Das Transforum 2012 war die fünfte Konferenz dieser von Gemeinsam für Berlin veranstalteten Tagungsreihe. Es wäre ein törichtes Unterfangen, alle Eindrücke, Einsichten und Impulse aus den vielen Stunden in einen für diesen Bericht angemessenen Rahmen zwängen zu wollen. Ich will und muss mich daher auf ein paar für mich persönlich besonders wichtige und herausragende Punkte beschränken. Andere Teilnehmer werden anderes bemerkenswert gefunden haben, und das ist auch gut so.
Das große Thema der Konferenz war Gerechtigkeit in der Stadt. Können und wollen wir als Christen einen Beitrag leisten, um in unserer Gesellschaft für mehr Gerechtigkeit zu sorgen? Was ist, vorausgesetzt wir wollen nicht die Augen vor der Ungerechtigkeit schließen und auf ein besseres Jenseits verweisen, zu tun?
Hinsehen
Der Eröffnungsabend stand unter dem Motto Hinsehen. Der Vortrag von Harald Sommerfeld (Vorsitzender des Netzwerkes Gemeinsam für Berlin, Berater für urbane Transformation) zu diesem Thema war mitreißend, weil der Redner spürbar ein glühendes Herz für Menschen hat, die unter Ungerechtigkeit leiden. Er sieht genau hin und vermag das Gesehene so zu erklären, dass auch aus Problemen, die weit weg zu sein scheinen, auf einmal etwas wird, was mich persönlich berührt. Ungerechtigkeit gibt es genug, und es gibt zahlreiche von manchen Christen gepflegte Möglichkeiten, sie einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es ist eine – meine – persönliche Entscheidung, ob ich hinsehen oder wegschauen möchte.
Mitten im Thema gab es eine Unterbrechung, vier Rapper aus dem Soldiner Kiez, einem der sozialen Brennpunkte Berlins, kamen auf die Bühne. Die Kingz of Kiez, wie sie sich nennen, boten ihre Musik dar und gaben im Gespräch Auskunft über ihren Alltag, ihr Leben, ihre Träume und ihre Sorgen. „Wenn man mir, weil ich Moslem bin, den 11. September immer wieder vorwirft, dann verletzt mich das“, sagte einer der jungen Musiker. Nanu? Moslems auf der Bühne einer christlichen Konferenz? Jawohl. Und auch das ist gut so. „Ich bin dankbar, dass ich hier leben kann, wo ich nicht verhungern muss, wo kein Krieg herrscht. Ich muss nicht jeden Tag Angst um meine Familie und mein Leben haben“, meinte ein anderer. Mich überraschte, dass die Jugendlichen, obwohl sie in einer „schwierigen“ Ecke Berlins leben, neben einigen berechtigten Wünschen nach mehr Gerechtigkeit doch eine ganze Menge an positiven Dingen über ihr Leben zu sagen hatten.
Der Vortrag von Harald Sommerfeld widmete sich anschließend Erlebnissen und Beispielen, wie durch das Hinsehen (und das daraus folgende Handeln natürlich) Gerechtigkeit zunehmen kann. Wir müssen nicht die ganze Welt verändern wollen. Es genügt, da wo wir sind, womöglich in einem ganz klein erscheinenden Bereich, hinzusehen und Schlussfolgerungen aus dem zu ziehen, was wir dann wahrnehmen. Aus vielen kleinen Schritten kann eine spürbare Zunahme der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft entstehen.
Aufstehen
Pfarrer Axel Nehlsen (Geschäftsführer Gemeinsam für Berlin, Vorstandsmitglied mehrerer christlicher Organisationen) erläuterte am Beginn des Freitag, der dem Schwerpunkt Aufstehen gewidmet war, in einer Bibelarbeit Unterschiede und Gemeinsamkeiten menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit, um eine Art theologisches Fundament zu vermitteln oder zumindest Eckwerte anzubieten. Rechtfertigung, Gerechtigkeit, göttliches Recht … viele Begriffe sind nur aus ihrem jeweiligen Kontext zu erklären und zu verstehen und auch nicht auf einen anderen Zusammenhang anwendbar.
Anschließend erfuhr ich durch eine katholische Ordensschwester etwas über unsere Gesellschaft, was mir bis dahin unbekannt geblieben war: Es gibt hier und heute Sklaverei und Menschenhandel. Auch in Berlin.
Schwester Margit Forster hat nach ihrem Theologiesstudium in Rom acht Jahre in Kenia und vier Jahre in Uganda gearbeitet (Schule, Jugendarbeit, Begleitung junger Frauen in die Ordensgemeinschaft). Anschließend gehörte sie sechs Jahre der Generalleitung ihres Ordens in Rom an und arbeitete anschließend noch über ein Jahr in der italienischen Hauptstadt als Generalsekretärin für Ausbildung. Sie erklärte: „Während dieser Zeit wurde mir immer mehr bewusst, dass ich immer weniger Kontakt mit dem wirklichen Leben hatte. Und so begann ein neues Kapitel meines Lebens, für das ich sehr dankbar bin.“ Sie arbeitet für die Organisation SOLWODI (Solidarity with women in distress - Solidarität mit Frauen in Not). Schwester Margit Forster: „Bis vor wenigen Jahren wurden überwiegend Frauen aus Afrika, Asien und Lateinamerika mit einem Arbeitsangebot im reichen Ausland angeworben und dann unter Anwendung von Gewalt in die Prostitution gezwungen. Inzwischen ist auch eine steigende Nachfrage nach immer jüngeren Prostituierten aus Osteuropa zu beobachten. Nach ihrer Einreise wird den Frauen und Mädchen ihr Ausweis und ihr Geld abgenommen, um sie dann im Anschluss an Bordelle zu vermitteln. Unter Androhung und/oder Ausübung von körperlicher Gewalt, auch Vergewaltigung, werden sie gefügig gemacht und so zur Prostitution gezwungen.“ Viele der Frauen aus Afrika werden von Frauen gehandelt und prostituiert, die einst auf dem gleichen Weg in Europa gelandet sind. Sobald sie die vielen Tausend Euro „abgearbeitet“ haben, die ihre Flucht gekostet hat, fangen sie an, Geld zu verdienen, indem sie nun ihrerseits neuankommende Frauen versklaven.
Aufstehen gegen solche Zustände – das Anliegen dieser Ordensschwester und ihrer Organisation. Viele Konferenzteilnehmer waren wohl so betroffen wie ich nach ihrem Bericht. Wie kann so etwas in unserer Gesellschaft, in unserer Stadt geschehen? Wer kann eingreifen, um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen?
„Evangelikale, soziale Gerechtigkeit und Politik“ war das Seminar überschrieben, das ich dann am Nachmittag besuchte, Referent war Harald Sommerfeld. Er ging am Beispiel der britischen Kirchengeschichte der Frage nach, ob das Christentum schon immer so sozial gleichgültig war wie es sich heute weithin präsentiert (von Ausnahmen natürlich abgesehen). Und siehe da: Nein, ganz und gar nicht. Die großen Glaubens- und Erweckungsbewegungen haben vielmehr als soziale Werke begonnen, die von Gläubigen getragen und vorangetrieben wurden. Die Methodisten, die Heilsarmee und andere hatten vor allem Ungerechtigkeit ihrer Gesellschaft im Blick und standen auf, um etwas daran zu ändern. Erfolgreich, wie man weiß. Und dann, nach und nach, ging der Blick für die Gesellschaft verloren … heute beschränkt sich das evangelikale Christentum weitgehend auf „geistliche Werte“ und „christliche Anliegen“.
Gerechtigkeit, auch und vor allem in unserer Welt – ist das überhaupt unser Auftrag? Harald Sommerfeld fiel es nicht schwer, anhand der biblischen Texte deutlich zu machen, dass dies gerade und vor allem der Auftrag Gottes an diejenigen ist, die ihm zu folgen sich entschließen. Mehr noch, es scheint eine in den Menschen eingewurzelte „goldene Regel“ zu geben, die in so gut wie allen Religionen zu finden ist. Aus christlicher Sicht nicht besonders verwunderlich, da der eine Schöpfer mit seiner Schöpfung ja Urheber aller Menschen ist, ob sie nun glauben oder nicht, und was sie auch glauben. Mit der „goldenen Regel“, habe ich mir vorgenommen, werde ich mich demnächst in einem Artikel näher beschäftigen.
Mein Fazit aus diesem Seminarblock kann an einem Beispiel von Harald Sommerfeld deutlich werden, das mir eigentlich völlig fremd ist, da es aus dem Fußballgeschehen stammt, das mir aber trotzdem und auf Anhieb verständlich ausdrückte, wie ich als Christ handeln möchte.
Angenommen, ich wäre glühender Anhänger eines Vereins, meinetwegen Hertha BSC, da ich ja nun mal Berliner bin. Dann würde ich die Fußballmannschaft aus, nun ja, sagen wir München, weil es schön weit weg ist, nicht leiden können. Wenn nun ein Münchner Spieler durch ein Faulspiel einen meiner Herthaner zu Fall bringt, ist meine Empörung gewaltig und mein Ruf nach einer angemessenen Strafe vernehmbar. Stellt allerdings jemand aus meiner Mannschaft einem Bayern ein Bein, dann war das nicht so schlimm, nicht so doll, der soll sich nicht so anstellen und schließlich ist ja Fußball was für harte Kerle. Der Fußballfan aus München neben mir wird das jedoch ganz anders beurteilen. Wer ist hier in unserem ausgedachten Fußballstadion gerecht? Eigentlich nur einer: Der Schiedsrichter. Er sieht ständig hin, er greift ein, wenn gegen das Recht (in diesem Fall die Spielregeln) verstoßen wird. Und zwar auf beiden Seiten. Und das ist meine Aufgabe, mein Auftrag als Christ. Wenn ich Unrecht erkenne, egal von welcher Seite, egal an welcher Stelle, dann möchte ich im Rahmen meiner Möglichkeiten dafür sorgen, dass Gerechtigkeit einkehrt. Und zwar ohne Ansehen der Person.
Einmischen
Am Samstag, das Hauptthema war Einmischen, berichtete Frau Professorin Marcia Pally (Sprach- und Kulturwissenschaftlerin, Autorin) aus New York über eine gravierende und für die Zukunft entscheidende Veränderung in der amerikanischen Christenheit. In unseren Medien ist das Thema noch nicht so recht präsent, da wird evangelikal mit republikanisch gleichgesetzt: Evangelikale Christen sind politisch am rechten Rand der Gesellschaft zu finden – so wird es uns in den Nachrichten und Kolumnen präsentiert. Doch seit ein paar Jahren geschieht etwas unerhört Spannendes, erklärte Frau Pally, die das Thema im Rahmen einer Forschungsarbeit untersucht: Die amerikanischen Christen haben längst angefangen, hinzusehen und aufzustehen, sie mischen sich inzwischen ein und sorgen für soziale Gerechtigkeit, wo der Staat es nicht (mehr) leisten kann. Immer mehr Evangelikale engagieren sich für ihre Gesellschaft, verwerfen überholte Ansichten, sehen nicht mehr nur das Seelenheil sondern auch die positive Veränderung ihrer Umgebung als Auftrag Gottes. Und das hat gewaltige Auswirkungen – auch politisch. Man darf gespannt sein, was diese „neuen Evangelikalen“ in naher Zukunft an Veränderungen bewirken werden. Schon jetzt kann sich die amerikanische politische Rechte nicht mehr darauf verlassen, dass die Christen automatisch ihnen die Stimme geben werden. Und auch das ist gut so.
Im Seminarblock am Samstagnachmittag habe ich dann noch einen spannenden Vortrag von Keith Warrington (Mitarbeiter der internationalen Missionsgemeinschaft „Jugend mit einer Mission“) gehört, leider musste ich aus Termingründen vor dem Ende seines Seminars aufbrechen. Aber was ich mitbekommen habe, hat eine Beobachtung, die ich schon seit einigen Jahren mache, bestärkt und mit Fakten untermauert. Die kirchliche und gemeindliche Landschaft in Deutschland befindet sich in einem grundlegenden Wandlungsprozess. Über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, wurde das, was eigentlich anhand der biblischen Quellen als Auftrag Gottes klar definiert ist, nämlich das mit Jesus Christus angebrochene „Reich Gottes“ zu bauen und auszubreiten, auf den Aspekt der Errettung von Sünden reduziert. Es genügte, jemanden „zu Jesus zu führen“. Doch seit ein paar Jahren entdecken landauf, landab immer mehr Kirchen und Gemeinden, dass es in den biblischen Texten um etwas viel Größeres geht. Die Erlösung ist zweifellos ein Teil des Ganzen. Aber der Auftrag an uns als Christen ist so lange nicht erfüllt, wie wir den Rest unserer Aufgabe überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen.
Im Verlauf der Konferenz sagte ein Redner: „Gemeinden, die sich in ihrem Umfeld nicht sozial engagieren, die sich nicht einmischen und Ungerechtigkeit beseitigen, in welchem Bereich auch immer sie sichtbar wird, werden ganz einfach aussterben und verschwinden.“ Ich würde hinzufügen: Und es ist auch nicht schade drum.
So weit meine so kurz wie möglich zusammengefassten Eindrücke; was ich mitnehme in den Alltag. Vielleicht noch ein Wort zum Rahmen: Die gastgebende „Christusgemeinde Hohenschönhausen“ hat rundum für gute Bedingungen gesorgt, die Verpflegung war hervorragend, es fehlte nie an Getränken und Obst, die Räume waren bestens geeignet für diese Art von Konferenz. Dennoch: Ich würde mir für die nächste Konferenz wieder einen zentraleren Ort in Berlin wünschen. Und, mit Verlaub: Für meinen Geschmack wurde viel zu viel gesungen, und das in einem mir schwer erträglichen Stil. Eine christliche Konferenz muss ja keinen freikirchlich-gottesdienstlichen Charakter annehmen. Es hätte mir eine musikalische Darbietung hier und dort wohl gefallen, aber da die Plenumsveranstaltungen durch ausgedehnte „Lobpreiszeiten“ eröffnet wurden, fehlte anschließend Zeit, die im Sinne des Konferenzthemas hätte genutzt werden können. Frau Professor Pally beispielsweise hätte ich gerne die Zeit zugebilligt, ihren Vortrag auch zu Ende führen zu können. Vielleicht kann das Planungsteam der nächsten Konferenz ja für Menschen, die ausgedehnte Gebets- und Gesangszeiten schätzen, einen extra Raum einrichten?
Aber das nur am Rande – ich habe das Transforum 2012 als wichtig, richtig und persönlich sehr wertvoll erlebt und bedanke mich gerne bei Gemeinsam für Berlin und all den Mitwirkenden und Helfern für diese gelungene Konferenz.
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