Woher es so ganz genau stammt, wissen die Ärzte wohl bis heute nicht, überwiegend wird vom Zusammenspiel mehrerer Ursachen ausgegangen, bei Krebskranken können das unter anderem psychologische Faktoren, Blutbildveränderungen und Ernährungseinflüsse sein.
Jedenfalls war das Fatigue-Syndrom ein Alarmzeichen meines Körpers, dass er an Krebs erkrankt ist – und ich konnte das Alarmzeichen nicht zuordnen. Daher blieb die Warnung eine vergebliche.
Außergewöhnliche Müdigkeit trat seit Monaten bei mir auf, oft genug fielen mir bei den Nachrichten, beim Tatort oder auch schon tagsüber, beim Lesen, beim Arbeiten am Computer sogar, die Augen zu, obwohl ich nicht weniger schlief als üblich. Wenn es an Feiertagen oder Wochenenden die Möglichkeit zum Ausschlafen gab, konnte ich die in der Regel nutzen und war trotzdem tagsüber häufig müde.
Dazu kam ein zunehmendes Schwächegefühl, ohne dass es dafür einen Anlass (einen mir erklärlichen Anlass) gegeben hätte, es wollte mir auch zunehmend schwer fallen, mich zu Ausflügen oder auch nur Restaurantbesuchen oder Spaziergängen aufzuraffen. Ich raffte mich trotzdem auf, allemal, denn ich bin nun mal keiner, der sich gehen oder hängen lässt.
Traurigkeit ohne Ursache (ohne eine mir erkennbare Ursache) überfiel mich gelegentlich – aber da ich schon mein Leben lang seit der Kindheit damit zu tun gehabt hatte, nahm ich das nicht richtig zur Kenntnis.
Ich dachte an Überarbeitung, Urlaubsreife, widrige Umstände, Sauerstoffmangel im Büro wegen fehlender Durchlüftung … alle möglichen und unmöglichen Erklärungen kamen mir so in den Sinn in den letzten zwölf oder mehr Monaten, aber auf Krebs wäre ich nie gekommen.
Nun weiß ich, seit die Ärztin, die mich während der Rehabilitationsmaßname betreut, mir das zum Teil noch unerforschte, aber inzwischen wissenschaftlich anerkannte und festgestellte Fatigue-Syndrom erklärt hat, dass mein Körper mit den Symptomen nur sagen wollte: »Lieber Inhaber dieses Körpers, ich bin vom Krebs befallen, tu mal was dagegen, wenn es geht.«
Durch eine mir wahrscheinlich bevorstehende Chemotherapie wird das Syndrom, das mehrere Monate über den Behandlungszeitraum (Operation und Genesung) hinaus anhalten kann, in der Regel weiter verstärkt. Bei manchen Menschen wird es auch erst dadurch »richtig« ausgelöst. Typische Merkmale, weiß Wikipedia, sind eine anhaltende Schwäche und Abgeschlagenheit trotz ausreichender Schlafphasen, eine Überforderung bereits bei geringen Belastungen und eine deutliche Aktivitätsabnahme im privaten und beruflichen Umfeld.
Wie auch immer: Irgendwann, in einigen Monaten oder in einem Jahr, hoffe ich, das Syndrom los zu sein. Bis dahin werde ich mich damit abfinden, dass ich nachts aufwache und dunkle Gedanken in meinem Kopf entdecke: Wie stirbt man eigentlich an Krebs? Völlig zugedröhnt von Drogen? Oder bekommt man das mit, dass es zu Ende geht? Wird die Chemotherapie alles noch schlimmer machen oder ist sie die Chance, den Krebs endgültig zu besiegen? Wenn er sowieso schon endgültig besiegt ist, welche Schäden richtet dann die Chemotherapie an? Falls ich die nächsten fünf Jahre überlebe, oder die nächsten acht Jahre … wie viel von meiner Rente werde ich eigentlich genießen können?
Na und dann, nach einer halben Stunde, schlafe ich doch wieder ein und am Morgen sind die dunklen Gedanken weit weg, irgendwo tief drin verschüttet. Ich kann mich an kleinen und großen Dingen freuen, die der Tag mir bringt. Jeden Tag genießen als Geschenk – denn ich hätte im März auf der Intensivstation auch sterben können. Und bin nicht gestorben.
.