Donnerstag, 23. April 2015

Weltbuchtag 5–Sabrinas Geheimnis

Der Welttag des Buches und des Urheberrechts (kurz Weltbuchtag, englisch World Book and Copyright Day) am 23. April ist seit 1995 ein von der UNESCO weltweit eingerichteter Feiertag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren.
-Wikipedia

Anlässlich des Weltbuchtages fiel mir ein, dass ich aus meinen Büchern vier Texte den geschätzten Bloglesern zur Lektüre anbieten könnte.

Und nun folgt abschießend – siehe da! – der fünfte Beitrag. Ich wollte doch Sabrina nicht in der Ecke stehen lassen, da wäre sie sicher traurig und verdient hat sie das schon gar nicht. Also hier zu guter Letzt anlässlich des Weltbuchtages aus dem Roman »Sabrinas Geheimnis« die ersten Seiten:

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PROLOG

We are all just prisoners here,
of our own device.
-The Eagles (Hotel California)

Vor rund zwei Jahren, im April 2009, hat meine Frau einen respektablen Geschäftsmann erschossen. Gezielt, gewollt, mit voller Absicht. Und das ist auch gut so.

Wenn Sie mir durch die Zeilen dieses Buches folgen möchten, werden Sie am Ende womöglich ebenfalls der Meinung sein, dass Christine wegen der drei Schüsse nicht zu tadeln ist. Es kann auch sein, dass Sie anderer Meinung sein werden, womöglich gar Anzeige gegen uns erstatten möchten. Das, liebe Leser, bleibt Ihnen unbenommen.
Mein Name ist Jörgen Maurer, meine Frau heißt Christine Maurer, geborene Dietrichs. Unser Sohn Viktor war 15 Jahre alt und wie ich Augenzeuge, als der Geschäftsmann neben seinem Auto von den Schüssen getroffen zu Boden sank. Wir leben in Hamburg, in einer komfortablen Villa. Das alles können Sie getrost der Polizei erzählen. Fragen Sie nach Kommissar Meinhardt, der wird Ihre Aussagen protokollieren und dann, kaum sind Sie wieder aus dem Präsidium verschwunden, die Aufzeichnungen in seinem Reißwolf verschwinden lassen.
Sie selbst werden voraussichtlich unbehelligt weiterleben dürfen. Wenn Sie es dabei belassen, ausgesagt zu haben. Falls Sie jedoch weiter nachbohren, wäre ich mir da nicht so sicher.

Doch das bleibt ohnehin abzuwarten. Vielleicht haben Sie ja auch kein Mitleid mit dem toten Geschäftsmann. Erst sollen Sie die Geschichte meines – unseres Lebens kennenlernen. Sie dürfen dabei Sabrinas Geheimnis erfahren. So wie ich es erfahren habe. Stück für Stück.

Alles fing damit an, dass ich auf dem Weg vom Büro nach Hause im für den Berliner Stadtverkehr üblichen Stau stand.

 

KAPITEL 1

It ain’t why why why.
It just is!
-Van Morrison (Summertime in England)

Der Volkswagen hatte mehr als dreißig Jahre seinen Dienst getan. Er erfuhr ganz offensichtlich regelmäßige Pflege, sein Lack glänzte so tiefschwarz in der Nachmittagssonne, dass man hätte meinen können, das Fahrzeug sei gerade vom Band gerollt. Von Weitem betrachtet war der Käfer, der die Fahrbahn zur Hälfte blockierte, ein Schmuckstück.
Als ich an jenem 17. Juli, der alles änderte, um 16:48 Uhr die Unfallstelle erreichte, ging mir der Gedanke so schlimm kann es gar nicht sein durch den Kopf. In meiner Aufregung hatte ich das kurze Telefonat wohl missverstanden.

Ich war auf dem Heimweg vom Büro gewesen, als mir einfiel, dass wir vergessen hatten, ein paar Flaschen guten Wein für den Abend zu kaufen. Wir erwarteten Gäste und eigentlich war alles für einen gemütlichen Abend besorgt – bis auf das passende Getränk.
Der Verkehr war, etwas anderes konnte man um diese Zeit in Berlin auch kaum erwarten, zähflüssig, stand immer wieder still. Zwei Polizeifahrzeuge und ein Notarztwagen hatten sich vor einer viertel Stunde auf der engen Straße am Stau, in dem ich mich mit zahlreichen anderen Verkehrsteilnehmern befand, vorbei gequält. Es ging nur sehr mühsam voran und ich hoffte, dass die Behinderungen bald aus dem Weg geräumt sein würden, damit noch etwas Zeit blieb, um Sabrina zu Hause den Tisch decken zu helfen und das Essen vorzubereiten, bevor unser Besuch kam.
Im Autoradio lief Red Red Wine von UB 40. Ich summte mit, und dabei kam mir der Gedanke an den vergessenen Wein, also rief ich Sabrinas Mobiltelefon an. Es mochte ja immerhin sein, dass sie das Versäumte bereits erledigt hatte. Die praktischen Aspekte des Lebens hatte sie besser im Griff als ich.
Buchumschlag VorderseiteAnstelle meiner Frau antwortete eine mir unbekannte männliche Stimme: »Ja bitte?«
Verwählt haben konnte ich mich nicht, da ich die Speichertaste benutzt hatte.
»Wer ist da«, fragte ich, »und wie kommen Sie an das Telefon meiner Frau?«
Der Mann behauptete, Polizist zu sein. Er fragte, wo ich mich gerade befände. Ich erklärte etwas irritiert, dass ich auf dem Weg nach Hause gerade die Osdorfer Straße passiert habe und bestand darauf, zu erfahren, was der Polizist, wenn er wirklich einer war, mit dem Telefon meiner Frau zu schaffen hatte.
Ich ahnte in jenem Moment bereits, dass ich eine schlechte Nachricht bekommen würde. Wenn die Polizei den Anruf an einem privaten Mobiltelefon beantwortet, dann sicher nicht, um über das Wetter oder die Verkehrslage zu plaudern. Kennen Sie das Gefühl, wenn einem an einem warmen Sommertag plötzlich eiskalt wird? Wenn man nicht weiß, wohin der schneller werdende Herzschlag und der Schweißfilm auf der Stirn im nächsten Augenblick führen werden? Ob man in zwei Minuten noch Herr seiner Sinne oder seines Lebens sein wird? So fühlte ich mich, während ich zuhörte.
Ein Verkehrsunfall sei geschehen, erklärte der Polizist, er habe das Telefon aus der Handtasche meiner Frau genommen, als es läutete. Der Unfall sei an der Kreuzung Ostpreußendamm und Wismarer Straße geschehen. Mehr könne er mir am Telefon nicht sagen.
Ich war nicht mehr weit von der Stelle entfernt. Ohne den unfallbedingten Stau hätte ich zwei Minuten gebraucht, doch an jenem 17. Juli dauerte es unerträgliche elf Minuten, in denen Hoffnung und Angst um die Oberhand kämpften.
Eine Verwechslung.
Warum hat die Polizei dann Sabrinas Telefon?
Nur eine Schramme, meinetwegen ein gebrochenes Bein. Sie kann nicht schwer verletzt sein.
Warum nimmt sie dann den Anruf nicht selbst entgegen? Sie stirbt oder ist schon tot.
Unsinn, warum sollte sie tot sein. Außerdem kann das gleiche Schicksal nicht zwei Mal den gleichen Menschen treffen.
Ach nein? Wo steht das geschrieben?
Der Blitz schlägt nicht zwei Mal in den gleichen Baum. So schlimm ist es nicht. Gleich wird sich alles aufklären …

Ich hielt hinter einem Polizeifahrzeug an. Die Miene des Polizisten, der auf mein Fahrzeug zu kam, ließ meine Hoffnung bedingungslos vor der Befürchtung kapitulieren.
Doch, es ist schlimm. Noch viel schlimmer.
Zögernd öffnete ich die Türe und stieg aus.
»Herr März?« Der Mann hielt die Brieftasche meiner Frau in der Hand und verglich mein Gesicht mit dem Foto, das sie dort aufbewahrte.
»Ja«, sagte ich. Meine Stimme schien einem Fremden zu gehören. »Ich bin Roland März. Was – wo ist meine Frau?«
»Es tut mir Leid«, murmelte er, »es sieht nicht gut aus.«
Aus der Nähe sah ich jetzt, dass der Volkswagen an der rechten Front eingedrückt war. Auf der Motorhaube klebte etwas, was ich in vielen Träumen der nächsten Monate wieder und wieder sehen würde: Blut und ein paar Klumpen einer grauen Masse.
Das kann irgendetwas sein. Vielleicht Lehm von einem Feldweg.
Allerdings hatte ich noch nie Lehm gesehen, der mich so an Gehirnmasse denken ließ. Ansonsten war das Auto sauber wie ein Ausstellungsstück im Verkehrsmuseum.
Der Notarztwagen, der sich vorhin am Stau vorbei in Richtung Unfallstelle gequält hatte, stand auf der Fahrbahn, die hinteren Türen waren offen. Gestalten beugten sich über einen Körper. Ich erkannte Sabrinas neues Kleid, und noch etwas fiel mir auf, aber das drang nicht bis in mein Bewusstsein vor – es sollte noch Monate dauern, bis mir dieses Detail gewärtig wurde. Dort auf der Straße hatte ich nur einen Gedanken: Ich will zu Sabrina!
Man ließ mich nicht in den Krankenwagen. Mit sanfter Gewalt hielt mich ein Verkehrspolizist zurück, redete beruhigend auf mich ein, appellierte an meine Vernunft, versuchte, mich zu der Einsicht zu bewegen, dass ich mir den Anblick besser ersparte. Ich widerstrebte, wollte seine Hand von meinem Arm abschütteln. Schließlich sagte mir, da ich für rücksichtsvoll formulierte Argumente nicht zugänglich war, ein dem Polizisten zur Hilfe kommender Arzt unumwunden, dass der Kopf meiner Frau zwischen das Auto und den Glascontainer am Straßenrand geraten war.
»Wollen Sie sich das wirklich anschauen?«, fragte er. »Sie würden ihre Frau nicht erkennen.«
Das will ich nicht. Das kann ich nicht. Das ist überhaupt nicht wahr, das kann nicht Sabrina sein. Der Blitz schlägt doch nicht …
»Aber die …« fing ich an, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte. Mein Unterbewusstsein hatte etwas aufgeschnappt, ein dringendes, ein wichtiges, ein entscheidendes Detail, behielt es aber für sich wie ein trotziges Kind den letzten Keks in der Blechdose.
Ich setzte neu an: »Die … aber die – ich meine – es stimmt nicht – ich …«
Der Arzt fragte mich, ob ich ein Beruhigungsmittel wollte, Ich lehnte ab. Ich wollte Sabrina zurückhaben, und wenn das unmöglich war, wollte ich gar nichts mehr.
Die Türen des Notarztwagens wurden geschlossen und das Fahrzeug entfernte sich. Ich blickte hinterher, war versucht, dem Wagen nachzurennen. Als er außer Sicht war, schaute ich mich um und wusste plötzlich nicht, warum ich hier auf der Straße stand. Der Polizist brachte mich zu einem Streifenwagen und nötigte mich, ein paar Minuten Platz zu nehmen.

Irgendwie kam ich zu Hause an, ich kann mich bis heute nicht recht erinnern, was geschah, nachdem die Türen des Notarztwagens geschlossen wurden und ich weinend in dem Polizeifahrzeug Platz genommen hatte. Ich erwartete, Sabrina in der Wohnung zu finden, doch da wartete nur der festlich gedeckte Tisch. Da war niemand, der das Essen vorbereitete oder auftrug. Niemand, der mir ein fröhliches »wie war dein Tag?« entgegen rief. Im Schlafzimmer lag eine Kollektion von Kleidungsstücken auf dem Bett, wie immer, wenn sie sich schönmachen wollte. Sie beklagte sich in solchen Momenten, dass sie nichts anzuziehen hätte, was ich ihr nicht glaubte, denn sie war noch nie nackt in die Philharmonie gegangen oder hatte unbekleidet Gästen die Tür geöffnet. Aber an diesem Abend war da keine Sabrina, die etwas überstreifte und mich fragte: »Sieht das gut aus?«
Meine Antworten waren in solchen Fällen unerheblich gewesen, da ich, wie Sabrina zu sagen pflegte, »sowieso nicht objektiv« sei. Möglicherweise hatte sie recht, denn wie könnte ein Mann je objektiv urteilen, wenn es um das Aussehen der geliebten Frau geht?
Ich setzte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und starrte die Visitenkarte an, die mir ein Polizist gegeben hatte. Die Adresse und Telefonnummer eines Psychologen waren darauf verzeichnet.
Als bald darauf die ahnungslosen Abendgäste klingelten, reagierte ich nicht. Ich saß im Wohnzimmer und starrte auf die Karte. Es klingelte erneut.
Sabrina wird schon aufmachen. Ich bleibe hier sitzen.

Die Zeitungsnotiz im Lokalteil der Berliner Morgenpost am nächsten Tag war kurz und nüchtern: »Der flüchtige Fahrer eines VW-Käfer befuhr die Wismarer Straße in Richtung Ostpreußendamm. Die Ampel an der Kreuzung zeigte nach Angaben von Zeugen bereits mehrere Sekunden Rot für den Fahrzeugverkehr. Der Pkw erfasste eine 32-jährige Fußgängerin, die bei Grün die Straße überqueren wollte. Die Frau erlitt schwerste Kopfverletzungen und starb noch am Unfallort. Während sich die Augenzeugen um die Verletzte kümmerten, entfernte sich der Fahrer unbemerkt. Die Polizei bittet Zeugen des Unfalls, die den flüchtigen Fahrer beschreiben können, sich zu melden.«
Viel mehr erfuhr ich auch später nicht in meinen Gesprächen mit den ermittelnden Beamten. Der Fahrer des alten Käfers war mit ziemlich hoher Geschwindigkeit durch die Kurve vor der Kreuzung gefahren, den Spuren nach zu urteilen kam das Fahrzeug ins Schleudern und der Mann riss das Steuer nach rechts, zum Straßenrand. Sabrina habe das Fahrzeug kommen sehen, sagten einige Zeugen, und versucht, auszuweichen. Sie hatte es nicht geschafft. Sie prallte auf die Motorhaube, rutschte nach vorne ab. Ihr Kopf wurde zwischen dem Auto und dem massiven Sammelbehälter für Glasflaschen am Straßenrand zerquetscht.
Die Beschreibungen des Fahrers durch die Unfallzeugen waren so unzureichend, dass man nicht einmal ein Phantombild zustande brachte. Er sei »in jugendlichem Alter« gewesen, habe »längere Haare« gehabt – das war so ziemlich das Einzige, was die Befragten übereinstimmend aussagten. Einige meinten, ein Nasenpiercing gesehen zu haben. Andere hielten ihn für einen Türken oder Araber. Aber niemand konnte verwertbare Angaben manchen, die bei der Fahndung geholfen hätten.
Der VW war bereits am Vortag als gestohlen gemeldet worden. Die Untersuchungen des Fahrzeugs ergaben, dass die Reifen nicht mehr die vorgeschriebene Profiltiefe hatten, aber ob das Geschehen nun wegen der Reifen, wegen der überhöhten Geschwindigkeit oder aus sonstigen Gründen passiert war, interessierte mich nicht, denn es änderte nichts an den Folgen. Sabrinas Leben war ausgelöscht worden. Man erklärte mir, dass aufgrund der Verletzungen der Tod sofort eingetreten sei, dass meine Frau zumindest keine Schmerzen hatte erleiden müssen. Ein gewisser Trost lag in diesem Wissen, aber das machte den Verlust auch nicht leichter. Es war so unnötig und sinnlos, dass wegen eines Jugendlichen und seiner Raserei mit einem gestohlenen, nicht verkehrstüchtigen Auto ihr Leben enden musste.
Oder wegen der vergessenen Weinflaschen – denn deswegen war Sabrina noch einmal zum Supermarkt gegangen. Auf dem Küchentisch zu Hause hatte ihre Notiz gelegen, die letzten paar Buchstaben, die sie in ihrem Leben geschrieben hatte: Ich bin schnell Wein kaufen und gleich zurück. Ich liebe Dich! Sabrina.
Je länger ich grübelte, desto sicherer war ich, dass ich Schuld war. Ein paar Tage zuvor hatte ich eigentlich unsere Weinvorräte auffüllen sollen. Die Weinhandlung lag auf dem Weg vom Büro nach Hause, ich musste noch nicht einmal einen Umweg fahren. Doch der kleine Parkplatz war voll, ich war müde und so verschob ich den Einkauf.
Wäre ich nicht so bequem gewesen, hätte ich ein paar Straßen entfernt geparkt und den Einkauf erledigt, würde Sabrina noch leben.
Ich wünschte, es wäre ihr nicht eingefallen, dass der Wein fehlte. Ich wünschte, sie wäre eine Minute früher losgegangen, oder eine später. Ich wünschte, man könnte wie in dem Film Lola rennt noch mal von vorne anfangen, wenn die Ereignisse eine schreckliche Wendung nehmen. Doch dies war die Realität, kein Film, alles Wünschen und Grübeln war vergebens. Mein Verstand kümmerte sich allerdings herzlich wenig um die Vernunft. Immer wieder meinte ich, in der leeren Wohnung ihre Schritte zu hören. Morgens wachte ich auf und wunderte mich darüber, dass Sabrina schon vor mir aufgestanden war, denn ihre Betthälfte war leer. Beim Einkaufen legte ich ihr Lieblingsduschgel in den Korb…
Die Visitenkarte des Psychologen hatte ich weggeworfen. Ich wollte allein mit meinem Schmerz fertig werden. Mein Leben irgendwie weiterführen. Oder auch nicht. Manchmal zweifelte ich daran, dass sich die Mühe lohnen würde.
Ich konnte in den folgenden Wochen nicht an jener Kreuzung vorüber fahren, ohne Sabrinas leblosen Körper zwischen Glascontainer und Volkswagen vor mir zu sehen. Wenn man mich zu ihr gelassen hätte, wenn ich sie hätte betrachten, berühren dürfen, statt nur einen kurzen Blick auf die Gestalt im Notarztwagen zu erhaschen, der man ein grünes Tuch über den Kopf gelegt hatte – wäre meine Fantasie weniger eigenwillig gewesen? Hätte ich mehr Gewissheit gehabt, dass ich mich mitten im wahren Leben und nicht in einem bösen Traum befand? Aber ich hatte keine Gelegenheit bekommen, einen letzten, Abschied nehmenden Blick auf meine Frau zu werfen. Ich hatte nichts weiter als den Blick in den Notarztwagen aus etlichen Metern Entfernnung: Ihre schlanken Beine, das neue, hellblaue Seidenkleid mit dem dezenten Design aus cremefarbenen Blumen, ihre blutverschmierte Hand, die seltsam verdreht herabhing, das grüne Tuch über ihrem Kopf. Soweit noch ein Kopf vorhanden sein mochte.
Gelegentlich suchte mich bei meinen Grübeleien ein Gefühl heim, das ich schon am Unfallort gespürt hatte. Da ist noch etwas. Da ist ein Detail. Das könnte alles ändern.
Das Detail, wenn es denn eines geben sollte, blieb mir jedoch verborgen. Und zu ändern war ja nun nichts mehr.
Ich wehrte mich gegen diese Bilder, lange Zeit vergebens. Manchmal bedauerte ich es, den Psychologen nicht wenigstens einmal aufgesucht zu haben. Hätte er meine Fassungslosigkeit über die Sinnlosigkeit des Unglücks mindern können? Ein Unfalltod ergibt selbstverständlich niemals einen Sinn. Das Schicksal, blind wie es nun einmal ist, schlägt zu, und dann bleibt nichts als die Illusion, das Ganze sei ein Albtraum, aus dem man bald erwachen wird. Allerdings wacht man nie auf.

Der Blitz war doch ein zweites Mal in den gleichen Baum eingeschlagen. Wieder hatte ich meine Ehefrau durch einen – das Schicksal mochte blind sein, liebte aber offensichtlich die grausame Ironie – Verkehrsunfall verloren.

 

KAPITEL 2

And I know it aches and your heart it breaks,
you can only take so much.
-U2 (Walk On)

Ich weiß, liebe Leser, dass Sie neugierig auf Sabrinas Geheimnis sind, und bisher haben Sie so wenig Ahnung davon, wie ich nach diesem Unfall ahnte, was noch auf mich zukommen würde. Aber erlauben Sie mir, an dieser Stelle von Esther zu erzählen. Auch mit Sabrina hatte ich immer wieder über sie gesprochen, und einiges, was Sie später in diesem Buch lesen werden, ist leichter einzuordnen, wenn Sie jetzt Esther ein wenig kennen lernen.
Ach so, was ich eigentlich schon im Prolog sagen wollte, will ich hier nachholen: Wenn ich Sie mit Leser anrede, dann meine ich die Damen genauso wie die Herren. Ich finde dieses unsägliche »LeserInnen« so albern wie die ständige Doppelung »Leserinnen und Leser«. Ich hoffe, Sie können mir das nachsehen. Doch das sei nur am Rande angemerkt.

Esther, meine erste Frau, war am 23. Dezember vor elf Jahren auf dem Weg von der Bushaltestelle zu unserer Wohnung verunglückt und am ersten Weihnachtsfeiertag »ihren Verletzungen erlegen«, wie es in der Pressenotiz hieß. Eine harmlose Umschreibung für das, was ich im Krankenhaus gesehen hatte.
Ein Lastkraftwagen, mit Streugut für die Straßendienste in Berlin beladen, schleuderte wegen der Glätte, geriet auf den Gehweg und klemmte Esther zwischen Fahrzeug und Hauswand ein, verwandelte in einem Augenblick ihren schmächtigen Körper in eine Figur aus einem minderwertigen Horrorfilm. Die Beine waren unversehrt, der Kopf ebenfalls, dazwischen gab es eine Masse aus Knochensplittern, zerrissenen, gequetschten Organen sowie Rost und Schmutz von Fahrzeug und Hausmauer.
Als ich sie im Krankenhaus sah, erkannte ich ihr Gesicht kaum wieder. Schläuche und Drähte führten zu Geräten, deren Funktion ich nicht verstand. Ich begriff lediglich, dass dieser Körper nur von den Maschinen auf der Intensivstation am Leben gehalten wurde, und als der Stationsarzt mir am frühen Weihnachtsmorgen bestätigte, dass Chancen für eine Besserung nicht bestünden, dass darüber hinaus seit dem Unfall keine Hirntätigkeit mehr messbar gewesen war, gab ich mein Einverständnis, die Geräte abzuschalten. Ich hielt Esthers Hand, während die Monitore still und dunkel wurden.

Verwandte, Freunde und Bekannte hatten uns als Traumpaar bezeichnet, obwohl – oder gerade – weil wir harte Kämpfe hatten durchstehen müssen und lange Geduld mit der Familie meiner Frau vonnöten gewesen war. Esther war Jüdin, ihrer Verwandtschaft eine familiäre Verbindung mit einem Deutschen zunächst unvorstellbar. Angesichts der Geschichte meines Volkes, unserer historischen Schuld, konnte ich in gewisser Weise verstehen, dass den Eltern ein anderer Partner für ihre Tochter lieber gewesen wäre.
Wir hatten uns in Frankreich kennengelernt. Ich besuchte in Paris ein zweiwöchiges Seminar über die unterschiedlichen Erfahrungen mit teamorientierten Führungsstilen in Europa. Esther hatte keine weite Anreise, sie lebte nur drei Straßen vom Tagungshotel entfernt. Sie war als Vertreterin der Firma Renault zu dem Kolloquium gesandt worden.
Wir unterhielten uns in den Pausen und fanden bald Gefallen aneinander. Sie war von zarter Gestalt, ihre schwarzen, lockigen Haare trug sie offen. Sie kleidete sich ausgesucht elegant und bewies hervorragende Umgangsformen. Zwei Grübchen über den Mundwinkeln zeugten von ihrer heiteren Natur.
Mich beeindruckten ihre fundierten und selbstsicheren Beiträge bei den Diskussionen. Sie scheute nicht davor zurück, dem Dozenten aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen zu widersprechen, wenn sie anderer Meinung war, zu abweichenden Schlüssen kam als dieser Theoretiker. Esther konnte das, was sie zu den Podiumsrunden beitrug, durch Praxisbeispiele illustrieren. Ich beobachtete sie, war fasziniert und gab mir Mühe, sie nicht aufdringlich anzustarren.
Am vierten Abend besichtigten wir eine Ausstellung zeitgenössischer Malerei und saßen anschließend einige Stunden in einem Café, genossen ausgezeichneten Rotwein zu einem leichten Salat – und verliebten uns. Sie sprach recht gutes Deutsch, da sie von früher Jugend an eine Vorliebe für deutsche Literatur entwickelt hatte. Gelegentlich musste ich schmunzeln, wenn Ausdrucksweisen, die bei Thomas Mann noch ganz natürlich gewirkt hatten, im heutigen Sprachgebrauch aber weitgehend verschwunden waren, ihre Sätze schmückten.
Das Wochenende nach dem Seminar verbrachten wir gemeinsam. Meinen Rückflug hatte ich von Freitag auf Sonntag umgebucht und das Hotelzimmer stand mir zur Verfügung, da es noch nicht reserviert war. In Berlin wartete niemand auf mich.
Esther zeigte mir Paris, allerdings hatte ich eher Augen für sie als für Gebäude, Plätze und Parks. Ein paar Stunden vor meiner Abreise stellte mich Esther ihrer Familie vor. Bis zu diesem Moment war ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass es ein durch die Abstammung verursachtes Problem geben konnte; Esther allerdings auch nicht, denn sonst wäre der Besuch sicher besser vorbereitet oder auf später verschoben worden. Zwar hatte sie mir beiläufig erzählt, sie sei jüdischer Abstammung, doch war dies für mich nicht bedeutsamer als wenn ihre Vorfahren Schweden oder Tschechen gewesen wären.
Auf dem Weg zu ihren Eltern erzählte sie mir, was sie von ihren Großeltern wusste. Beide waren in Deutschland geboren und aufgewachsen. Trotz warnender Stimmen vor dem Unheil, das die Nazis bringen würden, waren sie geblieben, bis sie aus dem Land, das sie als Heimat verstanden und liebten, nach Warschau deportiert und dort in ein Getto gesperrt wurden. Esthers Großvater, ein begabter Musiker, spielte im Getto unbeirrt weiter Musik auch von deutschen Komponisten. Bis zu dem Tag, an dem er in einen Waggon getrieben wurde, glaubte er daran, dass der Nazispuk schnell vorübergehen, dass das Land, dem Schiller, Goethe und Thomas Mann entstammten, in dem Bach, Brahms und Beethoven unsterbliche Musik geschaffen hatten, zur Zivilisation zurückfinden musste.
Seine Frau sah ihn nie wieder. Als sie einige Tage nach dem Abtransport der Männer aus dem Getto fliehen konnte, wusste sie noch nicht, dass sie schwanger war. Esthers Mutter kam in einem Versteck zur Welt, das eine Bauernfamilie in ihrer Scheune für eine Handvoll Flüchtlinge eingerichtet hatte.
Esthers Großmutter hatte nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden gesetzt. Auch ihren Eltern war eine Reise nach Deutschland unvorstellbar. Alles, was »vor Hitler« gewesen war, Literatur und Musik vor allem, hatte an Wertschätzung nichts eingebüßt, an der deutschen Gegenwart bestand hingegen keinerlei Interesse.
Esthers Vater war Literaturkritiker, schrieb für die großen französischen Zeitungen, hatte auch mehrere Bücher veröffentlicht. Er ignorierte alle Werke, die von deutschen Schriftstellern der Gegenwart stammten. Er hatte eine einzige Ausnahme gemacht, als Marcel Reich-Ranickis »Mein Leben« erschienen war. Er lobte das Buch in einem Artikel, allerdings mit der Anmerkung, dass Reich-Ranicki kein Deutscher, sondern Jude sei, der eigentlich nicht in Deutschland leben sollte.
Seine Frau gab eine kleine aber feine Literaturgazette heraus, in der unbekannte Dichter ihre ersten literarischen Gehversuche der Öffentlichkeit vorstellen konnten. Es wurden Autoren aus vielen Ländern gedruckt, jedoch kein einziger Deutscher.
Esther hatte sich wie ihre Eltern zunächst mit der Literatur beschäftigt. Doch nach einigen Semestern Literaturwissenschaft wandte sie sich dann der Betriebswirtschaft, insbesondere dem Personalwesen, zu. Die Literatur schien ihr, wie sie mir schon bei unserem ersten Kennenlernen während des Seminars erzählt hatte, keine ausreichend sichere finanzielle Grundlage für das Leben zu bieten. Vater und Mutter verdienten allerdings gut damit – so mochte bei Esthers Entscheidung durchaus auch das Abnabeln vom Elternhaus eine Rolle gespielt haben, ein Ausbrechen aus dem Zwang der Familientradition sein. Mir fiel Katja Manns berühmter Satz »Es muss in dieser Familie einen Menschen geben, der nicht schreibt!« dazu ein. Esther wollte ihren eigenen Weg finden und gehen, in der Industrie. Die Liebe zur Literatur gab sie ja damit nicht auf.
Als ich an jenem Sonntag im Wohnzimmer von Esthers Familie in der Rue Raphael saß, spürte ich die Ablehnung fast körperlich in der Atmosphäre. Obgleich ich, 1955 geboren, die sogenannte Gnade der späten Geburt besaß, war ich als Angehöriger der Nation, die dem Volk meiner Gastgeber unaussprechliches Leid angetan hatte, nicht willkommen.
Esthers Großmutter wirkte körperlich gebrechlich, aber geistig hellwach. Die Unterhaltung verlief höflich und reserviert; ich hatte es schließlich mit gebildeten Menschen zu tun, deren Umgangsformen keinen Raum für Taktlosigkeit ließen – nicht einmal einem Deutschen gegenüber. Esther und ich waren noch kein Paar, sondern lediglich seit ein paar Tagen befreundet; doch bereits diese Freundschaft wurde, unausgesprochen aber deutlich spürbar, als ungehörig empfunden. Wie konntest du nur einen Deutschen ins Wohnzimmer unserer Familie bringen schienen die Blicke zu sagen, die Esthers Mutter ihrer Tochter zuwarf.
Dieser erste Besuch war kurz, was ich nicht bedauerte. Wir verließen die Wohnung nach zwei Tassen Kaffee und einem Stück Kuchen. Bis zu meinem Abflug blieben noch einige Stunden. Wir setzten uns wieder in das Café, in dem wir unseren ersten gemeinsamen Abend verbracht hatten.
»Meine Eltern und Großmutter waren nicht besonders liebenswert, nicht wahr?«, fragte sie und sah mich mit besorgtem Blick an.
»Stimmt. Sie haben uns beide behandelt wie ungebetene Fremde – nun ja, ich bin ja immerhin ein Fremder. Dass ich so unerwünscht war, hatte ich allerdings nicht vermutet.«
Sie runzelte die Stirn, suchte offenbar nach einer Möglichkeit, mir das Verhalten ihrer Familie plausibel zu machen.
»Es ist«, fing sie an, »doch ein größeres Problem, als ich gedacht hatte. Es gibt wohl zwei Dinge, die meiner Familie nicht recht sein werden, falls aus uns ein Paar wird. Ich hätte übrigens nichts dagegen.«
Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und reichte sie Esther. Dann nahm ich mir selbst eine. Wir rauchten einen Moment schweigend.
»Ich glaube, ich weiß, welches die beiden Probleme sind«, sagte ich schließlich.
»Dann erzähl. Die Kugel ist bei dir!«
Ich lachte, möglicherweise etwas zu laut für die gediegene Umgebung. Esther blickte mich irritiert an.
»Ich lache nicht über dich«, beeilte ich mich zu erklären, »sondern über diesen köstlichen Ausdruck. Ich weiß schon, was du meinst. Die Kugel ist bei mir. Herrlich.«
»Sagt man das nicht?«
»Nein, das sagt man nicht.«
»Aber man sagt das in Französisch.«
»Mag sein, so gut ist meine Sprachkenntnis nicht. Aber in Deutsch sagt man so was wie du bist dran oder du bist am Ball oder na dann schieß los.«
»Ich will nicht, dass du schießt. Ich bin für den Frieden!«
Wir amüsierten uns eine Weile über eigentümliche Metaphern in unseren Sprachen, bevor wir zum Thema zurückkamen.
Beim zweiten Glas Wein nahm ich den Faden wieder auf: »Also, ich gehe davon aus, dass ein Problem in der Tatsache liegt, dass ich Deutscher bin. Wäre ich Spanier, Amerikaner, von mir aus auch Eskimo, dann wäre die erste Hürde gar nicht vorhanden.«
»Das heißt Inuit, nicht Eskimo«, belehrte sie mich. »Eskimo ist nämlich ein abfälliger Ausdruck, der soviel bedeutet wie »jemand, der rohes Fleisch isst«. Inuit dagegen entstammt der Sprache des Volkes und heißt einfach »wahrer Mensch«. Aber deine Vermutung stimmt. Und was ist das zweite Problem?«

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Soweit der Auszug aus dem Buch – wer weiterlesen möchte, darf bei Amazon einkaufen gehen: [Autorenseite Günter J. Matthia

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Weltbuchtag 4–Es gibt kein Unmöglich!

Der Welttag des Buches und des Urheberrechts (kurz Weltbuchtag, englisch World Book and Copyright Day) am 23. April ist seit 1995 ein von der UNESCO weltweit eingerichteter Feiertag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren.
-Wikipedia

Anlässlich des Weltbuchtages fiel mir ein, dass ich aus meinen Büchern vier Texte den geschätzten Bloglesern zur Lektüre anbieten könnte.

Hier nun der vierte Beitrag – ein Auszug aus dem autobiografischen Roman »Es gibt kein Unmöglich!«, der kürzlich in überarbeiteter vierter Auflage auf den Markt zurückgekehrt ist:

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4 – Let It Bleed

We all need someone we can lean on
And if you want it, you can lean on me
~The Rolling Stones (Let It Bleed)

Johnnys Bedarf an Haschisch und gelegentlich einem Trip wuchs. Er war nicht sofort körperlich abhängig, aber er suchte in immer kürzeren Abständen den Rauschzustand. Es hatte mit einem Joint zum Wochenende begonnen, Trips nur bei besonderen Gelegenheiten, aber sein entschlossener Vorsatz, stets die Kontrolle über die Drogen zu behalten, hatte keinen dauerhaften Bestand.

Im Frühjahr 1969 war seine Großmutter verstorben und sein Großvater zog wieder nach Berlin, um dort den Ruhestand zu genießen. Die Gemeinde bekam einen neuen Pastor, der aus Hamburg kam, Emanuel Erolts. Er war ein sehr väterlicher und geduldiger Mann, mit dem Johnny eigentlich gut zurechtkam. Aber er besuchte, da der Großvater nicht mehr dort zu finden war, immer seltener Veranstaltungen der Kirche. Bei einem ungerechtfertigten Vorwurf kam es zum Bruch. Irgendjemand hatte in den Minuten nach dem Gottesdienst den Opferkasten, in den die Gläubigen ihre Spenden steckten, aufgebrochen und geleert. Da es ein simpler Sperrholzbriefkasten mit einem lächerlichen Schloss war, konnte das unbemerkt geschehen.

Es war einer der seltenen Tage gewesen, an denen Johnny zum Gottesdienst gegangen war. Er hatte das Geld nicht gestohlen, was er sachlich und ruhig erklärte. Der neue Pastor und drei Älteste saßen ihm gegenüber, Johnny kam sich vor wie vor einem Tribunal. Sie begnügten sich nicht damit, dass Johnny sagte, er sei es nicht gewesen. Sie wollten genau wissen, wo er zur fraglichen Zeit nach der Versammlung gewesen war, ob es Zeugen dafür gebe. Es war offensichtlich, dass sie ihm nicht glaubten. Johnny beteuerte mehrmals, nichts davon zu wissen, und dann wurde er stinksauer. Sie wollten ihm nicht glauben, er war das schwarze Schaf, der Sündenbock, und das machte ihn wütend. Er war geschickt im »Organisieren« von Geld oder Sachen, die man zu Geld machen konnte, aber das hier war er nicht gewesen. Vor dem Geld einer Kirche hatte er immer noch Respekt.

»Verdammt noch mal! Ich habe das Geld nicht geklaut! Aber ihr wollt es mir anhängen, weil es so einfach ist!« Verbittert rannte er hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Es war sein letzter Besuch im Gemeindehaus für lange Zeit.

Es war auch das vorläufige Ende von Summerthunder in der ursprünglichen Besetzung, denn weder Hanna noch Robin durften weiter mitmachen in der Band dessen, der den Opferkasten ausgeraubt hatte. Der Täter wurde nie gefunden und so blieb die Sache an Johnny hängen.

<>< ><>

Buchumschlag VorderseiteIm Herbst und Winter 1968 waren die Drogen für ihn überwiegend kostenlos gewesen. Später hatte Sigi, der stets für Nachschub sorgte, ihn ohne Vorwurf, nur zum darüber nachdenken, darauf aufmerksam gemacht, dass er auf Kosten der anderen rauchte und ins Traumland reiste. Ein Joint kostete ungefähr 20 Mark, ein Trip kam je nach Angebot und Nachfrage auf dem Mark auf bis zu 100 DM.

Susanne schlug vor, dass Johnny wie Sigi als Dealer das nötige Geld verdienen sollte. Sie erklärten ihm, worauf man achten musste, damit man weder über das Ohr gehauen noch erwischt wurde. Johnny stieg in das Geschäft ein. Sigi machte ihn mit dem Großhändler bekannt, der einmal wöchentlich aus München mit einem schicken BMW kam. Treffpunkt war der Gasthof Köhler, was Johnny von Anfang an dumm fand. Jeder, auch die Polizei, wusste Bescheid über die Kundschaft und die heimlichen Geschäfte. Dass die Razzien bisher nie erfolgreich gewesen waren, hielt Johnny für reine Glückssache.

Der Großhändler, Pusher-George genannt, überließ Johnny Drogen im Wert von knapp 5000 DM in Kommission, da Sigi für ihn bürgte. Er erklärte: »Nächste Woche bezahlst du das, was du verkauft hast, und gibst mir deine neue Bestellung. Ganz einfach. Was du selbst verbrauchst, ist nicht billiger, das sind sowieso schon Großhandelspreise.«

»Ich bin doch nicht blöd, natürlich bezahle ich. Aber wir treffen uns nicht hier, das ist mir zu heiß.«

»Hör mal, ich habe hier acht Leute, die aufpassen, ob Bullen in die Nähe kommen. Das System funktioniert.«

»Bis es mal schief geht. Nee, hier nicht. Pass auf, ich bin am nächsten Samstag um fünfzehn Uhr im Rathauscafé. Da findest du mich.«

George nickte. Einen Versuch würde er machen. Vielleicht wurde der Gasthof Köhler wirklich langsam etwas zu heiß.

»Okay, ich schaue rein. Ist das direkt am Marktplatz?«

Johnny erklärte ihm die Lage. Das Rathauscafé war ein richtiges Alte-Leute-Etablissement, mit Plüschmöbeln, Stofftapete, schweren Tischdecken und kostbarem Geschirr. Und es lag nur zwei Minuten zu Fuß von der Polizeiwache entfernt.

Johnny und Elfi hatten kürzlich das Café für sich entdeckt, es gab zwar ein paar erstaunte Blicke, da die beiden wirklich nicht aussahen, als seien sie über 60 Jahre alt, aber sie wurden zuvorkommend bedient und fanden es schick, in einem Omacafé zu sitzen. Der größte Vorteil im Vergleich zum Köhler war jedoch, dass man durch die großen Scheiben sehr gut und rechtzeitig sehen konnte, wer sich dem Lokal näherte, und dass es einen Notausgang neben den Toiletten gab, der auf eine Altstadtgasse führte. Die Tür war zwar verschlossen, aber der Schlüssel steckte von innen – sonst wäre das als Notausgang auch nicht durchgegangen.

Die Schule lief nur noch nebenbei. In Deutsch und Englisch hatte Johnny Einsen, ansonsten sah es traurig aus mit seinem Notendurchschnitt. Er drehte gerade eine Ehrenrunde, weil er das letzte Klassenziel nicht erreicht hatte. Es interessierte ihn nicht, ob er es nun erreichen würde. Seine Mutter hatte die Kontrolle über ihn längst verloren. Vorwürfe, Strafen, Belohnungen, ernste Gespräche, Ablenkungen, sie hatte alles ausprobiert. Es nützte nichts.

Da der Großvater wieder in Berlin war und der lose Kontakt zur Gemeindejugend nach dem Vorwurf des Kollektendiebstahls abgerissen war, suchte Johnny seinen Halt und seine Orientierung anderweitig. Er hatte, wie damals in Berlin, eine Gruppe um sich geschart, aber es war kein Kinder-Abenteuerclub mehr. Thomas und Elfi gehörten dazu, Sascha, ein zweiter Thomas und Rainer.

Sascha war der Sohn eines Psychologen und davon überzeugt, dass sein Vater die größte Macke von allen hatte. Er konnte herrliche Geschichten erzählen über die Anfälle seines Vaters, die seinen Worten nach auf Zustände geistiger Umnachtung schließen ließen. Sascha selbst war allerdings auch gelegentlich etwas merkwürdig, zugleich ungeheuer faszinierend. Johnny hatte beschlossen, sich genauer mit den Hintergründen seines Verhaltens zu beschäftigen.

Thomas der Zweite war Arztsohn, Einzelkind, reich, verwöhnt, dabei jedoch kein bisschen hochnäsig. Er war jederzeit zu jedem Unsinn bereit, sie trafen sich oft bei ihm zu Hause, da er ein riesiges Zimmer mit eigenem Fernseher und hervorragender HiFi-Anlage hatte.

Rainer kam von einem Dorf vor der Stadt, seine Eltern waren Bauern. Er konnte hart zuschlagen, weshalb ihn Johnny, der selbst auch nicht zimperlich war, sozusagen als Bodyguard engagiert hatte. Rainer hatte eine 12jährige Schwester, Sabine, wegen der er gelernt hatte, zu kämpfen. Er war seit Jahren der Beschützer des Mädchens.

Die sechs nannten sich Carnifex, das lateinische Wort für Henker. Sie ließen sich, was Thomas der Zweite problemlos finanzieren konnte, Lederjacken herstellen, auf deren Rücken eine Krake mit Totenkopfgesicht ihre Tentakel ausstreckte, der Schriftzug Carnifex zog sich oberhalb des Bildes im Halbkreis über die Schulterpartie. Unter dem Oktopus stand »Wir kriegen euch alle!«

Sie trugen scharfe Fahrtenmesser am Gürtel, Sascha und Rainer besaßen sogenannte Totschläger, schwere Schlagwaffen, die einem Faustschlag verheerende Wirkung verleihen konnten. Es machte Carnifex ungeheuren Spaß, auf dem Schulhof oder in der Fußgängerzone zu patrouillieren wie eine Handvoll Sheriffs.

Irgendwann bot ihnen ein Mädchen, dreizehn Jahre alt, Geld dafür an, dass Carnifex sie nach Hause begleitete, weil sie auf dem Weg regelmäßig von vier älteren Jungen belästigt wurde. Sascha und Johnny übernahmen den Auftrag. Mit vier Kerlen konnten sie zu zweit spielend fertig werden.

Sie folgten dem Mädchen in gehörigem Abstand und schlenderten auf die Jungen zu, die in einem Hauseingang auf ihr Opfer gewartet hatten. Zunächst taten sie, als hätten sie nichts mit der Sache zu tun und wollten vorbeigehen, dann, als sie auf gleicher Höhe waren, schlugen sie ohne Vorwarnung zu. Ein fairer Kampf war es nicht. Sascha und Johnny traten zuerst in den Unterleib und ließen den fast erwachsenen Jugendlichen keine Atempause. Nur etwa zwei Minuten später war alles vorbei, zwei von den Jungen hatten gebrochene Arme, alle vier bluteten aus Platzwunden, lagen am Boden und wehrten sich nicht mehr.

Sascha grinste auf sie hinunter. »In Zukunft lasst ihr -« Er drehte sich zu ihrem Schützling um. »Wie heißt du eigentlich?«

»Ulrike.« Sie war weiß im Gesicht, einen solch durchschlagenden Einsatz hatte sie sich wohl nicht vorgestellt.

»In Zukunft lasst ihr Ulrike in Ruhe. Sonst werden wir euch wirklich verprügeln. Das hier war nur eine Kostprobe.«

Sie nahmen Ulrike in die Mitte und gingen langsam weiter.

Sie kramte einen Fünfzigmarkschein hervor und reichte ihn Johnny.

Er schüttelte den Kopf. »Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass wir uns bezahlen lassen. Steck dein Geld ein und vergiss alles, was passiert ist. Du hast uns oder die Kerle nie getroffen.«

»Danke. Äh, war das denn nötig, sie dermaßen fertig zu machen?« fragte sie zaghaft. »Die sehen wirklich ziemlich kaputt aus.«

»Wir waren zwei gegen vier, was soll’s. Aber wenn dich jemand fragt, hast du uns nicht gekannt, okay? Wir sind dir zufällig zur Hilfe gekommen und dann wieder verschwunden.«

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Es fragte nie jemand. Die vier hatten der kurz darauf eingetroffenen Polizei etwas von Rockern erzählt, die mit Motorrädern abgehauen seien. Ulrike hatte ihre Ruhe, und Carnifex stieg im Ansehen der jüngeren Jugendlichen ringsum.

Es hatte Spaß gemacht. Johnny war zufrieden. Spaß war wichtig. Aus Spaß hatten sie begonnen, in Kaufhäusern und kleinen Geschäften einzukaufen, ohne zu bezahlen. Sie waren geschickt und trauten sich immer mehr zu.

Zwei Wochen nach der Prügelei lernte Johnny Rainers Schwester Sabine kennen. Rainer hatte ihn eingeladen, sie fuhren mit dem Zug hinaus aufs Dorf und Johnny sah Sabine beim Mittagessen in der Bauernstube.

Sie war schmächtig und für ein Mädchen vom Land ungewöhnlich blass, trug zwei geflochtene Zöpfe, ein Dirndlkleid und weiße Kniestrümpfe. Sie sah aus wie aus einem Album des vorigen Jahrhunderts, so brav, so unschuldig, so kindlich. Johnny musterte sie und versuchte, nicht allzu auffällig auf ihre Brust zu starren, die zwei noch kaum sichtbare Wölbungen zeigte. Ihre haselnussbraunen Augen ruhten wiederholt auf ihm, ein Lächeln, bei dem ihm schwindelig vor Glück wurde, ließ ihn unruhig auf der Holzbank hin und her rutschen.

Sabines linker Arm hing kraftlos herab, eine Behinderung, mit der sie geboren worden war. Rainer schnitt ihr das Fleisch auf dem Teller in Stücke. Sie kam ansonsten gut zurecht, solange sie nur einen Arm brauchte.

Sie erledigten ihre Hausaufgaben, dann beschlossen sie, nach Memmingen ins Hallenbad zu gehen. Johnny wollte nicht extra vorher nach Hause, eine von Rainers Badehosen passte ihm, Handtücher und Seife waren auch vorhanden.

Im Zug saß er neben der Angebeteten und griff zaghaft nach ihrer Hand. Sie zog sie nicht weg, sondern lehnte sich sogar an ihn. Rainer saß ihnen gegenüber und schmunzelte vor sich hin. Das hatte er nicht geahnt, als er seinen Freund einlud. Aber es war okay.

»Kannst du eigentlich schwimmen, mit dem gelähmten Arm?«, fragte Johnny.

Rainer blickte erschrocken hinüber und hielt gespannt die Luft an, er wusste, dass seine Schwester sauer werden konnte, wenn man sie auf ihre Behinderung ansprach. Das sanfte und schüchterne Mädchen konnte sich in solchen Momenten zur Furie entwickeln.

Doch sie sah Johnny verliebt in die Augen und fragte: »Rettest du mich, wenn ich untergehe?«

»Darauf kannst du dich verlassen.«

Es zeigte sich, dass sie eine gute Schwimmerin war. Es sah etwas merkwürdig aus, wie sie mit nur einem Arm ruderte, aber es klappte. Sie wartete, bis Johnny in ihrer Nähe war, als sie sicher sein konnte, dass er sie beobachtete, riss sie entsetzt die Augen auf, wedelte mit dem gesunden Arm in der Luft herum und gurgelte, schon halb unter Wasser: »Ich versinke!«

Er tauchte hinab und nahm sie in die Arme. Sie ließ sich locker treiben, als sei sie besinnungslos, und er brachte sie zurück an die Oberfläche.

»Mein Retter«, hauchte sie dankbar und ließ sich wieder in die Tiefe sinken. Johnny tauchte hinterher. Sie sahen sich unter Wasser grinsend an. Sabine zog ihn mit dem gesunden Arm an sich und drückte ihre Lippen auf seine.

Es blieb bei drei Unterwasserküssen an diesem Nachmittag. So eng, wie sie sich umschlungen hielten, musste sie fühlen, dass Johnny äußerst erregt war, aber beide ignorierten es.

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Sascha stieg anstelle von Robin bei Summerthunder ein. Das Keyboard blieb unbesetzt. Da Sascha das ganze Repertoire erst lernen musste, traf er sich häufig mit Johnny zum Üben, meist bei Sascha, weil sie dort nachmittags die ganze Wohnung für sich hatten und niemanden störten.

In Saschas Zimmer gab es ein riesiges Bücherregal. Während Sascha die Gitarren stimmte, sah sich Johnny beim ersten Besuch die Buchtitel an. Es waren ausnahmslos mystische und okkulte Werke.

»Liest du das Zeug?«

»Sonst stünde es nicht hier, oder?«

»Was um Himmels Willen ist das sechste und siebte Buch Mose, ich dachte, es gibt nur fünf.«

»Es gibt eine Menge Bücher, die kaum jemand kennt. Nur die Eingeweihten.«

»Aha. Und du bist einer davon.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ich kann dir gerne mal was ausleihen. Aleister Crowley ist interessant.«

»Ich schau mal rein. Welches ist es?«

Sascha zog einen Band aus dem Regal. »Keine leichte Lektüre«, meinte er.

»Ich hasse leichte Lektüre.«

Das stimmte, Johnny las Heinrich Böll, Günther Grass, Wolfgang Borchert und Klassiker von Goethe bis Dostojewski. Sein Deutschlehrer hatte ihn vor Jahren auf den Geschmack gebracht.

Er steckte das Buch in seine Schultasche und sie spielten zwei Stunden Gitarre, rauchten Gras und Zigaretten, tranken dazu Cola mit einem Schuss Wodka.

Später erzählte Johnny begeistert von Sabine.

»Wie alt ist die? Hast du wirklich zwölf gesagt?« fragte Sascha.

»Ja, richtig gehört.«

Der Freund schüttelte den Kopf. »Da ist aber garantiert noch nicht viel dran an ihr. Was willst du mit einem solchen Kind?«

»Sie ist meine Freundin, wo liegt das Problem?«

Sascha überlegte, ob Johnny tatsächlich so naiv war oder nur so tat. »Hast du schon mal das Wort Sex gehört?«

»Ach du liebe Güte. Daran denke ich überhaupt nicht. Wir haben uns geküsst, das war alles.«

»Und dein kleiner Freund in der Hose ist ganz still und ruhig geblieben, ja?«

»Natürlich nicht. Ich bin ja nicht impotent.«

»Aber sie ist zwölf.«

»Sascha, ob du es glaubst oder nicht, ich bilde mir ein, verliebt sein zu können, ohne gleich an Sex zu denken. Oder nein – denken ja, klar, aber man muss ja nicht gleich zur Praxis schreiten.«

Saschas Miene sagte deutlich, dass er sich genau das nicht vorstellen konnte. Er nickte jedoch und erklärte: »Klar, wenn du meinst. Die Liebe ist ein seltsames Spiel.«

Trotz des Aufklärungsunterrichtes, den mit vielen Umschreibungen und sichtlichem Unbehagen ein Pfarrer in der Klasse durchgeführt hatte – oder vielleicht wegen der verschrobenen Umschreibungen – hatte Johnny noch keine klare Idee von dem, was zwischen den Geschlechtern bei der sexuellen Vereinigung ablief. Zu Hause war das kein Thema, alles unterhalb der Gürtellinie war tabu. Im Kreis der Dreizehn- und Vierzehnjährigen kicherte man über Andeutungen und Witze, aber Johnny hatte, wie die meisten Freunde, noch nicht mal eine konkrete Vorstellung, wie ein unbekleideter Frauenkörper aussehen mochte. Sascha schien das zu spüren. Er fragte: »Hast du überhaupt eine Ahnung, wovon wir reden?«

Johnny wurde rot, gab aber ehrlich zu, dass er so gut wie nichts wusste. Schließlich war Sascha sein Freund, und Sascha lachte ihn tatsächlich nicht aus. Aber er ließ seinem Humor freien Lauf.

»Also, da gibt es die Biene, die fliegt von Blume zu Blume, um den Nektar zu sammeln«, erklärte er fröhlich.

»Ah ja. Das ist also Sex.«

»Genau. Dir werden demnächst Flügel wachsen und die paarungsbereiten Mädchen stehen dann auf der Wiese herum. Warte mal.«

Er verschwand und kam mit einem Buch zurück, in dem an freizügigen Fotos kein Mangel herrschte. Die Sprache war Schwedisch, sie konnten kein Wort entziffern, aber das war auch nicht notwendig, um in allen Details zu studieren, was die abgebildeten Paare trieben.

Damals waren selbst für Illustrierte wie den Stern Frauen in Bikinis schon so ziemlich das Gewagteste, was man sich als Titelbild zu drucken traute. Es gab freizügigere Zeitschriften, aber die hingen, zumindest in Memmingen, nicht in den Auslagen.

Johnny verschlang die Bilder in der schwedischen Fibel mit den Augen, Sascha lächelte verständnisvoll. Wenn sein Vater auch eine Macke hatte: dieses Thema war nie ein Geheimnis gewesen. Er wusste schon lange, wie Frauen aussahen und wie Sex funktionierte.

»Wenn es in deiner Hose zu eng wird, tu dir keinen Zwang an«, meinte er trocken.

Johnny war viel zu perplex, um anders als mit einem knallroten Kopf reagieren zu können. Es war peinlich eng in seiner Hose geworden, aber darüber sprach man doch nicht.

Sascha bemerkte seine Verwirrung. »Sag mal, ich glaube, ich habe das total falsch eingeschätzt. Wie du mit Elfi auf der Bühne die Sexmaschine spielst, ohne rot zu werden, das passt gar nicht zu dem, wie du jetzt aussiehst. Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr in Verlegenheit gebracht. War nicht meine Absicht.«

»Nein, ist schon okay. Ich habe nur echt keine Ahnung. Das hier -«, er deutete auf das Buch, »das ist also das, was in den Schlafzimmern passiert?«

»Mein Gott, du singst darüber und weißt es nicht? Squeeze me baby, until the juice runs down my legs. Was, meinst du, soll denn damit gemeint sein?«

»Na ja, – also – ich habe nie überlegt, was es genau bedeutet.«

»Und I'm going red and my tongue's getting tired…« Sascha blätterte ein paar Seiten um und zeigte dann auf ein Paar beim Oralsex. »Das sieht in der Praxis so aus.«

Johnny schaute sich die Bilder an und verstand endlich, worum es in Let’s spent the night together bezüglich der Zunge ging.

Sascha schüttelte erheitert den Kopf. »Aber du weißt wenigstens, was du selbst mit deiner Hosenmaus anfangen kannst, wenn sie munter wird.«

Natürlich hatte er die Masturbation schon längst entdeckt und es verging kaum ein Tag ohne. Aber darüber reden? Kurz angebunden sagte er nur: »Ja. Das weiß ich.«

Sie ließen das Thema fallen. Johnny war froh darüber, er empfand es als ungeheuer peinlich. Er hatte bisher bezüglich Sabine nicht weiter gedacht als an die köstlichen Küsse und das Kribbeln im Bauch in ihrer Gegenwart. Die Fotos in dem schwedischen Aufklärungsbuch, falls es denn ein Aufklärungsbuch war, öffneten die Tür in eine Welt, die er noch nicht gedanklich betreten hatte. Susannes Angebot, ihm das hier beizubringen, hatte er genauso wenig wirklich verstanden wie die Texte mancher Lieder, die sie sangen. Sein Interesse für das Thema war einfach noch nicht wach – oder noch nicht erwachsen genug – gewesen. Er fand es auf einmal faszinierend, genau wie die magischen Bücher, die Sascha besaß.

»Darf ich das ausleihen? Ich verstecke es garantiert so gut, dass meine Mutter es nicht findet, und in den nächsten Tagen bringe ich es zurück.«

»Klar. Lass dich nicht erwischen. Und vielleicht willst du den Aleister Crowley auch mitnehmen?«

Johnny steckte beide Bücher ein. Den Bildband wollte er in Ruhe und ungestört allein noch einmal durchschauen, das andere Buch schien ebenfalls etwas zu sein, was man möglichst geheim hielt.

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Blick ins BuchSascha wurde ihm der vertraute Freund, vor dem man keine Geheimnisse haben muss. Sie trafen sich fast täglich, um die Nachmittage und Abende zusammen zu verbringen, meist zum Musizieren. Die Band war nach wie vor das Wichtigste, aber auch wenn keine Probe anstand, verbrachten sie viel Zeit zusammen.

Johnny machte es Sascha nie zum Vorwurf, dass er ihn in den Okkultismus hineinbrachte. Der Junge hatte es nicht besser gewusst, er war damit großgeworden und hielt alles für spannend, aber völlig ungefährlich.

In den Sommermonaten 1969 hatte Johnny die meisten Bücher aus Saschas Regal über magische Rituale und okkulte Bünde gelesen und wollte ausprobieren, ob das alles funktionierte. Er verwarf die ängstliche Stimme im Inneren aus längst vergangenen Zeiten in der Kinderstunde der Kirche und hatte schließlich keine Bedenken, um Mitternacht mit seinem Freund zusammen beim Kerzenschein einem Ritual zu folgen, dessen Verlauf sie aus einem der Bücher entnommen hatten. Umgeben von magischen Symbolen unterschrieben beide mit ihrem Blut einen Pakt mit dem Teufel:

Diese Seele gehört dem Satan. Dem Leib darf er nichts antun, dem Leben muss er Erfolg verschaffen. Die Wünsche wird er erfüllen, so sie den Gesetzen des Bundes nicht entgegenstehen. Sein ist von diesem Tage an die Seele.

Sie setzten ihre Namen unter die identischen Exemplare des Vertrages, die sie mit einer echten Feder mit echtem Blut auf echtes Pergament geschrieben hatten. Dann wurden die Blätter gefaltet, bis sie in die kleinen Amulette passten, die Sascha bei einem speziellen Versand bestellt hatte. Es waren goldene, ovale Medaillons, die so fest schlossen, dass kein Wasser eindringen konnte. Man trug sie an einer ebenfalls goldenen Kette um den Hals.

Es passierte nichts, absolut nichts Ungewöhnliches in dieser Nacht. Keine Geister, die irgendwo polterten, nicht einmal die Kerzen flackerten geheimnisvoll. Keiner der Jungen fühlte sich verändert, keine Erschütterung, Kälte, Wärme … sie hatten irgendetwas erwartet, aber es geschah nichts. Gemäß den Vorschriften in dem magischen Buch war über die Zeremonie unbedingt Stillschweigen zu bewahren. Die beiden Freunde waren sich einig, dass sie dieses Geheimnis hüten wollten.

Das andere Geheimnis war die gemeinsame Selbstbefriedigung. Johnny vermied das Thema Sex in Gesprächen nach wie vor und hatte keinerlei Ambitionen, es einmal mit einem Mädchen zu versuchen. Er war sicher, dass er nicht schwul war, denn es zog ihn nichts zu anderen Jungen oder zu Sascha hin, sie genossen nur ab und zu gemeinsam ihr Tun und schauten einander gerne zu. Das brauchte niemand zu wissen, und niemand wusste es. Es hatte sich so ergeben eines Morgens, als Sascha ein neues Buch mit noch interessanteren Fotos ausgepackt hatte.

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Sabine sah er regelmäßig an den Wochenenden und gelegentlich während der Woche. Meist kam sie nach Memmingen, da auf ihrem Dorf noch weniger los war als in der verschlafenen Kleinstadt. Sie gingen ins Kino, machten Ausflüge, hörten Musik, redeten. Es zeigte sich, dass ihnen die Küsse und die Umarmungen vollständig genügten. Sie waren stundenlang allein und unbeobachtet, aber nie kamen sie auf die Idee, jetzt schon mehr als gute Freunde und Kameraden zu sein.

Johnny begleitete sie manchmal zu ihrem Physiotherapeuten, wenn sie die schmerzhaften Übungen machen musste, die wenig Erfolg für den gelähmten Arm zeigten. Der Therapeut erklärte, dass es noch Jahre dauern könne, bis Fortschritte erkennbar sein würden. Der Arm würde nie wie ein gesunder funktionieren, aber es gab Hoffnung, dass er nicht auf Dauer nur tot an ihr herabhängen musste.

Sie war sehr tapfer, aber oft liefen ihr die Tränen über das Gesicht und sie war dankbar für die Schulter, an der sie weinen konnte, wenn die Schmerzen zu grässlich wurden. Verbissen trainierte sie, seit sie zurückdenken konnte. Zu ihrem Geburtstag im August konnte sie stolz vorführen, dass es ihr bereits gelang, den Arm einige Zentimeter zu heben.

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Er war nicht in ihrer Nähe gewesen, als sie ertrank, und das quälte ihn am meisten. Er war innerlich überzeugt, dass er sie hätte retten können. Sie hätte retten müssen. Er hatte es ihr einst, am Nachmittag der ersten Begegnung, versprochen.

Sie war weit hinausgeschwommen und das Wasser des Weihers war trüb. Rainer und einige Freunde waren in Ufernähe. Sabine bekam vermutlich einen Krampf in ihrem gesunden Arm. Ihr Kopf sank unter Wasser. Verzweifelt strampelte sie sich hoch, schnappte nach Luft und schrie. Einige Gäste, die auf der Terrasse des Cafés am Ufer saßen, hörten ihre Hilferufe und sahen unentschlossen hinüber, nur zwei Männer sprangen prompt direkt vom Kaffeetisch ins Wasser, aber sie fanden den schmalen Körper zu spät. Rainer war ebenfalls sofort hinausgeschwommen. Sie tauchten und suchten, der Notarztwagen kam an, sie hatten sie immer noch nicht gefunden. Man konnte einfach nichts sehen in dem trüben Wasser. Man konnte nur tauchen und blind tasten. Die Feuerwehr kam mit Tauchern und Schlauchbooten. Einer der Männer aus dem Café fand den leblosen Körper schließlich nach über 30 Minuten. Alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.

Normalerweise wäre Johnny dabei gewesen, sie waren im Sommer oft in Buxheim, einem kleinen Ort vor Memmingen, saßen dort bei Cola oder Bier auf der Terrasse, nachdem sie sich im Wasser vergnügt hatten. Aber ausgerechnet an diesem Tag war er unterwegs gewesen, um neue Kunden zu finden.

»Das ist nicht fair, verdammt noch mal!«, schrie er, als Rainer ihm erzählte, was passiert war. »Warum ausgerechnet Sabine?«

Beide Jungen weinten und konnten einander keinen Trost spenden. Sie begriffen nicht, warum ausgerechnet das Mädchen ertrinken musste, das beide so liebten. Rainer hatte seine Schwester ebenso vergöttert wie Johnny seine erste Freundin. Rainer war ihr von Anfang an der starke Beschützer und Helfer gewesen, den sie brauchte, um sich gegen die Hänseleien der Kinder durchzusetzen. Wenn es um Sabine ging, kannte Rainer keine Gnade, er hatte so lange und so heftig Kinder verprügelt, die Sabine ärgerten, bis sie alle kapiert hatten, dass sie das besser bleiben ließen.

Bei ihrer Beerdigung stand Johnny neben Rainer, als hätte er zur Familie gehört. Die Worte des katholischen Priesters fand er albern und unpassend. Er konnte nicht erkennen, wo der »weise Ratschluss« liegen sollte, von dem der Mann redete, und er sah überhaupt keine Berechtigung, dass es »Gott in seiner Güte gefallen hatte, dieses junge Leben zu sich zu rufen«.

Bitter sah Johnny in die vielen leeren Gesichter. Von Sabines Schule waren jede Menge Kinder gekommen. Das halbe Dorf war versammelt. Es schien kein weiser Ratschluss erkennbar in dem Geschehen, für niemanden der Anwesenden. Warum durfte der Priester an Sabines Grab solchen Unsinn verzapfen? Das Wort Güte angesichts des Ertrinkens einer Dreizehnjährigen in den Mund zu nehmen … Johnny musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Am liebsten wäre er mit seinen Fäusten auf den Priester losgegangen.

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Soweit der Auszug aus dem Buch – wer weiterlesen möchte, darf bei Amazon einkaufen gehen: [Autorenseite Günter J. Matthia

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Weltbuchtag 3–Neuland

Der Welttag des Buches und des Urheberrechts (kurz Weltbuchtag, englisch World Book and Copyright Day) am 23. April ist seit 1995 ein von der UNESCO weltweit eingerichteter Feiertag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren.
-Wikipedia

Anlässlich des Weltbuchtages fiel mir ein, dass ich aus meinen Büchern vier Texte den geschätzten Bloglesern zur Lektüre anbieten könnte.

Als dritter Text folgt hier nun zwei Geschichten, die in dem Buch »Neuland« zu finden sind. »Neuland« ist eine Sammlung von kürzeren und längeren Erzählungen ganz verschiedener Art. Die Unterschiedlichkeit wird anhand dieser beiden Texte wenigstens etwas deutlich:

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Der Vogelfreund

Ich habe nichts daran auszusetzen, dass die Vögel fressen, was beim Säen auf den Weg fällt, denn auf dem Weg kann sowieso niemand etwas ernten. Der sandige Pfad wird täglich von vielen Menschen begangen, die zwischen unserem Dorf und dem Nachbarort unterwegs sind. Die Samenkörner werden entweder von solchen Passanten zertreten, oder die Vögel haben etwas davon, nämlich Nahrung für sich und womöglich Futter für ihre Jungen im Nest. Die Vögel beeilen sich immer, vor irgendwelchen Wanderern zur Stelle zu sein.
Mein Bruder, ein Geizhals wie er noch nicht einmal im Buche steht, hält mich für verschwenderisch, verdächtigt mich sogar mitunter, absichtlich etwas von dem kostbaren Saatgut für die Vögel hinzuwerfen. Er hat damit inzwischen sogar Recht. Vor ein paar Jahren war es noch reine Unachtsamkeit von mir, aber jetzt lasse ich ganz bewusst ein paar Körner hier und ein paar Körner dort für die hungrigen gefiederten Geschöpfe fallen. Schon um meinem Bruder mit seinem Geiz nicht nachzueifern.

Buchumschlag VorderseiteIch säe noch so, wie unsere Vorfahren seit undenklichen Zeiten gesät haben. Die Hand greift in den Leinenbeutel, den ich mir umgebunden habe, dann wird der Same mit tausendfach geübtem Schwung im Halbbogen großzügig auf die Erde verteilt. Nun liegt mein Feld am Fuß des einzigen Berges weit und breit, so dass beim Säen am Rand auch die eine oder andere Handvoll Samen auf dem felsigen Boden landet, der dann zum Abhang wird. Die Saat dort geht immer früher auf als die auf dem tiefen Boden, allerdings sorgt die Sonne dann bald dafür, dass die Halme verdorren, noch bevor irgendwelche Frucht zu erwarten wäre.

Natürlich hat mein Bruder auch das bemerkt und mich deswegen gescholten. Nur weil er drei Jahre älter ist, hat er mir aber dennoch nichts zu sagen, denn erwachsen sind wir schließlich beide. Es wäre jedoch vergebliche Liebesmüh, ihm diese Verschwendung am Rande des Berges zu erklären. Dabei ist die Sache recht einfach, wenn man sie nur verstehen will. Die trockenen Halme sind für die Vögel ganz hervorragend geeignetes Nistmaterial. An so einer Vogelwohnung ist ja immer etwas auszubessern, nachzupolstern, aufzuhübschen. Sollen die Vögel das etwa mit Material aus den Dornenhecken versuchen, die mein Feld von dem meines Bruders abgrenzen? Das Ergebnis wäre recht unbehaglich für meine gefiederten Freunde, nehme ich an.

In diesen Dornenhecken lebt eine erstaunliche Vielfalt von Tieren. Mäuse, Igel, massenhaft Insekten … - und einige Vögel, denn die bauen gerne ihre Nester in die Dornenhecke, damit die hungrigen Katzen, die übrigens meinem Bruder gehören, nicht an den Nachwuchs kommen, wenn die Eltern auf Nahrungssuche sind. Also ist es ja nur logisch, dass ich beim Säen an der Hecke nicht sonderlich vorsichtig bin, damit da nichts zwischen die Dornen fällt. Die Dornen ersticken die Saat, klare Sache, aber einiges davon holen sich die Mäuse, und über die erstickten Halme, die ein paar Zentimeter gewachsen sind, freuen sich wiederum die kleinen Nestbaumeister.

Wenn man meinem Bruder zuhört, dann verschwende ich mein ganzes Saatgut. Er neigt eben immer zum Übertreiben. Ich wäre ja inzwischen so verarmt wie er, wenn er recht hätte. Er sät immer sehr sparsam, man könnte fast meinen, dass er einzelne Körner aus seinem Beutel holt und fallen lässt, in genau berechnetem Abstand. Er bestreitet das, aber auf seinem Feld sieht es im Herbst immer ziemlich traurig aus. Na ja.

Meine unvorsichtig ausgestreute Saat fällt zum großen Teil auf gutes Land. Und wenn alles reif ist, ernte ich an einigen Stellen hundertfach, an anderen sechzigfach, und an den trockenen Stellen zum Berg hin immerhin noch dreißigfach. Obwohl die Vögel so viel abbekommen haben.

Das alles habe ich neulich einem durchreisenden Mann erzählt, der sehr aufmerksam zugehört hat. Ein freundlicher Mann, er war in Begleitung einer ganzen Schar von Schülern oder Nachfolgern durch unser Dorf gekommen. Er muss wohl eine Berühmtheit sein, aber so genau kenne ich mich da nicht aus. Ich bin ja nur ein Bauer.

Später hat er dann meine Geschichte einer Volksmenge unten am See erzählt. Etwas kürzer, soweit ich weiß. Ich war nicht dabei, man hat mir nur davon berichtet. Am Schluss soll er hinzugefügt haben: »Wer Ohren hat, der höre!«

Ich fand ihn nett, den Mann.

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Mädchen vom Land

Ich sehe es noch heute vor mir, wie sie in ihrem ramponierten Ford Capri auf der Landstraße heranrollte, hinter meinem alten Käfer anhielt und ausstieg. Ihre Füße steckten in unglaublichen Schuhen, die Sohlen mochten gut und gerne 10 Zentimeter hoch sein. »Wie kann man mit so etwas Auto fahren, geschweige denn laufen?«, dachte ich.
Ich habe nie herausgefunden, warum wir uns ausgerechnet an diesem einzigartigen Ort trafen, aber es war richtig so. Keine Menschen außer uns weit und breit, links und rechts der Straße Maisfelder kurz vor der Ernte.
»Probleme?«, fragte sie.
»Kein Benzin mehr.«
»Hmm hmm.«
Es war die Zeit vor der Erfindung der mobilen Telefone. Die Zeit vor den Navigationsgeräten, die den Weg zur nächsten Tankstelle weisen würden. Die Zeit vor der Hektik und der Angst in der Welt.
Sie nickte und öffnete mir die Beifahrertüre. Ich stieg ein und sie nahm hinter dem Lenkrad Platz. Der Ford roch nach Blumen und Haschisch. Am Rückspiegel baumelten Plüschwürfel. Sie ließ den Motor an und wir fuhren an meinem vertrockneten VW vorbei ins Irgendwo.

Wir verließen Bayern und bei Anbruch der Dunkelheit ließ sie das Fahrzeug kurz vor Stuttgart bei einer Scheune ausrollen.
»Die Scheinwerfer sind kaputt.«
»Okay«, sagte ich, »besser als kein Benzin im Tank.«
Wir schliefen im Heu, ihre Haut war zart und weich.

In der Stadt am nächsten Morgen ließ sie mich auf dem Parkplatz am Hauptbahnhof zurück, um ein Geschäft abzuwickeln. Ich wäre ihr fast gefolgt, aber ich hatte keine Lust, mir eine Kugel einzufangen.
Auf dem Rückweg kamen die Berge bereits in Sicht, als sie fragte: »Hast du Geld bei dir?«
»Zwanzig Mark, ungefähr.«
»Das reicht.«
Die gewundene Landstraße mündet in ein Dorf, ein Dörflein. Kirche, ein paar Bauernhäuser, ein Kramladen, an dessen Tür »Geschlossen« stand und zwei Zapfsäulen vor einer Bretterbude.
Sie hielt an und ich zapfte Benzin, während sie eine Toilette suchen ging. Als die Preisanzeige 19 Mark erreicht hatte, hängte ich den Schlauch wieder ein und ging in die schäbige Hütte, um zu bezahlen. Es war niemand da. Auf der Theke stand ein Pappschild: »Bin gleich zurück, bitte warten.«
Sie kam herein. »Kein Klo«, sagte sie, »und kein Mensch weit und breit.«
»Ich müsste auch mal…«
Sie öffnete eine kleine Tür hinter der Theke. Tatsächlich war dort ein Abort untergebracht. Während sie sich erleichterte, schaute ich mich ratlos um. Die Kasse war offen und leer. Neben der Eingangstüre stand ein Display mit Tageszeitungen vom Vortag sowie ein paar gängigen Zeitschriften. Ein kleiner Kühlschrank barg drei Wasserflaschen und ein angebissenes Wurstbrot auf einem Pappteller.
Sie kam zurück und meinte: »Da drin stinkt es jetzt.«
»Macht nix. Ich kann nicht mehr warten.«
Ich ging pinkeln. Als ich in den Verkaufsraum zurückkam, sah ich durch die Scheibe, dass sie das Auto volltankte. Die zwanzig Mark steckten noch in meiner Tasche.
»Wir fahren gleich los, steig schon ein«, sagte sie, »mir ist hier unheimlich.«

»Nach Italien«, antwortete sie, als ich eine Stunde später fragte, wohin wir eigentlich unterwegs waren. Ihr Lächeln ließ die Zähne zwischen ihre Lippen wie Perlen im Licht der untergehenden Sonne schimmern.
»Schön«, antwortete ich, »Italien kenne ich noch nicht.«
Sie sang mit der Musik, die aus den Lautsprechern kam, nachdem sie eine Cassette eingeführt hatte. »There is a rose in Spanish Harlem…«
Sie hatte dem schwarzen Rhythmus tief in ihrer Seele eine Heimat geschaffen.

Wir hielten wenig später auf einem Waldparkplatz an. Es wurde zu dunkel, um ohne Scheinwerfer zu fahren. Kein Unterschlupf war in Sicht, aber die Nacht schickte sich an, lau zu werden. Ein Wegweiser versprach einen Bergsee in 1,5 Kilometer Entfernung.
Sie verschloss den Ford Capri und wir folgten dem Pfad. Sie hatte ihre hohen Schuhe gegen zerschlissene Sandaletten getauscht und wirkte nun schmächtig.
Eine Weile schwammen wir, schliefen dann am Ufer im Gras. Ihre Haut war zart und weich.

Wir überquerten die Alpen und fuhren Richtung Neapel. Sie wählte grundsätzlich Landstraßen und gelegentlich Feldwege. Die italienische Grenze hatten wir auf einer staubigen Straße voller Schlaglöcher passiert. Das Benzin ging wieder zur Neige. »Longostagno« stand auf einem verwitterten Ortschild. Zwei Kilometer außerhalb des Dorfes bog sie in einen Feldweg ein, der zu einem Gehöft führte.
Eine Frau sah uns zu, wie wir eine Staubwolke hinter uns herziehend vor das Haus rollten. Sie hatte ihre roten Haare zu einem Zopf zusammengebunden und war damit beschäftigt, Wäsche aufzuhängen.
Sie stellte mir die Frau vor: »Das ist Ruby.«
»Henry ist nicht hier«, sagte Ruby, »aber ihr könnt hereinkommen. Er ist bald zurück.«
»Ich bin Wolf«, sagte ich.
Ruby lächelte. »Ich würde gerne mit euch fahren, zurück nach Hause, aber na ja, einstweilen…«
Wir traten ein.
»Ein Bier, Wolf?« fragte Ruby.
Ich nickte.
»Und du, Melissa?«
»Auch eins.«
Jetzt wusste ich endlich, wie sie hieß. Und sie kannte meinen Namen. Es war bisher nicht notwendig gewesen, diese Informationen auszutauschen.
Ruby stellte drei Flaschen Bier auf den Tisch, wir stießen an und sie sagte: »Willkommen im Land der lebenden Toten.«
Ich spürte ein gebrochenes Herz.
»Sogar die Treffen für unsere Tauschgeschäfte werden hier inzwischen ziemlich korrupt«, meinte Ruby.
Melissa zog ein Briefchen aus der Jeanstasche und legte es vor Ruby auf den Küchentisch. »50 Gramm, wie immer«, erklärte sie.
Melissa nickte. »Henry tankt euer Auto auf, wenn er kommt. Das Geld legt er dann auf den Sitz.«
Wir tranken unser Bier und warteten.
»Wie weit fahrt ihr denn?«, fragte Ruby nach einem tiefen Seufzen.
»Wir fahren den ganzen Weg, bis die Räder abfallen und brennen. Bis die Sonne den Lack vom Dach pellt, die Sitzbezüge verblichen sind und die Mokassinschlange tot ist.«
Ruby lächelte nur und meinte: »Na ja, manche Kinder werden nie erwachsen.«
Ich dachte an einen Film mit Gregory Peck. Irgendwie war ich in dem Film, wusste aber nicht warum und welche Rolle ich eigentlich zu spielen hatte. Ich sah nur, wie die Menschen sich bewegten, und dass eine ganze Menge von ihnen die Augen auf mich gerichtet hielten.
Melissa stellte die leere Flasche ab und schüttelte ihre langen braunen Locken aus dem Gesicht. Zähne wie Perlen, wie Licht vom Mond am Himmel.
»Fahr mich um die ganze Welt«, bat ich sie.
Wir blieben im Gästezimmer, ihre Haut war zart und weich.

Sie suchten nach jemandem mit einem Pompadour. Als ich die Straße überquerte, fielen Schüsse. Ich wusste nicht, ob ich mich hinwerfen oder wegrennen sollte, also rannte ich. Jemand rief: »Wir haben ihn auf dem Friedhof umzingelt.«
Melissa war unterwegs, als sie mich in eine Zelle sperrten. Am nächsten Morgen sah sie mein Bild auf der Titelseite, darunter stand: »Ein Mann ohne Alibi.«
Sie kam sofort, um zu bezeugen, dass ich den Tag mit ihr verbracht hatte. Der Untersuchungsrichter zweifelte. Melissa brach zusammen und weinte echte Tränen.
»Aber er sieht dem Gesuchten zumindest sehr ähnlich«, sagte ein Zeuge.
Der Richter fragte den Beamten, der mich verhaftet hatte: »Trug er einen Pompadour bei sich?«
»Nein. Er hatte nichts bei sich, hat auch nichts weggeworfen, solange wir ihn beobachtet haben.«
Ich dachte an Melissas kleine Beuteltasche, die sie im Kofferraum verstaut hatte, als wir in Paris ausstiegen. »Jean wird sie sich holen«, hatte sie erklärt. Es waren runde 2 Kilogramm darin verstaut.
»Ähnlich ist nicht gut genug.« Der Richter schloss die Akte. Ich durfte gehen. Melissa weinte immer noch. Oder erst jetzt.
Ich war immer jemand, der die Gesetze nicht gern übertritt, aber manchmal findet man sich plötzlich auf der anderen Seite der dünnen Linie wieder. Die Linie verändert auch ihren Verlauf, gelegentlich.
Wenn es eine originelle Idee gegeben hätte, wäre sie mir in jenem Moment recht gewesen. Aber schließlich reichten ihre Tränen und ihr offener Blick aus aufrichtigen Augen.

Wir warteten vor einem Kino auf den Einlass. »Billy Two Hats«, stand auf dem Poster. Ein Film mit Gregory Peck, aber nicht der, in dem ich mich befunden hatte, als wir in Longostagno auf Henry gewartet hatten. Das einzige, was sie mit Sicherheit über Henry wusste, war, dass er nicht Henry hieß. Aber Henry hatte uns den Wagen vollgetankt und auf dem Sitz lag ein Umschlag mit vielen gebrauchten Banknoten, italienischen, französischen und deutschen.
Es nieselte, während wir vor der Kinotüre standen. Melissa hielt ihren Pompadour in der linken Hand und sah mich mit ihren braunen Augen prüfend an.
»Wie geht es dir?«
»Ziemlich gut«, antwortete ich, »aber es könnte mir noch viel besser gehen, wenn du mich lehren würdest, wie.«
»Worum geht es eigentlich in dem Film?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber ich sehe jeden Film mit Gregory Peck.«
Sie hatte Zähne wie Perlen. Weiche Locken, braune Augen. Dunkler Honig. Liebe.
Ein Schatten fiel von hinten auf uns. Vier Männer hatten uns umringt.

Normalerweise läuft kaum etwas im Leben so, wie man es plant. Sie hatte etwas an sich gehabt, was ich mochte, etwas, das immer zu gut für diese Welt gewesen war.
»Du hast etwas in Frankreich verloren«, sagte sie zwischen zwei Liedern im Auto, »was ich an dir gemocht habe.«
Menschen, die gemeinsam etwas durchleiden, sind einander enger verbunden als die, denen es recht gut geht. Wir hatten Schaden genommen in Frankreich, um ein Haar nur waren wir entronnen.
Aretha Franklin sang jetzt über den »Son of a Preacherman«. Melissa stimmte ein. Dann sagte sie: »Die Menschen tun nicht das, woran sie glauben. Sie gehen den bequemsten Weg und dann tun sie Buße.«
»Bleib bei mir«, sagte ich, »wir lassen uns nieder und hoffen gemeinsam, dass der Sturm uns nicht das Dach vom Haus weht.«

Wir parkten hinter meinem Volkswagen. Der Mais war längst geerntet. Graue Wolken türmten sich über den Hügeln. Der Käfer war von Staub bedeckt.
Sie stieg aus, mit ihren unmöglichen Schuhen, die sie auf meine Höhe brachten. Aus dem Kofferraum ihres Capri nahm sie den Kanister und füllte die zwanzig Liter Benzin in den Tank meines Autos.

Vor langer Zeit. Ihre Haut war zart und weich. Mondperlen. Honigaugen. Braunlocken.

Ich weiß nicht mehr, wer ich war oder wohin unterwegs. Ich weiß nur noch, dass Gregory Peck einen Revolver trug und von hinten erschossen wurde.
Es scheint lange her zu sein. Damals, bevor die Sterne vom Himmel gewischt wurden.

P.S.: Selbstverständlich, lieber Leser, ist das von dem wunderbaren Song »Brownsville Girl« inspiriert, den Bob Dylan vor vielen Jahren, bevor die Sterne vom Himmel gewischt wurden, geschrieben hat.

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Soweit der Auszug aus dem Buch – wer weiterlesen möchte, darf bei Amazon einkaufen gehen: [Autorenseite Günter J. Matthia

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Weltbuchtag 2–Entschleunigung und Achtsamkeit

Der Welttag des Buches und des Urheberrechts (kurz Weltbuchtag, englisch World Book and Copyright Day) am 23. April ist seit 1995 ein von der UNESCO weltweit eingerichteter Feiertag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren.
-Wikipedia

Anlässlich des Weltbuchtages fiel mir ein, dass ich aus meinen Büchern vier Texte den geschätzten Bloglesern zur Lektüre anbieten könnte.

Als zweite Leseprobe nun die Seiten 25 bis 29 aus »Enschleunigung und Achtsamkeit … im ganz normalen Alltag«:

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Glauben Sie an sich selbst!

I want to do with you what spring does with the cherry trees.
-Pablo Neruda, Autor

Zu einem gesunden Leben mit einem starken und funktionierenden Immunsystem gehört auch ein gesundes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Um diesen Glauben an sich selbst zu stärken, muss man manche selbst errichteten Verbotsschilder im Leben abreißen.

Der bereits erwähnte Autor und Trainer Leo Babauta (von dem auch wesentliche Inspirationen zu diesem Kapitel stammen) erzählte unlängst, dass er über lange Jahre seines Lebens seinen Wunschberuf und die Selbstständigkeit nicht in Angriff genommen hatte, weil er sich das nicht zutraute. Er trennte sich nicht von manchen schlechten Gewohnheiten, weil er überzeugt war, nicht die notwendige Disziplin zu besitzen. Er war als Heranwachsender Mädchen gegenüber besonders scheu und später im Leben gelang es ihm kaum, Freunde zu finden oder sich am Arbeitsplatz zu behaupten – weil er sich nie einen Schritt aus dem vertrauten Umfeld, weg von gewohnten Pfaden, zugetraut hat. Er glaubte einfach nicht, dass er dazu fähig wäre.

Buchumschlag VorderseiteNiemand wird wohl jemals völlig davon frei sein, dass sich gelegentlich Zweifel bezüglich der eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten einstellen, aber man kann es lernen, mehr und mehr an sich selbst zu glauben. Das bedeutet allerdings nicht, dass man nie wieder auf die Nase fallen oder scheitern wird. Im Gegenteil. Genau das wird passieren.

Und sogar das ist gut so.

Der Trick ist nämlich der, dass man begreift: Es ist vollkommen in Ordnung, zu scheitern, sich auf ein Wagnis einzulassen und dabei nicht die perfekten Ergebnisse zu ernten. Sie begrüßen freundlich jemanden – und derjenige ist nicht sofort hin und weg. Sie erschaffen kreativ etwas, und werden prompt von jemandem verurteilt … Misserfolg erleben, nicht vollkommen sein, Fehler machen, nicht von allen Menschen Zustimmung ernten, nicht von jedermann akzeptiert werden: Das sind nicht zwangsläufig negative Dinge, sondern positive.

Nun mag jemand einwenden: Wie kann Versagen positiv sein?

Ganz einfach: So lernt man wirklich etwas hinzu. Sie können zum Beispiel ganz gemütlich ein dickes Buch über die Mathematik lesen, aber Sie werden erst dann feststellen, ob Sie es wirklich kapiert haben, wenn Sie anfangen, Aufgaben zu lösen. Erst dann entdecken Sie, wo Ihnen noch Verständnis, Wissen oder Übung fehlt. Oder Sie lesen und lernen eine Menge über das Fotografieren, über Blende, Tiefenschärfe, Belichtungszeit, Licht … Sie müssen schon Fotos machen und betrachten, um festzustellen, ob es Ihnen gelingt, mit dem Wissen im Kopf und der geeigneten Kamera in der Hand auch gute Bilder aufzunehmen.

Man lernt etwas oft am besten, indem man studiert und die praktische Anwendung ausprobiert. Dabei passieren Fehler, also lernt man etwas dazu, probiert wieder … und so weiter. So betrachtet sind Fehler und Misserfolge nichts anderes als kleine Resonanzen, die notwendig sind, um dazuzulernen und zu besser zu werden.

Aber was soll daran positiv sein, wenn man Ablehnung erfährt? Ganz einfach: Man lernt es, über den Bereich des sozial minimal Akzeptablen hinaus zu gehen. Die besten Menschen in der Geschichte wurden nicht von allen und jedem akzeptiert. Zum Beispiel Verkünder der Wahrheit: Sokrates, Jesus, Gandhi, Proudhon und Bakunin, Martin Luther King Jr. und viele weitere.

Einer meiner Freunde experimentiert mit fotografischen Formen der Darstellung und Selbstdarstellung – dabei erntete er für einige Nacktfotos (die keineswegs auch nur im Entferntesten pornographisch oder erotisch waren), vehementen Gegenwind. Erschrocken löschte er das Album aus dem Internet. Nicht weil er mit den Fotos unzufrieden war, sondern weil er von anderen beschimpft wurde. Ich riet ihm dazu, dem eigenen Empfinden zu folgen: Wenn die Bilder ausdrückten, was er ausdrücken wollte, dann waren sie gut. Punkt. Dass das nicht jedem gefallen würde, damit musste er dann genauso rechnen wie jeder andere Mensch, der seine Kunst der Öffentlichkeit vorstellt. Die Früchte kreativer Tätigkeiten müssen ja nicht zwangsläufig ausgestellt werden. Sie können genauso gut nur für sich etwas erschaffen. Aber wer sich mit seinen Werken einem Publikum präsentiert, muss auch damit rechnen, dass es Menschen geben wird, die nicht begeistert sind. Das ist deren gutes Recht, denn die Geschmäcker sind verschieden.

°°°

Mancher traut sich aber gar nicht erst, sich kreativ auszudrücken. Das ist schade. Vieles, vor dem wir uns fürchten, sollten wir zumindest ausprobieren. Woher will jemand wissen, dass er nicht zeichnen kann, bevor er einen Kurs besucht hat, der die Grundlagen vermittelt?

Buchumschlag RückseiteEgal, welches Feld der schöpferischen Beschäftigung man sich aussucht – man kann nur dadurch dazulernen und besser werden, dass man es praktiziert. Wenn ich heute einige meiner frühen Texte lese, muss ich den Kopf schütteln. Aber schon damals habe ich mich damit an die Öffentlichkeit getraut. Weil ich nämlich hören wollte, was gelungen und was nicht so geglückt war, um aus den Fehlern klüger zu werden. Heute würde ich anders – besser aus meiner Sicht – schreiben, aber immerhin habe ich von Anfang an nicht für nur die Schublade formuliert. Und nur so konnte ich dazulernen.

Zur Kreativität gibt es später noch ein gesondertes Kapitel.

°°°

Alle Theorie ist als Unterbau nicht zu verachten und gut, aber ohne Praxis hat sie keine Auswirkungen auf unser Leben und Befinden.

Ein paar Vorschläge:

· Durchbrechen Sie ab und zu das Unbehagen bezüglich ungewohnter Situationen. Mit jedem Durchbruch erweitern Sie Ihre Grenzen. Sie können ja gar nicht vorher wissen, ob Sie sich wirklich unwohl fühlen werden.

· Stellen Sie sich der Begegnung mit Menschen, ohne vorher zu wissen, ob sie Sie akzeptieren, ignorieren oder ablehnen werden.

· Halten Sie gute Vorsätze bewusst fest und hören Sie nicht auf die negative innere Stimme, die Ihnen weismachen will, dass Sie es sowieso nie schaffen.

· Wenn Ihr guter Vorsatz verloren geht (nun hast du doch wieder Zigaretten gekauft!), dann heben Sie ihn wieder auf und lassen nicht locker. Dass Sie es heute nicht geschafft haben heiß ja nicht, dass es morgen auch nicht klappt.

· Durch wiederholte Versuche lernen Sie, dass es okay ist, zu versagen und zu scheitern, weil Sie dadurch letztendlich entscheidend weiter kommen. Und ob etwas gescheitert ist, hängt nicht vom Jubel oder den Buhrufen anderer Menschen ab.

· Durch wiederholtes Experimentieren lernen Sie, dass Sie stärker sind als Sie dachten, dass Sie mehr Fähigkeiten haben als Sie vermuteten und dass Sie sogar mehr Unbehagen aushalten, als Sie für möglich gehalten hätten.

Mit dieser Praxis werden Sie mehr und mehr sich selbst finden. Und feststellen, dass Sie schon die ganze Zeit großartig waren.

°°°

Nun folgt eine weitere Parabel. Einfach so, zwischendurch. Zur Entschleunigung bei der Lektüre und um Ihre Achtsamkeit lebendig zu halten.

 

Der freigebige Baum

Es war einmal ein Baum ... und dieser Baum liebte einen kleinen Jungen. Und täglich kam dieser Junge und sammelte das Laub des Baumes und machte daraus Kronen und spielte König des Waldes.

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Soweit der Auszug aus dem Buch – wer weiterlesen möchte, darf bei Amazon einkaufen gehen: [Autorenseite Günter J. Matthia

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Weltbuchtag 1–Jessika

Der Welttag des Buches und des Urheberrechts (kurz Weltbuchtag, englisch World Book and Copyright Day) am 23. April ist seit 1995 ein von der UNESCO weltweit eingerichteter Feiertag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren.
Wikipedia

Anlässlich des Weltbuchtages fiel mir ein, dass ich aus meinen Büchern vier Texte den geschätzten Bloglesern zur Lektüre anbieten könnte.

Den Anfang macht ein Buch, das es erst im Juni oder Juli geben wird. Da die beiden ersten Kapitel eine in sich geschlossene Geschichte sind (die im Buch natürlich weitergesponnen wird), folgen hier ebendiese beiden Kapitel:

1

Eveline Müller sieht genüsslich zu, wie das spitze, frisch geschärfte Brotmesser langsam in den weichen Bauch eindringt. Sie lässt sich ganz bewusst viel Zeit, um diese jedes Mal viel zu kurzen Augenblicke auszukosten.

Zunächst kommen nur einige Blutstropfen, dann quillt es rot aus der Wunde, während die Klinge ihren Weg immer tiefer in die Eingeweide findet. Der Mann rührt sich kaum, er ist mit soliden Fesseln an das Bett gebunden und außerdem hat er ein Medikament im Blut, das die Muskeln lähmt. Nicht zu hundert Prozent offensichtlich, denn sein Kopf zuckt hin und her. Die Augäpfel scheinen aus ihren Höhlen springen zu wollen. Er gibt erstickte Laute von sich und atmet heftig. Natürlich würde er schreien, wenn der Knebel nicht so fest in seinem Mund säße.

Als das Messer bis zum Heft eingetaucht ist, zieht sie es langsam wieder heraus. Vermutlich wird ihr Opfer gleich ohnmächtig werden, das ist schade, aber nicht zu vermeiden. Die Kerle halten alle nicht viel aus, das weiß sie. Und dieser ist schon älter, es kann jederzeit sein, dass sein Herz einfach aussetzt.

Sie setzt die Klinge erneut an, etwa fünf Zentimeter unterhalb des ersten Einstiches. Langsam senkt sich der Stahl durch das Fettgewebe hinein in die Schlingen der Därme.

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Er weiß, dass er jetzt sterben wird. Er hat in Filmen Menschen ihre letzten Atemzüge röcheln sehen, aber er hat nie geahnt, dass es so wehtut. Im Kino sinken die Opfer dramatisch in sich zusammen, schauen gequält in die Kamera und sind dann einfach tot. Er wünscht, es wäre endlich auch mit ihm so weit. Aber der Höllenschmerz wühlt und wühlt in seinen Eingeweiden und lässt nicht nach.

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Buchumschlag VorderseiteEveline betrachtet das weiß gewordene, nass geschwitzte Gesicht, die verkrampften Hände, die verzweifelt an den Fesseln zerren, soweit die Muskeln das noch bewerkstelligen können. Lange wird er nicht mehr durchhalten, aber er ist erstaunlich zäh. Den dritten Einstich kann er wohl noch aushalten. Vor dem eigentlichen Höhepunkt. Sie sieht wegen des vielen Blutes kaum noch etwas von der Haut. Sie zielt sorgfältig und setzt die Messerspitze an, wieder im gleichen Abstand, noch etwas tiefer. Erst nach dem dritten Stich soll die scharfe Klinge schließlich den Penis abtrennen. Eveline geht methodisch vor, mittlerweile hat sie Übung und Erfahrung.

Das erste Opfer war jung gewesen, um zwanzig Jahre, und sie hatte viel zu impulsiv gearbeitet. Der Mann erlebte den entscheidenden Augenblick leider trotz seiner robusten Kondition nicht mehr mit. Sie hatte unkontrolliert auf ihn eingestochen. Das Blut war pulsierend aus den Wunden geschossen, hatte sie über und über besudelt. Eine riesige Schweinerei war das gewesen. Und dann war er plötzlich, zu früh für den großartigen letzten Augenblick, tot.

Sie hat inzwischen gelernt, wie sie vorgehen muss: Einstiche nur unterhalb des Bauchnabels, niemals in den Oberkörper. Und zu viel Zeit darf sie sich auch nicht lassen, früher oder später geben sie alle den Löffel ab, bildlich gesprochen natürlich. Keiner ihrer Gäste hatte je einen Löffel in der Hand.

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Warum bringt sie mich nicht endlich um? Worauf wartet sie? Was habe ich nur verbrochen, dass ich … dass mir … ich will nur noch …

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Er zittert jetzt am ganzen Leib, sie muss sich beeilen, wenn sie ihn noch teilhaben lassen will an dem herrlichen, dem krönenden Augenblick. Mit einem raschen Schnitt trennt sie das schlappe Organ ab, das vor wenigen Minuten noch stolz und prall hinauf zur Decke gewiesen hatte. Sie hält dem Mann triumphierend seinen Penis vor die Augen. Erkennt er noch, was sie ihm da zeigt, bevor er in die Ewigkeit hinüberwechselt?

Sein Herz hört auf zu schlagen.

2

Alle im Haus mochten Eveline Müller. Sie war stets fröhlich und aufmerksam. Ob nun jemandem das Salz ausgegangen war oder eine junge Mutter schnell mal einen Babysitter brauchte, die Hausmeisterin half gerne und bereitwillig. Wenn Mieter in den Urlaub reisten, versorgte sie deren Pflanzen. Das Haus war stets sauber und notwendige Reparaturen ließ sie unverzüglich ausführen. Es gab ganz und gar nichts, was irgendjemand an der Hausmeisterin aussetzen hätte können.

Die zwölfjährige Jessika wohnte im ersten Stock, genau über den Räumen der Hausmeisterwohnung. Beide Eltern arbeiteten, nach der Schule war Jessika oft bis zum Abendessen bei Freundinnen. Aber jetzt in den Ferien waren die meisten aus ihrer Klasse verreist. Ihr war stinklangweilig. Im Radio lief nur Musik, die sie bis zum Überdruss gehört hatte, zum Lesen hatte sie nach drei Stunden mit einem Buch in der Hand keine Lust mehr.

Sie ging los und versuchte, eine Karte für einen Horrorfilm, freigegeben ab 16, zu kaufen, aber die Dame an der Kasse bestand darauf, einen Ausweis zu sehen. Den Schülerausweis hatte sie nicht bei sich, und wenn sie ihn gehabt hätte, hätte das auch nichts genutzt. Sie war eben noch nicht sechzehn. Missmutig trottete sie wieder nach Hause.

Als sie das Haus betrat war Frau Müller damit beschäftigt, die Treppen zu putzen. Jessika grüßte höflich und sah einen Moment zu, wie der nasse Lappen über die steinernen Stufen glitt.

»Na, Jessika, willst du mir helfen?«

Das schien eine halbwegs gute Idee zu sein. Sie wusste sowieso nichts mit sich anzufangen, und es gab jedes Mal fünf Mark Belohnung, wenn sie ein paar Handgriffe für die Hausmeisterin tat. Manchmal sogar zehn Mark.

»Ja, gerne, was kann ich denn tun?«

Eveline Müller reichte ihr ihren ziemlich schweren Schlüsselbund. »Du könntest den Fahrstuhl saubermachen. Okay?«

Diese Aufgabe hatte sie schon ein paarmal erledigt. Sie nickte und drückte auf den Knopf. Als die Türe sich öffnete, drehte sie den kleinen Schlüssel, der den Aufzug blockierte.

»Du musst dir noch Eimer und Putzmittel aus meiner Wohnung holen, du kennst dich ja aus«, rief Frau Müller, die mit ihrem Lappen inzwischen auf den Stufen zum Keller angekommen war.

Jessika nickte, obwohl das niemand sehen konnte. Sie stieg mit den Schlüsseln in der Hand die fünf Stufen hinauf zur Hausmeisterwohnung, schloss auf und ging zielstrebig in die Kammer, in der die Putzutensilien verwahrt wurden. Ein übler Geruch hing in der Luft.

Jessika beeilte sich, Eimer, Lappen und die gelbe Flasche mit dem Reinigungsmittel an sich zu nehmen. Das Badezimmer lag gleich neben der Kammer, sie ging hinein und ließ Wasser in den Eimer strömen. Die Waschmaschine lief, das Wasser im Bullauge schwappte rotbraun hin und her.

Sie zog die Wohnungstür hinter sich zu und begann, die Fahrstuhlkabine zu säubern. Frau Müller war mittlerweile im Keller angelangt, Jessika hörte den Schrubber gegen die Holzverschläge stoßen. Das Mädchen arbeitete gründlich aber zügig. Als die Hausmeisterin heraufkam, war sie fast fertig.

»Gut gemacht, Jessi«, meinte Eveline Müller nach einem prüfenden Blick. »Sehr gut. Sogar den Aschenbecher hast du geleert.«

Sie griff in die Schürzentasche und ließ ein Fünfmarkstück in Jessikas Hand fallen.

»Danke, Frau Müller. Ach übrigens, ich glaube, die Wäsche färbt.«

»So? Da muss ich aber gleich nachsehen.«

Sie nahm die Reinigungsutensilien und den Schlüsselbund an sich und verschwand in ihrer Wohnung.

---

Eveline Müller ärgerte sich über ihre Gedankenlosigkeit. Wie hatte sie das Kind in die Wohnung lassen können! An einem solchen Tag! Sie hätte selbst Eimer, Lappen und Putzmittel für die Kleine holen müssen, oder die Hilfe heute ablehnen, denn einem so aufgeweckten Mädchen entging so gut wie nichts. Natürlich färbte die Wäsche! Sie würde den Waschgang mehrmals wiederholen müssen, um alles Blut aus den Laken und Bezügen zu bekommen. Sie bewahrte die Bettwäsche nicht auf, sondern spendete sie der Kleiderkammer, aber dort konnte sie natürlich nicht mit blutigen Laken und Bezügen auftauchen.

Vor allem aber lag die Leiche noch auf der Plastikplane im Schlafzimmer. Die Tür war zwar abgeschlossen, aber ein neugieriges Kind mit dem Schlüsselbund in der Hand konnte durchaus nachforschen wollen, woher der eigentümliche Geruch, der nun einmal nicht zu vermeiden war, stammte. Doch das hatte das Mädchen wohl nicht getan, sonst wäre es nicht so ruhig geblieben.

Es war immer problematisch, die Leichen loszuwerden. Die mussten in kleine Stücke zerteilt werden, bevor Eveline sie aus der Wohnung bringen konnte. Die Einzelteile wurden im Garten vergraben oder so zerkleinert, dass sie im Müll als Metzgerfüllsel durchgehen konnten. Den Ausdruck hatte sie aus einem Buch, er gefiel ihr. Metzgerfüllsel! – wohl aus einem Roman von Stephen King. Oder Peter Straub.

Ihre Trophäen wurden selbstverständlich nicht zu Metzgerfüllseln verarbeitet. Die Penisse bewahrte die Hausmeisterin in Weckgläsern auf, die mit Spiritus gefüllt waren und ein Regal in ihrem kleinen Hobbyraum zierten. Es waren mit dem Exemplar von letzter Nacht schon vierzehn. Sie stand oft vor dem Regal und betrachtete die unterschiedlichen Formen und Größen, die der Einfallsreichtum des Schöpfers den männlichen Wurmfortsätzen, mit denen Männer so viel Unheil anzurichten vermochten, gegeben hatte. In ihren Weckgläsern sahen sie alle so harmlos und unschuldig aus.

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Jessika hörte in ihrem Zimmer, dass aus der Hausmeisterwohnung wieder das Geräusch der elektrischen Säge kam. Frau Müller reparierte vieles selbst, sie bastelte auch, hatte etliche Vogelhäuschen und Nistkästen gebaut, die im Garten an den Bäumen befestigt waren. Sie arbeitete oft in der Dunkelheit im Garten. Den neugierigen Hausbewohnern hatte sie erzählt, dass ihre Pflanzen und Blumen deshalb so gut gediehen, weil sie deren Eigenarten kannte. Und dazu gehörte eben auch, dass man manches nur in der Dunkelheit erledigte. Einige Nachbarn waren belustigt über so viel Esoterik … aber es störte niemanden, Die Hausmeisterin machte ja dabei keinen Lärm, und der Garten gedieh wirklich prächtig.

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Der Kerl war widerspenstig, selbst jetzt noch. Eveline Müller hatte Mühe, den Arm in Teile zu zerlegen, die nachher in ihren Fleischwolf passen würden. Aber sie musste fertig werden, bevor die Verwesung einsetzte, denn den Gestank hätte vielleicht doch jemand erkannt. Sie putzte das Treppenhaus nach solchen Nächten mit dem extrastarken Mittel für Industrieanlagen, da es die Luft so mit Salmiakgeruch erfüllte, dass man nichts anderes mehr riechen konnte. Solange sie der Verwesung zuvorkommen konnte, zumindest.

Die Finger und die Hand hatte sie bereits durchgedreht, nun kam Stück um Stück der rechte Arm dran.

Die Uhr musste sie wieder im Schlosspark Steglitz verlieren, die Chance, dass sie jemand irgendwo abgab, war fast gleich Null. Und wenn, dann war der Park weit genug weg von ihrem Haus. Den Ehering konnte sie am Abend beim Weg vom Einkaufen nach Hause von der Brücke in den Teltowkanal fallen lassen. Und die Metzgerfüllsel kamen später in der Nacht in die Mülltonnen der Siedlung drei Straßen weiter. Morgen früh würde die Müllabfuhr den lästigen Mann beseitigen, die Ratten und Möwen auf der Müllkippe freuten sich sicher schon auf die nahrhafte Fuhre.

Sie arbeitete konzentriert und war um 17:00 Uhr endlich fertig. Etliche stabile Mülltüten bargen die seltsame Masse aus Knochen, Haaren und Organen. Das Blut hatte sie eimerweise im Klo heruntergespült. Sie sah sich zufrieden um. Noch das Bett frisch beziehen, dann war ihr Schlafzimmer bereit für den nächsten Gast.

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Eine Woche später lud sie einen Geschäftsreisenden ein. Er mochte Mitte dreißig sein, blond, gebräunt, der typische aufwärts strebende Erfolgsmensch, der für ein paar Tage in Berlin zu tun hatte. Womöglich, nein, wahrscheinlich glücklich verheiratet irgendwo in der Provinz.

In den Restaurants und Bars am Kurfürstendamm hatte Eveline Müller schon ein paarmal erfolgreich nach Spendern weiterer Trophäen für ihr Regal Ausschau gehalten. Ihr attraktives Äußeres half ihr dabei, aber vor allem war es ihr Gespür für die richtigen Männer, das den Erfolg brachte.

Der Mann hatte sie angesprochen, als sie sich neben ihn an den Tresen lehnte. Was er wollte, konnte sie sich denken. Was sie wollte, wusste sie ganz genau.

Natürlich durfte niemand ihn das Haus oder gar ihre Wohnung betreten sehen. Bisher hatte es fast immer geklappt. Die Mieter sahen ja so gerne fern, und die Penisspender blieben der Aufforderung folgend sehr leise, wenn sie durch das Treppenhaus huschten. Die Straße war belebt, kein Mensch achtete auf den anderen. Keiner ihrer Gäste war im Haus gesehen worden, bis auf ein einziges Mal. Da hatte Herr Burkhard aus dem dritten Stock gerade in dem Augenblick das Haus verlassen, in dem sie mit ihrem Auserkorenen ankam. Das hatte dem jungen Mann, dessen Glied Trophäe Nummer Sieben hätte werden sollen, das Leben gerettet. Ein solch hohes Risiko wollte Eveline Müller nicht eingehen. Zufrieden vor sich hin summend war der Typ nach zwei Stunden aufgebrochen. Das bereitgestellte Glas war an jenem Abend leer geblieben. Solch ein Missgeschick war allerdings nur ein einziges Mal passiert.

Nummer 15 lehnte nun neben ihr am Tresen und hörte aufmerksam zu. Eveline Müller verlangte, dass er nicht direkt zu ihrer Wohnung kam, sondern sich mit ihr in einem Lokal traf. Sie beschrieb ihm den Weg vom nächstgelegenen U-Bahnhof. Sie wollte keine Autos, deren Besitzer in der Mülltonne und im Garten landeten, vor ihrem Haus. Und niemals nannte sie einem potenziellen Penisspender ihre Adresse. Man wusste ja nicht, ob er die jemandem weitersagen oder irgendwo aufschreiben mochte.

Um 21:00 Uhr ging sie zur Kneipe. Sie sah ihn schon durch das Fenster am Tisch sitzen, ungeduldig blickte er auf die Türe. Die Hausmeisterin trat ein und begrüßte ihn mit einem vielversprechenden Kuss. Sie tranken ein Glas Wein zusammen und brachen dann auf.

Buchumschlag RückseiteEveline war froh, dass es in Berlin so viele Kneipen gab, sie besuchte nie zweimal die gleiche, wenn sie sich mit einem ihrer Gäste verabredete.

Es war kurz vor Zehn, als sie das Haus betraten. Sie glaubte einen Moment, einen Schatten auf der Treppe oben gesehen zu haben, aber es war wohl eine Täuschung gewesen. Alles blieb still.

Sie schlug dem Mann, genau wie allen Vorgängern, ein Spiel vor, das sie ihm anhand eines illustrierten Buches vorstellte. Sie erklärte, dass bisher jedermann begeistert gewesen war; die Fesseln würden den Genuss erheblich steigern, da der Gast dabei endlich einmal völlig passiv genießen konnte, was mit ihn geschah.

Wie alle war auch er einverstanden, als er die Fotos in ihrem Album sah. Willig ließ er sich die Handschellen um die Knöchel der Arme und Beine legen, gegen den Knebel, der auf den Fotos nicht zu sehen war, konnte er nicht mehr protestieren, so schnell und geschickt war sie inzwischen geworden.

»Warte nur ab, es wird phantastisch!«, versprach sie der Nummer 15.

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Auch er sah wenig später als letztes in seinem Leben das abgeschnittene Organ, von dem er sich in dieser Nacht etwas ganz anderes erhofft hatte. Eveline Müller ließ den Penis vorsichtig in das Glas mit dem Spiritus gleiten, als es an der Tür klingelte.

Sie reagierte nicht. Sie war trotz aller Vorsicht mit dem Blut des Geschäftsmannes bespritzt, sie musste sich erst reinigen, bevor sie jemandem unter die Augen kommen konnte.

Sie schlich auf Zehenspitzen in den Flur und lauschte. Es klingelte wieder, und sie hörte Jessikas Stimme: »Bitte, machen Sie auf, Frau Müller. Ich bin es, Jessika.«

Das Mädchen klopfte an die Tür, laut hallte es durch das Treppenhaus. Sie würde das ganze Haus wecken, wenn nichts geschah.

»Was willst du?« fragte sie durch die geschlossene Tür. »Ich habe nichts an, ich kann nicht aufmachen.«

»Bitte. Ich muss mit Ihnen reden!«, antwortete Jessika.

»Ist etwas mit deinen Eltern passiert?«

»Nein, die sind auf einer Party. Ich bin allein. Bitte, es ist wichtig. Ich weiß, dass Sie Besuch haben. Wenn man da von Besuch reden möchte.«

Also hatte Eveline Müller sich doch nicht getäuscht, als sie meinte, etwas im Treppenhaus gesehen zu haben. Sie musste irgendwie reagieren, sonst kamen wegen des Lärms, den das Kind veranstaltete, noch weitere Nachbarn dazu.

»Wir reden morgen, Jessi. Geh schlafen.«

»Lassen Sie mich rein, sonst rufe ich die Polizei.«

Nun blieb ihr keine Wahl. Sie öffnete die Tür einen Spalt und ließ Jessika in den dunklen Flur. Das Mädchen, da konnte man nun nichts mehr ändern, würde leider die Nacht nicht überleben. Schade, sie mochte die Kleine sehr und hatte außerdem nie die Absicht gehabt, eine Geschlechtsgenossin zu töten.

Jessika knipste das Licht an. Sie stand da in ihrem Schlafanzug, völlig gelassen, als sei ihr Besuch selbstverständlich. Sie musterte die nackte, mit Blut bespritzte Hausmeisterin von Kopf bis Fuß und schwieg. Eveline erkannte, dass das Mädchen die Wahrheit wusste, ohne ins Schlafzimmer geschaut zu haben.

»Ist er da drin?«, fragte Jessika.

»Ja.«

»Ich will ihn sehen.«

Sie ging voran und stieß die Türe auf. Die Hausmeisterin folgte ihr und griff nach dem Messer, das auf der Kommode neben der Tür lag.

»Wir könnten ihn aufessen«, erklärte Jessika gelassen.

Die Hand, die eben ausholte, um das Kind zu erstechen, erstarrte. Eveline Müller staunte. Hier stand ja eine verwandte Seele vor ihr, eine Schwester! Beinahe hätte sie ihre Artgenossin ermordet.

»Was hast du gesagt?«

»Wir könnten ihn aufessen, zum Teil wenigstens. Die Leckereien eben.«

Der Gedanke war Eveline Müller noch nie gekommen. Aber das Kind hatte Recht. Ein solches Festmahl wäre in der Tat die Vollendung, die Krönung ihrer Leidenschaft.

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Und während Jessikas Eltern noch der Mitternacht entgegentanzten, bereiteten sich zwei Menschen ein Mahl mit knusprig gebackenem Gehirn und frischer Leber.

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So. Das war die Leseprobe. Der Roman folgt dann voraussichtlich irgendwann im Sommer.

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