Ich weiß bloß nicht, welche Geschichte. Die von Sophia? Oder doch Angelina? Oder womöglich Sabrina?
Sophias Geschichte fängt so an:
Feuchtes Laub raschelte unter den Füßen der beiden Spaziergänger im Berliner Tiergarten. Beide waren 13 Jahre alt, das Mädchen wirkte jedoch älter. Ihr Gesicht ließ ahnen, daß sie ihre Kindheit nicht ohne Wunden und Schmerzen hinter sich gebracht hatte. Dunkle Locken fielen bis auf die Schultern, sie trug weiße Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem Hard Rock Café Logo auf der Brust. Ihr Begleiter war hochgewachsen, schlank, dunkelblond, ein vergnügtes Lächeln spielte auf seinem Gesicht.Angelinas Geschichte beginnt wie folgt:
Sie schlenderten schweigend den Weg am Kanal entlang. In der Ferne hörte man, wenn man die Ohren spitze, Verkehrsgeräusche. Die beiden nahmen auf einer Bank Platz und sahen auf das träge dahinfließende Wasser des Landwehrkanals.
Der Junge brach nach etwa zehn Minuten das Schweigen. »Sophia, weißt du, was mir an dir besonders gefällt?«
»Nein. Aber du wirst es mir gleich sagen.« Sie lächelte erwartungsvoll.
»Daß man mit dir auch schweigen kann. Stundenlang, wenn es paßt. So was ist selten.«
»Danke, Manfred.«
Sie saßen auf der Bank, sahen den Enten zu, die ohne Eile über das Wasser glitten, beobachteten müßige Spaziergänger. Sophia genoss den Nachmittag. Sie hatten gemeinsam die Arbeiten für die Schule erledigt und waren anschließend mit der U-Bahn zum Bahnhof Zoo gefahren. Von dort aus durchwanderten sie den Tiergarten und sammelten Blätter für den Biologieunterricht. Der Park wirkte nach dem Gewitter, das am Mittag gewütet hatte, wie frisch gewaschen in der wärmenden Sonne.
Schließlich standen sie auf und schlenderten weiter. Der Junge sagte, als hätte es die lange Gesprächspause nicht gegeben: »Du kannst andererseits reden wie ein Wasserfall, wenn es paßt. Je nach Bedarf dummes Zeug oder kluge Einsichten.« Manfred blickte auf die herbstlich verfärbten Baumkronen. Dann fuhr er fort: »Du bist wie ein Baum, der einem geben kann, was man braucht. Schatten in der Hitze, Schutz beim Regen, Früchte gegen den Hunger.«
»Und wenn es dann paßt, holzt du mich ab und verheizt mich in deinem Kamin, ja?«, fragte sie grinsend.
Manfred lachte. »Okay, Ende der Philosophiestunde. Laß uns ein Eis essen gehen, am Ku'damm. Okay?«
»Okay. Eis kann aber auch philosophisch sein. Ich esse Eis, also bin ich.«
»Nee, ich bin, also esse ich Eis.«
Sophia schüttelte den Kopf. »Nein, Manfred. Ich weiß nicht, welches Eis ich essen werde, also weiß ich nicht, wer ich sein werde. Bin. War.«
Sie beschleunigten ihre Schritte und verließen den Tiergarten. Quer über den Hardenbergplatz strebten sie dem Europacenter zu.
Sophia wußte tatsächlich nicht, wer sie war. Es sollten noch zwei Jahre vergehen, bis die Erinnerung zurückkehrte.
Diese Augen. Dieser Strudel des Lebens, der in ihnen wirbelte. Die unendliche Tiefe, in die ihr Blick mich hineinzog. »Fenster der Seele« hatte mal ein kluger Mensch die Augen des Menschen genannt, aber Angelinas Augen waren mehr. Ich konnte in ihnen versinken. Ich wollte in ihnen versinken. Und wenn ich dort ertrank... konnte es ein angenehmeres Ende des irdischen Daseins geben?Und Sabrinas Geschichte wiederum hat diesen Anfang:
Ich war immer wagemutig gewesen, nahm Herausforderungen an, ging lieber ein paar Schritte zu weit, als vorsichtig zurückzuweichen, wenn ich unbekanntes Gelände betrat. Risiken nahm ich gerne in Kauf, schließlich ist das ganze Leben ein Risiko. Man muss eben das Bestmögliche herausholen. Ich überließ das große Kuchenstück nicht anderen, wenn ich es selbst bekommen konnte, schließlich schenkte mir auch niemand etwas. Ich war nicht rücksichtslos, handelte nie auf Kosten anderer Menschen, aber wenn ich eine Chance bekam, nutzte ich sie, während andere noch zögern mochten.
Als ich Angelina zum ersten Mal sah, dachte ich nicht an ein erotisches Abenteuer, wollte sie vielmehr mit meinen Farben auf der Leinwand verewigen und sie dabei kennen lernen. Portraits malte ich am liebsten, denn ich hatte dabei Gelegenheit, stundenlang mit dem Menschen, der vor mir saß, zu reden, meine Eindrücke von seinem Wesen in das Bild hineinfließen zu lassen. Malerei ist mehr als Fotografie, so stimmungsvoll die Produkte guter Lichtbildkünstler auch sind. Ein Foto kann aber nie mehr zeigen als das, was vor der Linse ist. Natürlich haben Fotografen im digitalen Zeitalter Möglichkeiten, von denen frühere Generationen nicht einmal geträumt haben. Ob digital bearbeitete Fotos noch ein ehrliches Werk sind, sei dahingestellt... Ich hielt meine Kunst für aufrichtig, denn ich gab von vorne herein durch meine Bilder mit Pinsel und Farbe nicht Spiegelbilder der Wirklichkeit wieder, sondern meine sehr persönliche Interpretationen des Gesehenen.
Sie mochte ungefähr fünfundzwanzig sein, ihre glatten Haare flossen in weichen schwarzen Wellen über die Schultern. Verspielt zauberte der schwache Wind mit den Spitzen der Fransen, die ihr über die harmonisch geschwungenen Augenbrauen fielen, immer neue Muster auf ihre Stirn. Ich sah sie, als ich einen Platz an den Tischen vor dem kleinen Eiscafé am Marktplatz suchte.
Fehmarn wurde von einem Bilderbuchsommer verwöhnt. Sonnenhungrige Touristen bevölkerten die glühend heißen Strände, in meiner Heimatstadt Burg auf Fehmarn wimmelten sie in den Geschäften und Restaurants. Ich saß gerne dicht am Gewühl und beobachtete die geschäftig hin und her strömenden Massen, fertigte gelegentlich Bleistiftskizzen und verstand nie all die Hektik. Obwohl sie doch Urlaub hatten, schienen sie die Betriebsamkeit des Alltags nicht hinter sich lassen zu können, sie drängelten vor den Geschäften, sie eilten durch die Straßen, sie zogen quengelnde Kinder hinter sich her und sie schleppten halbe Haushaltsausrüstungen zu den Stränden, wo sie sich dann ihre weißen Bäuche verbrennen ließen.
Angelina saß auf meinem Lieblingsplatz nahe am unermüdlichen Strom der Touristen. Es gab zwar einen zweiten Stuhl an dem kleinen runden Tisch, aber da noch andere Plätze frei waren, setzte ich mich nicht zu der Fremden. Aufdringlich wollte ich natürlich nicht wirken. Allerdings wählte ich meinen Sitzplatz so, dass ich sie beobachten konnte.
Der Volkswagen hatte mehr als zwanzig Jahre seinen Dienst getan. Er erfuhr ganz offensichtlich regelmäßige Pflege, sein Lack glänzte in der Nachmittagssonne, man hätte meinen können, das Fahrzeug sei gerade vor wenigen Tagen vom Band gerollt. Von weitem betrachtet war der Käfer, der die Fahrbahn zur Hälfte blockierte, ein Schmuckstück. Als ich am 17. Juli 1998 um 16:48 Uhr auf die Unfallstelle zufuhr, ging mir der Gedanke so schlimm kann es gar nicht sein durch den Kopf. In der Aufregung hatte ich das kurze Telefonat wohl missverstanden.Frage an meine Blogbesucher: Von welcher der drei Personen würdet Ihr / würden Sie gerne mehr erfahren? Ich freue mich auf Kommentare...
Ich war auf dem Heimweg vom Büro, als mir einfiel, dass wir vergessen hatten, ein paar Flaschen guten Wein für den Abend zu kaufen. Wir erwarteten Gäste und eigentlich war alles für einen gemütlichen Abend besorgt – bis auf das passende Getränk.
Der Verkehr war, etwas anderes konnte man um diese Zeit in Berlin auch nicht erwarten, mehr als zähflüssig, er stand beinahe still. Zwei Polizeifahrzeuge und ein Notarztwagen hatten sich vor einer viertel Stunde auf der engen Straße am Stau, in dem ich mich mit zahlreichen anderen Verkehrssteilnehmern befand, vorbei gequält. Es ging nur sehr mühsam voran und ich hoffte, dass die Behinderungen bald aus dem Weg geräumt sein würden, damit noch etwas Zeit blieb, Sabrina zu Hause den Tisch decken zu helfen und das Essen vorzubereiten, bevor unser Besuch kam.
Als mir der Gedanke an den vergessenen Wein kam, rief ich Sabrinas Mobiltelefon an, denn es mochte ja immerhin sein, dass sie das Versäumte bereits erledigt hatte. Sie hatte solche Angelegenheiten besser im Griff als ich. Anstelle meiner Frau antwortete eine unbekannte männliche Stimme mit einem »Ja bitte?« Verwählt haben konnte ich mich nicht, da ich die Speichertaste benutzt hatte.
»Wer ist da«, fragte ich, »und warum haben Sie das Telefon meiner Frau?«
Der Mann behauptete, Polizist zu sein und fragte, wo ich mich gerade befinden würde. Ich erklärte etwas verwundert, dass ich auf dem Weg nach Hause gerade die Osdorfer Straße passiert habe und bestand darauf, zu erfahren, was der Polizist, wenn er wirklich einer war, mit dem Telefon meiner Frau zu tun hatte.
Ich ahnte in jenem Moment, dass ich gleich eine schlechte Nachricht bekommen würde. Wenn die Polizei einen Anruf an einem privaten Mobiltelefon beantwortet, dann sicher nicht, um über das Wetter oder die Verkehrslage zu plaudern.
Kennen Sie das Gefühl, wenn einem an einem warmen Sommertag plötzlich eiskalt wird? Wenn man nicht weiß, wohin der schneller werdende Herzschlag und der Schweißfilm auf der Stirn den Körper führen werden? Ob man im nächsten Moment noch Herr seiner Sinne sein wird? So fühlte ich mich, während ich zuhörte.
Ein Verkehrsunfall sei geschehen, erklärte die Stimme, der Polizist habe das Telefon aus der Handtasche meiner Frau genommen als es läutete. Ich möge bitte zur Kreuzung Ostpreußendamm / Wismarer Straße kommen. Mehr könne er mir am Telefon nicht sagen. Ich war nur wenige Minuten von der Unfallstelle entfernt. Minuten, in denen Hoffnung und Angst um meine Gedanken stritten.
Eine Verwechslung. Warum hatte die Polizei dann das Telefon? Nur eine Schramme, meinetwegen ein gebrochenes Bein. Sie kann nicht schwer verletzt sein. Warum nimmt dann ein Fremder den Anruf entgegen? Weil sie stirbt oder tot ist. Unsinn, warum sollte sie tot sein. Außerdem kann das gleiche Unglück nicht zwei Mal den gleichen Menschen treffen. Ach nein? Wo steht das geschrieben? Der Blitz schlägt nicht zwei Mal in den gleichen Baum. So schlimm ist es nicht. Gleich wird sich alles aufklären.
Ich hielt hinter einem Polizeifahrzeug an. Die Mine des Polizisten, der auf mein Fahrzeug zukam, verhalf der Angst zum Sieg über die Hoffnung. Doch, es ist schlimm. Noch viel schlimmer.
Zögernd öffnete ich die Türe und stieg aus.
P.S.: Frohe Ostertage allen Leserinnen und Lesern.