Donnerstag, 8. Mai 2008

Über das Schreiben 6: Überrumpelt

Es sind die schlechtesten Autoren nicht, die sich von ihren Figuren gelegentlich überrumpeln lassen.
Diesen Satz las ich gestern der besten aller Ehefrauen aus der F.A.Z. vor, ohne zu sagen, von wem er stammt. Ich fragte, wer das wohl so trefflich formuliert haben könnte, und ihre erste Vermutung traf ins Schwarze: Marcel Reich-Ranicki. Wäre ich ein Jüngling, würde ich jetzt formulieren: Yeah! Eva rulez! Statt dessen bekenne ich: Sie ist unvergleichlich, denn sie versteht mich und kennt mich, und liebt mich trotzdem...

Ich schweife ab? Na wenn schon. Nun gut, zurück zum Thema. Ich habe schon manch ungläubig-zweifelnden Blick geerntet, wenn ich im Gespräch erzählte, dass meine Erzählungen gelegentlich eine Richtung einschlagen, die ich weder geplant, noch geahnt habe. Es gibt Autoren, die entwerfen ihre Texte bis ins Detail, bevor sie anfangen, zu schreiben. Ich zähle mich nicht zu ihnen.

Manchmal ist da nur ein Bild, wenn ich die ersten Worte zusammensetze, oder eine Empfindung. Ich weiß noch nicht, ob überhaupt etwas daraus werden wird, oder wann, oder wie. Aber meine Figuren haben grundsätzlich die Freiheit, mich zu überraschen, zu überrumpeln. Sie dürfen leben, während ich sie niederschreibe. Sie dürfen auch sterben. Sich anständig benehmen oder über die Stränge schlagen. Ich lege ihnen keine Zügel an.

Ich kam einmal in einen Hausflur mit eigentümlichem Odeur. Nach starken Putzmitteln, Salmiak, Zitrone... Doch unter diesem Geruch lauerte etwas, was fast überdeckt war, aber eben nur beinahe. Etwas Fauliges, Blutiges womöglich gar?
Ich erinnerte mich, während ich die Treppe empor stieg, an die Kindheit: Einige Jahre lebte ich in dörflicher Umgebung am Rande einer Kleinstadt. Die Nachbarn zur Linken und zur Rechten waren Landwirte, es wurde bei ihnen auch geschlachtet. Genau der Geruch, der nach einem solchen Ereignis dem Bauernhof noch tagelang entströmte, fand sich Jahrzehnte später in jenem Hauflur wieder. Beinahe zugedeckt von Ajax oder Meister Proper. Oder einer anderen Reinigungssubstanz, diesbezüglich bin ich kein Experte.
Am gleichen Abend begann ich zu schreiben, und es wurde eine meiner berüchtigtsten Kurzgeschichten daraus: Jessika. Ein harmloses, hilfsbereites Mädchen, das der mörderischen Hausmeisterin auf die Schliche kommt. Dass Jessika am Schluss der Erzählung in einem ganz anderen Licht erscheint, ahnte ich nicht, als ich schrieb. Ich war eigentlich dabei, sie in den letzten Sätzen umzubringen. Aber Jessika wollte nicht hinterrücks erdolcht werden. Sie hatte andere Pläne. Jessika hat mich überrumpelt.

Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Ob nun Liebesgeschichte (wie das Fragment) oder Grausiges wie die erwähnte Jessika - ich lasse mich gerne auf Abenteuer ein, wenn ich schreibe. Manche Texte werden nie fertig, bleiben Entwürfe, unvollendete Bruchstücke. Die liest in der Regel niemand außer mir.
Andere wachsen und gedeihen in erstaunlichem Tempo, in wenigen Stunden, zur Reife und dürfen sich dem Publikum präsentieren.
Es gibt auch Manuskripte, die über zehn oder mehr Jahre immer wieder aufgenommen, bearbeitet und beiseite gelegt werden, bevor ich sie dann dem Leser zugänglich machen möchte.
Manche Figuren tun, was ich will, andere tun, was sie wollen. So wird das Schreiben für mich nie langweilig. Und für das Publikum - so hofft wohl jeder Autor - auch nicht die Lektüre.

Mein Tipp Nummer 6 für alle, die (erzählend) schreiben (wollen): Nicht warten, bis ein Entwurf im Kopf »vollkommen« ist, sondern einfach anfangen und sich gelegentlich selbst überraschen lassen.

P.S.: Das Zitat von MRR stammt aus diesem wunderbaren Text, den er über Siegfried Lenz und dessen neues Buch geschrieben hat: Bettgeschichten hatten für ihn nie Beweisqualität

P.P.S.: Nachdem ich gestern (Dienstag) diesen Beitrag geschrieben hatte, fand ich heute (Mittwoch) ein Video, in dem Stephen King bezeugt, dass er mitunter ähnlich arbeitet.
My attitude as a writer is: If something is working, just stand aside and let it work itself out. And that's what I did. Stephen King on writing Duma Key

10 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Das ist interessant :) Eine Freundin von mir schrieb ein Buch und wir fragten uns, wie "echte" Autoren das machen. Laufen lassen und hinterherschreiben oder von vornherein festlegen. Leider lehnt ein Verlag nach dem anderen ab, obwohl ich es sehr gern gelesen habe und der Meinung bin, dass bedeutend schlechteres auf dem Markt herumsteht. Schade. ich hoffe, sie schreibt für sich selbst weiter. Aber jetzt kann ich ihr erzählen, wie es bei Günter ohne h und Stephen King manchmal läuft :)

Günter J. Matthia hat gesagt…

Moin Trülo!

Nicht nur Günter ohne h und Stephen King, sondern auch Siegfried Lenz und: »Tolstoj hatte ursprünglich keineswegs die Absicht, seinen berühmten Roman mit Anna Kareninas Selbstmord zu beenden. Das hat sie, Anna, entschieden, und Tolstoj musste ihrem Willen nachgeben. Auch Goethe ist es passiert, dass er sich in eine seiner fragwürdigsten Figuren (die Giftschlange Adelheid im „Götz von Berlichingen“) verliebt hat. Es sind die schlechtesten Autoren nicht, die sich von ihren Figuren gelegentlich überrumpeln lassen.«
So MRR in dem verlinkten Beitrag der F.A.Z.
Deine Freundin möge im Übrigen nicht aufgeben, sondern weiter Exposé und Leseprobe bei Verlagen einreichen. Natürlich nie und nimmer das ganze Manuskript, aber das ist ja bekannt. Manchmal dauert es einfach lange, den »richtigen« Verleger aufzuspüren.

Anonym hat gesagt…

...hat mich schmunzeln lassen Dein Beitrag, Günter

Zitat:

Dass Jessika am Schluss der Erzählung in einem ganz anderen Licht erscheint, ahnte ich nicht, als ich schrieb. Ich war eigentlich dabei, sie in den letzten Sätzen umzubringen. Aber Jessika wollte nicht hinterrücks erdolcht werden. Sie hatte andere Pläne. Jessika hat mich überrumpelt.


Ja, das kenne ich auch, dass mich Prots überraschen und ggf. mein schönes durchdachtes Konzept missachten und das finde ich ungemein spannend, ich überrasche mich quasi selbst.

Anonym hat gesagt…

Hallo Günter,

auch ich bin ein Schreiberling, der seine Geschichten nicht bis ins kleinste Detail durchdenkt und dann loslegt. Meist hab ich eine Ahnung, eine Idee - wie gerade jetzt, wo ich eine Glosse über etwas am Wochenende Erlebtes schreiben wollte, aber die Geschichte verselbständigt sich in eine ganz andere Richtung. Meine Ich-Figur will es anders. Dem muß ich mich beugen. Und das ist auch gut so.

Ich bleibe meinem Stil treu, auch wenn mitunter mehr Arbeit damit verbunden ist.

Genießt den herrlichen Tag - falls möglich auf der Terrasse inmitten eines Blumenmeeres - wo ich meinen "Schlepptop" aufgeklappt habe und in die Tasten hämmere.

LG Katharina

Anonym hat gesagt…

Also der Stephen King ist ja ein richtig netter Kerl, wie er da so plaudert. Duma Key fand ich klasse, habe es nach Deiner kürzlichen Empfehlung auf dem Blog gelesen. Auf Englisch, natürlich, daher kann ich Deine Frage nach der deutschen Version des Textausschnittes auch nicht beantworten.

Günter J. Matthia hat gesagt…

Immerhin... man befindet sich in guter Gesellschaft, wenn die Protagonisten entscheiden, wo es lang geht.

Zitat:

»Tolstoj hatte ursprünglich keineswegs die Absicht, seinen berühmten Roman mit Anna Kareninas Selbstmord zu beenden. Das hat sie, Anna, entschieden, und Tolstoj musste ihrem Willen nachgeben. Auch Goethe ist es passiert, dass er sich in eine seiner fragwürdigsten Figuren (die Giftschlange Adelheid im „Götz von Berlichingen“) verliebt hat. Es sind die schlechtesten Autoren nicht, die sich von ihren Figuren gelegentlich überrumpeln lassen.«



So MRR in dem (oben) verlinkten Beitrag der F.A.Z., den schrieb er ja über Siegfried Lenz. Na wenn das nicht eine illustre Gemeinschaft ist: Bettina, Goethe, Katharina, Tolstoi, meine Wenigkeit und Siegfried Lenz.

:-)

Anonym hat gesagt…

Da kann ich mich dann auch dazuzählen. Mir geht es immer so. Jedenfalls bei den Geschichten, die gut werden. Und wenn ich es wirklich mal mit Plan und Konzept versuche, weil ich denke, man müßte eigentlich - dann ergreifen die Figuren die Flucht und lassen mich schmählich allein mit dem leeren Papier bzw. PC. Ich höre sie dann nur noch in unsichtbarer dunkler Ferne schallend lachen oder ahne, wie sie die Stirn runzeln, weil sie enttäuscht sind von meiner Gastfreundschaft bzw. meiner Bereitschaft, ihnen eine Stimme zu verleihen.
Frühlingsgrüße, Patricia

Anonym hat gesagt…

Ich kann da auch ein Lied von singen. Als ich meinen ersten Thriller schrieb, pfiff die Protagonistin mir eins und ging ihren eigenen Weg. Als ich das mitbekam, war es viel zu spät. Das Buch endete gaaanz anders als gewollt. Das mir das geplante Ende aber am Herzen lag, schrieb ich kurzerhand einen weiteren Thriller und setzte es dort konsequent um.
Bei meinem einzigen Liebesroman, den ich geschrieben habe, musste ich mich ein ums andere mal zusammenreißen, damit der Prota nicht machte, was er wollte.

Anonym hat gesagt…

Das einzige, wo ich mich ´überrumpelt habe, war beim Schreiben des Lebenslaufes.

Anonym hat gesagt…

Hallo Günther,

über dein Thema Überrumpelt kann ich nur sagen, dass meine Helden immer das taten was ich ihnen sagte. Aber ich habe ja auch noch nie einen Roman geschrieben und da könnte ich es mir sehr gut vorstellen, dass ein überrumpeln passiert.

Das klingt nach einer sehr interessanten Erfahrung. Aber mir ist folgendes bei meiner längsten, abgeschlossenen Geschichte passiert, ist auch schon erwähnt worden...
Das Ende meiner Geschichte "Memoiren eines Schriftstellers" war ursprünglich grausam aber im laufe der Zeit mochte ich meinen Hauptdarsteller und vor allem seine behinderte Tochter so sehr, dass ich verzweifelt nach einem Happy End gegrübelt hatte und mich schließlich auch dazu entschlossen hatte.