In zahlreichen Kurzgeschichten und Erzählungen habe ich, das liegt in der Natur eines Autoren, auch Unfälle geschildert. Doch wenn es wirklich passiert, das Undenkbare, der Unfall mit Personenschaden, dann ist auf einmal alles anders als in einer Erzählung. Und vor allem wird es wohl ziemlich lange dauern, bis das Erlebte soweit verarbeitet ist, dass nicht diese Bilder auftauchen, wenn ich die Augen schließe…
Wir fuhren auf dem Waidmannsluster Damm in relativ dichtem Verkehr, gegen 16:30 Uhr näherten wir uns unserem Ziel, der Wohnung meines Sohnes. Dorthin waren wir eingeladen, meinen Enkel Nummer 3 erstmals zu sehen. Ich war weder abgelenkt vom Verkehrsgeschehen, noch müde, hatte keinen Alkohol genossen, fuhr mit Tempo 45 bis 48, auf jeden Fall unter der (erlaubten) 50.
In einer Erzählung liest man gelegentlich »aus heiterem Himmel«, »plötzlich« oder »unverhofft«. Einen besseren Ausdruck finde ich auch für das tatsächliche Geschehen nicht. Die Ampelanlage zeigt Grün. Plötzlich rennt ein junger Mann auf die Fahrbahn, ohne auch nur einen Blick in meine Richtung zu werfen, drei oder vier Meter vor meinem Auto. Die Vollbremsung ist ein reiner Reflex, keine Überlegung. In solchen Momenten werden Sekundenbruchteile tatsächlich zu Ewigkeiten: Ich sehe ihn auf die Fahrbahn rennen, der Fuß tritt das Bremspedal durch, das Auto wird langsamer, aber es ist schon klar, dass es nicht reichen wird. Dann der Aufprall des Körpers, das Wegschleudern, der junge Mann fliegt mehrere Meter durch die Luft vor einen entgegenkommenden BMW. Der Fahrer des BMW versucht nach rechts auszuweichen mit Vollbremsung. Der junge Mann liegt neben dem BMW. Mein Auto steht. Handbremse, Motor aus, Warnblinker – ohne Überlegung, auch Reflex.
Aussteigen. Zum Verletzten gehen. Andere Menschen sind schon bei ihm. Blut auf dem Asphalt. Der junge Mann ansprechbar, aber offensichtlich nicht ganz bei sich. Eine Dame gibt sich als Notfallmedizinerin zu erkennen und kümmert sich um den Mann. Ich weiß, dass ich mein Telefon mitgenommen habe, greife vergeblich in sämtliche Hosentaschen. Erst eine halbe Stunde später werde ich das Telefon in der Hemdtasche bemerken. Andere Menschen telefonieren bereits mit Feuerwehr und Polizei. Ich hocke neben dem Verletzten, sage »Der Notarzt ist unterwegs, bleiben Sie möglichst ruhig liegen.« Die Notfallmedizinerin bringt irgendwoher ein Handtuch, das sie unter seinen Kopf legt. Sirenen. Der Notarztwagen ist da. Platz machen für Sanitäter und Arzt…
Wie viel Zeit ist vergangen? Es scheint eine Ewigkeit zu sein, obwohl es nur etwa sieben oder acht Minuten waren. Ein zweiter Notarztwagen kommt an. Ein Sanitäter fragt mich, ob ich Hilfe brauche. Nein, ich glaube, nicht. Das erste Polizeifahrzeug ist in Sicht. Dann sind es vier, dann acht Polizeifahrzeuge. Eine Polizistin fragt mich, wie es mir geht. Ich weiß es nicht. Aber ich bin nicht verletzt. Alles wird weiträumig abgesperrt, der Verkehr umgeleitet. Dreißig Minuten nach dem Unfall ist es ruhig an der Kreuzung. Ringsherum soll, entnehme ich dem Funkverkehr der Polizei, ein Verkehrschaos herrschen, da die engen Seitenstraßen nicht für den Feierabend-Durchfahrtsverkehr geeignet sind. Aber nichts wird mehr durchgelassen, außer die Busse der BVG.
Zwei Stunden später ist dann alles aufgezeichnet, fotografiert, protokolliert. Vom Zustand des jungen Mannes ist nichts bekannt. Den Schaden an unserem Fahrzeug schätzt ein Polizist vom Verkehrsunfallkommando auf 3000 Euro. Ich betrachte die eingedrückte und verschobene Motorhaube, den eingedrückten Kühlergrill, frage mich, was wohl mit einem menschlichen Körper geschieht, wenn der Aufprall solche Schäden im Blech und Chrom hinterlässt.
Ich setzte schließlich die Fahrt fort. Ob ich fahren könne, fragen mehrere Polizisten und meine Frau. Ich weiß es nicht, aber ich will es probieren. Wenn man vom Pferd fällt, soll man wieder aufsteigen und weiter reiten…
Später zu Hause sind die Bilder immer noch da. Plötzlich ein rennender Mensch auf der Fahrbahn. Der Bremsweg wird nicht reichen. Es wird zum Aufprall kommen. Wie in Zeitlupe kommt das Unausweichliche näher.
Und die sinnlosen Gedanken: Wenn wir eine Minute früher oder eine Minute später losgefahren wären… Wenn wir am Freitag statt am Donnerstag den Besuch geplant hätten… Wenn… Wenn…
Um 21:30 Uhr ruft der Polizeioberkommissar an, der mich am Unfallort vernommen hat. Der Patient würde zur Beobachtung über Nacht im Krankenhaus bleiben, habe aber keine schweren Verletzungen, keine Brüche, keine inneren Organe beschädigt. »Der muss wohl einen Schutzengel gehabt haben«, meint der Polizist am Telefon. »Ich wollte Ihnen das nur mitteilen, damit Sie am Samstag etwas unbeschwerter in den Urlaub fahren können.«
Aufatmen. Gott sei Dank. Warum angesichts der Schäden am Fahrzeug ein menschlicher Körper ohne wirkliche Schäden aus dem Zusammenprall herausgekommen ist, bleibt mir ein Rätsel. Der Polizist hatte wohl recht mit dem Schutzengel.
Nachts wachte ich mehrmals auf, weil ich einen jungen Mann auf die Fahrbahn rennen sah. Nein – jetzt ist es nur ein Traum. Und er ist nicht schwer verletzt. Ich kann wieder einschlafen. Für eine Weile.
Es ist alles ganz anders als in einer Erzählung. Völlig anders.