten Sie nicht im Mund haben. Da ist die Magensonde das kleinere Übel“, erklärte mir eine Chirurgin. Heute weiß ich: Sie hatte recht. Die Magensonde wurde meine Freundin in den folgenden Tagen und Nächten.

Nach zwei Tagen Untersuchungen durch alle in Frage kommenden Fachrichtungen wurde ich dann am 17. März auf die Chirurgie verlegt. Mehrere Röntgenuntersuchungen sowie all die Blut- Urin- und sonstigen Proben (Stuhlproben gab es nicht, seit dem 12. März hatte ich keinen Stuhlgang) ließen an der Diagnose Darmverschluss keine Zweifel mehr zu. Wie gefährlich die Lage war, zeigte sich aber erst bei der Computertomographie am Nachmittag des 17. März. Man brachte mich zurück auf mein Zimmer, und kaum dass die Ergebnisse vorlagen, wurde eine sofortige Verlegung auf die Intensivstation vorbereitet. Ich konnte gerade noch der besten aller Ehefrauen mitteilen, dass sie mich am nächsten Tag dort finden würde, da ging es auch schon los: Das Pflegepersonal sammelte meinen persönlichen Besitz ein, um ihn wegzuschließen und ich wurde abtransportiert. Allerdings zuerst zur Endoskopieabteilung, auf dem Weg versuchte mir der Arzt, der persönlich mein Bett schob, weil das Warten auf die Transportkräfte zu lange gedauert hätte, zu erklären, was er vorhatte und versuchen wollte.

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Montag, 2. April 2012

Aufzeichnungen aus dem Krankenhaus /// Teil 3

Bevor der nächste Text aus dem Krankenhaus folgt, eine kurze aktuelle Meldung: Seit Samstag Nachmittag bin ich ja zu Hause, und das tut mir sichtlich gut. Meine Stimmung hellt sich auf, das Essen schmeckt besser (wird ja auch von der besten aller Ehefrauen zubereitet statt aus einer Großküche geholt) und in den Nächten kann ich abgesehen von zwei oder drei Besuchen auf der Toilette (hat sich meine Blase verkleinert oder trinke ich mehr?) durchschlafen.

Ich bedanke mich weiterhin für alle guten Wünsche, Gedanken, Daumen drücken, Gebete, Zuschriften … es tut gut, nicht allein zu sein mit all den Problemen.

 

27. März 2012, 14 Uhr

Täglich ein paar Sätze aufzuschreiben war ein Vorsatz, dessen Erfüllung nicht Realität wurde. Es war und ist doch vieles zu anstrengend, um dann noch die Kraft zu finden, den Computer aus dem Nachttisch zu nehmen. Zum Beispiel das Erbrechen ohne Vorwarnung in der Nacht vom 25. zum 26. März. Als ich wach wurde, es mag gegen 1 Uhr oder 2 Uhr gewesen sein, bemerkte ich, dass es wohl geboten war, sich in die Nähe der Toilettenschüssel zu begeben.

imageDas ist nun in meinem Fall nicht so einfach wie im normalen Leben. Ich muss zunächst die Klammer, an der der Beutel befestigt ist, in dem sich die Wundsekrete aus dem Bauchraum sammeln, links von vom Bettzeug lösen und am Nachthemd befestigen. Dann rechts am Infusions- und Geräteständer den Netzstecker des Novalgin-Perfusors lösen (die Akkus reichen für rund 40 Minuten). Langsam und vorsichtig wegen diverser Kabel und Schläuche am und im Körper zu Geräten und Beuteln kann ich mich dann aufsetzen und aufstehen. Als nächstes muss ich die Schmerzmittelpumpe, die wegen der recht kurzen Leitung zum Rückenmark am Galgen über dem Bett hängt, an den Infusionsständer hängen und den Urinbeutel, der am Bett befestigt ist, in die Hand nehmen, damit er nicht am Blasenkatheder zieht. Dann erst kann ich mich in Richtung Toilette in Bewegung setzen.

In jener Nacht nun reichte es nach der Prozedur einen Schritt vom Bett weg, dann ergoss sich schwallartig Erbrochenes auf den Boden, die Füße, die Hausschuhe. An die Klingel auf dem Nachttisch kam ich nicht mehr heran – zum Glück war mein Bettnachbar wach geworden und drückte auf seinen Alarmknopf. Ich holte krampfhaft Luft, schon kam der zweite Schwall. Mein Bettnachbar befürchtete, dass ich umkippen könnte, und er als wie ich relativ frisch Operierter konnte mich sicher nicht auffangen oder halten. Daher eilte er zur Tür und rief in den leeren Gang: „Schwester, es ist wirklich ein Notfall! Dringend!“ Nun wurden eilende Schritte hörbar, und bei meinem vierten Schwall (fünf wurden es) betrat die Nachtschwester den Raum.

Als die ganze Schweinerei rund zwanzig Minuten später beseitigt war, bekam ich eine Infusion wegen des erheblichen Flüssigkeitsverlustes und schlief bald ein. Jegliche Übelkeit war verschwunden. Gegen vier Uhr drehte ich mich dann von der einen Seite auf die andere (auf dem Rücken kann ich nur sehr schlecht schlafen) und fühlte dabei, dass mein Po nass war. Ein unangenehmer Gestank kam unter der Bettdecke hervor. Sollte ich etwa – hatte ich womöglich – ach du liebe Güte! So ungern ich auch die Pflegekräfte mittels Alarmknopf holte, in diesem Fall hielt ich es für angebracht, nicht selbst das Unheil noch zu vergrößern, sondern Hilfe in Anspruch zu nehmen. Um es kurz zu machen: Ich hatte ins Bett gemacht, allerdings war es sehr dünne Flüssigkeit und die Nachtschwester versicherte mir, dass ich das im Schlaf ganz einfach nicht merken hätte können, dass ich Patient und im Krankenhaus sei, eine schwere Operation hinter mir hätte und dass ich mich für nichts schämen müsse.

Als ich gesäubert wieder in meinem Bett lag und auf den Schlaf wartete, fiel mir auf, für wie selbstverständlich ich es immer gehalten hatte, Ausscheidungsvorgänge, Körperhygiene und überhaupt die täglichen Dinge wie Duschen, Hände waschen, Pinkeln gehen, selbst und diskret zu erledigen, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Und nun, auf einmal auf Hilfe sogar beim Abwischen nach dem Stuhlgang angewiesen, konnte ich es mir nicht leisten, irgend etwas zu peinlich zu finden. Nun konnte ich mich nicht dagegen wehren, dass mein Körper keine Rücksicht auf meine Hemmschwellen nahm. Natürlich versicherten mir die Pflegekräfte, dass sie mit allen menschlichen Befindlichkeiten und Ausscheidungen umzugehen gelernt hatten, dass ich mich nicht schämen müsse und wirklich in meinem Zustand nichts dagegen tun konnte. Aber wesentlich leichter fiel es mir trotzdem nicht, mich damit abzufinden.

Für die nächsten Nächte und während der Schlafphasen der Tage zumindest trage ich nun ein vermutlich absolut sexy wirkendes Höschen mit Einlage, damit im Fall des Falles nicht das ganze Bett frisch bezogen werden muss.

Nach solchen Nächten kommen dann Tage, die sowieso ja andere Anstrengungen und Unbill mit sich bringen … zusätzlich die Tatsache, dass wenig Schlaf möglich war … da schreibt man dann nichts mehr auf.

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