Dienstag, 14. Oktober 2008

Gastbeitrag von Franz Kafka: Kleine Fabel

»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.«

»Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.


Quelle: Franz Kafka: Gesammelte Werke. Band 8, Frankfurt a.M. 1950. Zu finden bei Zeno

Montag, 13. Oktober 2008

Lehrer Lämpel


Also lautet ein Beschluß:
Daß der Mensch was lernen muß.
(Wilhelm Busch)
Heute und morgen folge ich mit meinen Kolleginnen im Büro diesem Beschluss und lerne was. Zwei Tage Schulung ist angesagt, und daher werde ich kaum dazu kommen, zu bloggen oder auf Kommentare zu antworten.

Allerdings ist vorgesorgt: Für morgen hat Franz Kafka einen Gastbeitrag verfasst, am 15. Oktober ist Blog Action Day zum Thema Armut. Den Beitrag habe ich bereits letzte Woche geschrieben. Am Mittwoch folgt der Eklat...


Also falls ich einstweilen nicht auf hier Hinterlassenes reagiere, liegt das am Leher Lämpel beziehungsweise seinem aktuellen Artgenossen, nicht an den Kommentaren.

Sonntag, 12. Oktober 2008

Günter Grass: Die Box

Es gilt, einen Roman zu beschreiben, der kein Roman zu sein vorgibt, sondern versucht, als Gesprächsprotokollsammlung mit nur sparsamen Kommentaren zum Rahmen der aufgeschriebenen Unterhaltungen den Leser naszuführen. Der Leser möge doch das Ganze für authentisch halten, biographisch, der Wahrheit nahe und verlässlich.
Das ist natürlich Unfug. Und das hat der Autor auch gar nicht im Sinn gehabt, meinem Empfinden nach. Zu viel Zauberhaftes aus der Box mischt sich in die Gespräche, die hier angeblich aufgeschrieben sind. Zu oft beschweren sich die Sprechenden über den Autor, der ihnen Dinge in den Mund legt, die sie nicht wissen und wollen. 
Und doch gelang es Günter Grass, mich bei Lesen immer wieder soweit zu verführen, dass ich mir beispielsweise sagte: Ach so war das damals, als er die Rättin schrieb... 

Nein, so war es natürlich nicht. »Die Box« ist ein Werk der erzählenden Literatur, keine Biographie. Dass der Dichter darin seine zahlreichen Kinder vorwiegend über ihn, den »Vatti«, plaudern, streiten und mutmaßen lässt, ist ein ganz und gar gelungener Kunstgriff, den mit solcher Konsequenz meines Wissens noch kein Schriftsteller angewendet hat. Die Box, die dem Buch den Titel gibt, von der »alten Marie« bedient und in der Lage, das Vergangene und Zukünftige zu fotographieren, spielt die Rolle, die in der Literatur oft der Erzähler selbst einnimmt: Dem Leser Dinge preisgeben, von denen Figuren in der Erzählung nicht wissen können oder dürfen.

Das neue Werk ist mir beim Lesen, wie häufig bei Günter Grass, auch ein Buch über mich geworden. Ich erkenne mich wieder, finde mich beschrieben, zum Beispiel in solchen Sätzen: »Euer Vater ist immer gern woanders und weranders.« In Szenen, in denen er - zwar körperlich anwesend - nur ein paar Türen weiter an seinem Stehpult Worte auf das Papier fließen lässt oder zwingt, aber doch ganz weit weg von Familie, Alltag und Realität ist. 

Sprachlich leistet sich Günter Grass so manches, was mich auf die Palme zu bringen vermag. Unvollständige Sätze noch und noch, Formulierungsfragmente, Bruchstücke. Das ist der Situation geschuldet, zweifellos, soll die durcheinanderredenden Kinder des Dichters hörbar werden lassen. Gestört, zumindest in dieser Häufung, hat es mich doch, genau wie es mich im Alltag irritiert, wenn jemand fragt: »Kann ich mal die Buttter?« 
Immerhin, Günter Grass setzt drei Pünktchen hinter solche Satzscherben...

»Die Box« ist sicher kein alle anderen Werke überragender Roman, aber Günter Grass ist gelungen, was für mich die Lektüre eines Buches lohnend macht: Ich habe mich keinen Augenblick gelangweilt, nie mit dem Gedanken gespielt, ein paar Seiten zu überblättern. Er hat mich gelegentlich geärgert mit diesem Buch, auch hier wie dort amüsiert, aber er hat mich ohne Langeweile durch die rund 200 Seiten geführt. Sobald sich ein paar freie Minuten ergaben, griff ich zu diesem Buch und ließ dafür ein anderes, vorher angefangenes, gerne liegen. 

Mein Fazit: Eine unterhaltsame Lektüre, die gelegentliche Einblicke in zurückgelegtes Zeitgeschehen erlaubt und durch die regelmäßige Hereinnahme von Tatsachen in die Handlung dazu verführt, dem Autor fast zu glauben, was er da fabuliert. Und warum sonst sollte man Romane überhaupt lesen?

Günter Grass: Die Box
18 Euro
Gebundene Ausgabe: 215 Seiten
Verlag: Steidl
ISBN-10: 3865217710
ISBN-13: 978-3865217714
Zum Beispiel hier bei Amazon: Die Box: Dunkelkammergeschichten

Samstag, 11. Oktober 2008

Gefängnisinsassen

Immer öfter stellt sich der eine Aspirant auf den Präsidentensessel in jenem großen Land, in das ich so gerne reise und in dem ich gerne leben würde, selbst ein Bein. In den letzten Tagen hat er seine Landsleute als »fellow prisoners«, also »Mitgefangene« angeredet (Freudsche Fehlleistung? Wo war er eigentlich mit den Gedanken?) und seinen Konkurrenten als »that one«, was unter Politikern und einigermaßen zivilisierten Menschen eine völlig inakzeptable Beleidigung ist, bezeichnet. Im Deutschen könnte man »der Kerl da« sagen.





Obama lächelte nur, seine Mannschaft reagierte auf die verbale Ohrfeige gelassen, blitzschnell und mit viel Humor, wie Haso berichtet hat: That One

Womöglich merkt ja auch das Wählervolk so langsam, dass McCain eher die wohlverdiente Rente genießen als ein Land durch erhebliche Krisen lenken sollte. Die letzte Umfrage von CNN lässt hoffen: McCain liegt 9 Prozentpunkte zurück.

Freitag, 10. Oktober 2008

Recht hat er!

Wenn man einen Literaturkritiker fragt, was nur ein Romanautor wissen kann, ist er dann in Verlegenheit? Keineswegs, wenn es sich um Marcel Reich-Ranicki handelt. Ein gewisser Manfred Bourgeois aus Aachen stellte diese Frage:
Ist ein Roman im Kopf eines Autors bereits fertig, bevor er zu schreiben beginnt, oder entsteht das Werk erst allmählich Satz für Satz, indem der Autor sich während der Abfassung des Textes von seiner Spontaneität, Intuition und Phantasie tragen oder gar treiben lässt?
Marcel Reich-Ranicki antwortete:
Sie sprechen von zwei verschiedenen Möglichkeiten der Entstehung eines literarischen Werks. Aber es gibt noch viele andere Möglichkeiten, das „Entweder - Oder“ ist bestimmt nicht richtig.
Tolstoi hatte keineswegs die Absicht, die Geschichte seiner Anna Karenina mit ihrem Selbstmord abzuschließen. Erst während der Arbeit an diesem Roman sah er, dass er ihn mit einer Verzweiflungstat, mit ihrem Tod beenden musste. Warum „musste“? Anna habe ihn, bemerkte er gelegentlich, dazu gezwungen. Man könnte sagen, ihr Tod auf den Gleisen der Eisenbahn war nicht seine, vielmehr ihre Entscheidung.
Auch das Verhältnis anderer Autoren zu ihren Figuren hat sich oft während der Arbeit am jeweiligen Werk deutlich geändert. Ein berühmtes Beispiel aus der deutschen Literatur: Goethe und seine schöne Intrigantin und Giftmischerin Adelheid von Walldorf im „Götz von Berlichingen“. In „Dichtung und Wahrheit“ heißt es: „Ich hatte mich, indem ich Adelheid liebenswürdig zu schildern trachtete, selbst in sie verliebt . . .“
Schön für mich, das zu lesen. Weiß ich mich doch nun mit Goethe und Tolstoi vereinigt, da es mir mit meinen Figuren in Roman oder Kurzgeschichte, Erzählung oder Fragment oft genug nicht anders geht.

Mein Tipp für schreibende Zeitgenossen: Den Figuren ihren Willen lassen, die wissen manchmal besser, was sie wollen, als der Autor.

Mehr kluge, poltende oder begeisterte Antworten auf manchmal nicht ganz so kluge Fragen gibt Marcel Reich-Ranicki regelmäßig in der F.A.Z., auch im Internet nachzulesen: Fragen Sie Reich-Ranicki

Foto: Wikipedia

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Volxbibel lesen und mit dem ZEN-Player I'm Not There schauen?

Schon ulkig, was die Amazon-Maschine so alles zusammenbastelt. Da schaut man sich ein paar Artikel an und dann kommt so was dabei raus. Amüsant allemal. Wenn ich nun diesen Amazon-Empfehlungen folge, kann ich dann die Volxbibel hören und I'm Not There lesen? Oder brauche ich da erst noch den ZEN-Player, der auf meiner Wunschliste steht?

Rätsel über Rätsel. Einstweilen höre ich die erste Folge der dritten Staffel der Theme Time Radio Hour »Money« auf meinem schon recht ramponierten, gerade notdürftig reparierten (zu was Büroklammern so alles gut sind...) alten MP3-Player und weiß jetzt, warum Bob Dylan nicht unter dem Empire-State-Building spazieren gehen möchte.

P.S.: Morgen geht es hier auf dem Blog nicht um Musik.

Kleiner Tipp zu m4a

Wenn jetzt jemand fragt: »M4a? Was soll das denn sein?«, dann ist dieser Tipp für denjenigen überflüssig. 

Falls jedoch jemand ratlos ein entpacktes Verzeichnis betrachtet, in dem lauter Dateien mit der Endung .m4a stehen, die er weder auf Audio-CD brennen noch (womöglich) anhören kann, dann ist dieser Tipp sicher hilfreich.

Es mag auch sein, dass man irgendwann in der Zukunft dem Format begegnet und sich dann erinnert: Da gab es doch mal einen Tipp...

Das .m4a-Format ist eine von vielen Variante, in Nullen und Einsen verwandelte Musik zu speichern. In der PC-Welt ist allerdings eher .mp3 gebräuchlich, und auf vielen PCs fehlt vermutlich schon mal die Software, um .m4a abzuspielen, geschweige denn, Audio-CDs daraus zu brennen. Nero kann das nicht, der Windows-Mediaplayer auch nicht, DeepBurner versteht nur Bahnhof...

In solchen Fällen ist ein kleines Programm hilfreich, das nichts kostet und das bei mir seit längerer Zeit störungsfrei seinen Dienst verrichtet. Es nennt sich »Free M4a to MP3 Converter« und kann so gut wie nichts, außer das, was es können soll: Aus .m4a-Dateien .mp3-Dateien machen. Und noch ein paar andere eher exotische Konvertierungen erledigen. Hier geht es lang zum Download: Maniactools / Free M4a to MP3 Converter.

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Bob Dylan: Tell Tale Signs

Bob Dylan hatte schon immer ein Herz für die Bootleggers. Das sind die Fans, die Konzert für Konzert mitschneiden und unter die Leute bringen, kostenlos natürlich, auch nicht verwendetes Studiomaterial wird gerne genommen. Ehrenhafte Bootleggers hüten sich davor, Material zu verwenden, das als CD oder LP offiziell veröffentlicht wurde, nach dem Motto »Keep the Bob-Boots-Lake clean - don't steal music!«
Es gibt seit Jahren von der offiziellen Bob-Dylan-Seite im Internet einen Link zu »Expecting Rain« - dort sind tausende von Bob-Boots zu finden. Bob Dylan weiß, was er da verlinken lässt, und er lobt die Musikbegeisterten: »Some of these bootleggers, they make pretty good stuff. Plenty of places to hide things here, if you wanna hide them bad enough« sang er in »Sugar Baby«.
Und im Video zum aktuellen Album »Tell Tale Signs« gibt es nicht Bob Dylan zu sehen, sondern einen Bootlegger, der fleißig sammelt und zusammenstellt, was er an Bootlegs finden kann. Wenn »Sugar Baby« noch nicht deutlich genug ausdrückte, dass His Bobness die Bootlegger schätzt und ehrt, dann ist es mit diesem Video endgültig besiegelt.

Nun ist das neue Album ein Teil der offiziellen Bootleg-Serie - und einige Fische sind prompt aus dem Bob-Boot-Teich entfernt worden, weil jetzt ja offiziell veröffentlicht. Zu hören gibt es auf »Tell Tale Signs« alternative Versionen und ein paar Live-Mitschnitte sowie Lieder, die es nicht auf die letzten Alben geschafft haben. (Es gibt noch eine überhöht teure 3-CD-Version, die rund 100 Euro kostet. Von der würde ich abraten, schon um zu zeigen, dass es gewisse Grenzen gibt, auch bei Columbia Records und Bob Dylan.)
Zu bewerten, welche Version eines Songs die bessere sei, ist immer eine sehr subjektive Angelegenheit. Und bei mir zumindest ändert sich das auch je nach Stimmung und Lebenslage. Bob Dylan selbst beweist mit jedem Auftritt, dass seine Lieder leben, immer nur eine Momentaufnahme sind. Was gestern als sanfte Ballade daher kam, kann morgen zum zornigen Rock oder zum monotonen Sprechgesang mutieren. »Fertig« sind seine Songs jedenfalls nie. Das zeigen mir auch einige Eindrücke vom vorliegenden Album (in der bezahlbaren 2-CD-Version). Nicht zu allen Songs will ich mich äußern, das würde den Rahmen sprengen...

Disk: 1
1. Mississippi
Da geht es schon los mit der Subjektivität: Gefällt mir besser, viel besser sogar, als die Version, die es auf die CD »Time Out Of Mind« geschafft hat. Heute und hier zumindest, vielleicht spricht mich morgen wieder die andere mehr an?

2. Most Of The Time
Das Album »Oh Mercy« ist mir stets ein zwiespältiges gewesen, dieser Song neben »Dignity« mein Liebelingslied unter den ansonsten eher mittelmäßigen Songs. Nun höre ich eine entschlackte Version, und kann mich nicht entscheiden, ob sie mir gefällt.

4. Someday Baby
»Modern Times« ist von den drei letzten Alben mein liebstes. Es hätte noch besser sein können, wenn diese Version von »Someday Baby« darauf gelandet wäre. Die gefällt mir nun wirklich wesentlich besser.

5. Red River Shore
Warum nur hat uns Bob Dylan oder der Produzent diesen Song bisher vorenthalten? Soooo voll war doch »Modern Times« noch nicht. Ein ganz bezauberndes Liebeslied, das ein hervorragendes Album noch bereichert hätte.

8. Can't Wait
Wie bei »Someday Baby« scheint mir nach heutiger Befindlichkeit diese Version die bessere zu sein. Es klingt, als sei His Bobness innerlich mehr bei der Sache als in der Fassung, die auf dem Album erschienen ist.

10. Dreamin' Of You
Dieser Song ist sozusagen Teig, aus dem viele Brote geformt wurden. Zahlreiche Textzeilen finden sich in anderen Songs wieder, in anderen Zusammenhängen, in anderen Stimmungen. Ein Abenteuer für jeden Bob Dylan Fan, eine Schnitzeljagd. Faszinierend.

13. High Water (For Charley Patton) - Live, 2003
Nun ja. Eine Momentaufnahme. Da gab es unter den Bootlegs der letzten Jahre einige, die mir mehr zusagten. Vielleicht hätte man bei Expecting Rain stöbern sollen, als dieses Album zusammengestellt wurde?

Disk: 2
1. Mississippi
Noch eine Version, und - das macht den Reiz dieses Albums aus - wieder eine andere Stimmung beim gleichen Song. Wie viele mag es geben? Mir gefällt die von Disk 1 besser, dann folgt diese hier und dann auf Platz 3 die vom offiziellen Album. Heute zumindest.

2. 32-20 Blues
So was kann er auch, der Bob, einen kleinen Blues für zwischendurch, nicht aufregend, aber auch nicht langweilig. Die Aufnahmequalität ist allerdings nicht ganz auf der Höhe...

3. Series Of Dreams
Diese Version ähnelt der auf dem Album »Oh Mercy«, aber die abweichende Instrumentierung und die mehr im Vordergrund stehende Stimme geben im Ganzen doch eine andere Stimmung wieder. Etwas trauriger, finde ich, und das ist ja bei Dylan Songs oft gerade das, was fasziniert.

4. God Knows
»God knows« wirkt auf mich immer, auch in dieser Fasung, wie ein Song, aus dem noch was werden könnte. Rohmaterial, so wie »Dreamin' of you«, Gedanken und Bruchstücke, die zu etwas führen könnten, was wirklich herausragend wäre. Aber Bob Dylan meinte wohl, der Song sei fertig.

7. Ring Them Bells - Live, The Supper Club, 1993
Das Supper-Club-Bootleg in meiner Sammlung ist eines meiner Lieblingsalben. Das, was als »MTV-Unplugged« ungefähr zur gleichen Zeit entstanden ist, deutet nur an, was im »Supper Club« deutlich wurde: Ein ganz und gar leidenschaftlicher Bob Dylan, der mit einer selten gehörten Intensität singt. Was bin ich froh, das komplette Supper-Club-Album mit beiden Shows zu haben. »Ring Them Bells« ist ein gut gewählter Ausschnitt.

8. Cocaine Blues - Live, 1997
Dieser Song fällt vor allem durch die recht bescheidene Aufnahmequalität auf. Hat da jemand ein Diktiergerät in die Luft gehalten? Immerhin: Schöner Harmoniegesang, aber ansonsten und auf diesem Album eigentlich überflüssig.

9. Ain't Talkin'
Wenn man diese Version einmal gehört hat, möchte man »Ain't Talkin'« von »Modern Times« ausradieren. Auf einmal wird das Lied zu einem ganz und gar mitreißenden, intimen Blick in die Seele eines Mannes, der es aufgegeben hat, mit dem Publikum der Konzerte zu reden. Und der statt dessen als Moderator der »Theme Time Radio Hour« scherzt, predigt und plaudert.

11. Lonesome Day Blues - Live, 2002
Eine sehr zornige Version eines bestürzenden Liedes, dessen Veröffentlichung am 11. September 2001 so manchen Fan davon überzeugt hat, dass Bob Dylan auch ein Prophet sein kann.

14. 'Cross The Green Mountain
Das letzte Lied dieses Albums, und - ich bin immer noch ganz subjektiv - das beste. Ein Endzeitbild einschließlich der Entrückung, ein Blick in die Seele, oder einfach nur ein wunderbarer Song, das mag jeder für sich entscheiden.

Mein Fazit: Für Fans eine reich gefüllte Schatztruhe. Für Menschen, die gelegentlich Bob Dylan hören, empfehlenswert. Für Zeitgenossen, die »Blowing in the Wind« in der 60er-Jahre Version erwarten, wenn sie den Namen Dylan hören, ungenießbar. Für jemanden, der überhaupt keine Ahnung hat, was und wie Bob Dylan heute musiziert, würde ich eher zu »Modern Times« als Einstieg raten.
Zu finden ist »Tell Tale Signs« - auch in der unverschämt teuren Version - unter anderem bei Amazon: Tell Tale Signs: the Bootleg Series Vol.8


P.S.: Zeichnung bei Croz gemopst, Coverbild bei Amazon.

Dienstag, 7. Oktober 2008

»Aber die gehört doch...

...zu einer Pfingstgemeinde«, meinte die Amerikanerin, mit der ich kürzlich über die US-Wahlen sprach. Die Rede war von Sarah Palin, die gerne als Vizekandidatin mit John McCain ins Weiße Haus gewählt werden möchte.
Als sei die Zugehörigkeit zu einer Pfingstgemeinde (von Frau Palin sowieso inzwischen abgelegt) ein Garant für erfolgreiche Politik. »Und wenn Obama sagt, dass er Christ sei, dann ist er aber jedenfalls nicht wiedergeboren«, fügte besagte Gesprächspartnerin noch hinzu. Als sei eine Wiedergeburt Garant für erfolgreiche Politik.
Es scheint in manchen amerikanischen Köpfen die Vorstellung zu herrschen, als ginge es um die Wahl eines Bischofs oder Predigers, anstatt um die Wahl einer Partei, die dann ihren Präsidentschaftskandidaten nominiert und wählt.
Ob jemand Putin für den deutschen Bundespräsidenten hält (McCain) oder eine widerliche Schlammschlacht betreibt und den demokratischen Kandidaten (der seinerzeit noch ein Kind war) in die Nähe eines ehemaligen Terroristen rückt (Palin), ist offenbar weniger entscheidend als die Zugehörigkeit zu einer Konfession.

Allerdings scheint dies kein »amerikanisches« Phänomen zu sein. Wenn man die Deutschen fragt, warum sie diesen oder jenen Kandidaten wählen wollen, erfährt man in der Regel auch wenig vom Wahlprogramm oder den politischen Zielen, dafür umso mehr, dass jemand »nett aussieht« oder »gut reden kann«.
Fragt man, warum jemand nicht gewählt wird, hört man »weil er schwul ist« oder »die sieht so ungepflegt aus«.
Vermutlich hatte Rudi Assauer recht, als er über Franz Beckenbauer sagte: »Er könnte 14 Tage vor der Wahl eine Partei gründen und würde dann Kanzler.«

Mir ist jemand, der eine politische Vision hat, jedenfalls lieber als jemand, der im alten Trott weitermachen will, wenn der alte Trott gezeigt hat, dass er dem Land nicht gut tut. Ob alle Visionen sofort umsetzbar sind, mag dahingestellt sein. »I have a dream...« sagte einmal jemand, der davon träumte, dass schwarze Amerikaner an den Universitäten studieren dürfen, dass die Hautfarbe einen Menschen eines Tages nicht mehr zum Untermenschen machen wird. Dieser Traum wurde verlacht und der Träumende erschossen. Der Traum allerdings ließ sich nicht ermorden.
»Yes, we can!« sagt heute ein Kandidat in Amerika, der sich beharrlich weigert, sich auf das Schlammschlacht-Niveau seiner politischen Gegner zu begeben. Ich hoffe, dass die Leibwächter gut auf ihn aufpassen. Seine Vision mag manchem unrealistisch erscheinen. Aber wenigstens hat er eine. Und das mag für das angestrebte Amt mehr wert sein, als die Zugehörigkeit zu einer Pfingstgemeinde.

Montag, 6. Oktober 2008

Ein Krimi, der kein Krimi war

Der gestrige »Tatort« hat bei mir mehr Betroffenheit ausgelöst als irgend einer zuvor, soweit ich mich überhaupt an die Folgen erinnere. Die meisten vergesse ich nach ein paar Wochen sowieso. Diesen sicher nicht so schnell. Dazu mag beitragen, dass ich vor etlichen Jahren das Sterben eines 12jährigen Kindes an der Mukoviszidose aus familiärer Nähe miterlebt habe - doch dieser Film hätte mich wohl auch ohne diese eigene Erfahrung tief angerührt.

War das überhaupt ein Krimi? Rein sachlich betrachtet schon, aber die Krimihandlung (Mörder suchen und finden) stand irgendwie ungewohnt im Hintergrund. Auch Kopper und Odenthal, die beiden ermittelnden Kommissare, waren nicht wirklich die prägenden Figuren.

Da waren für mich vielmehr zwei Schauspielerinnen diejenigen, die diesen Film zu mehr als einem Krimi machten: Susanne Lothar, die vor rund einem Jahr ihren Mann Ulrich Mühe beim Sterben begleitet hat als Mutter und das Mädchen (Stella Kunkat), das die Sterbenskranke so unverfälscht und ohne Pathos gespielt hat, wie man es von einem Kind kaum erwarten würde.

Sterbehilfe - ja oder nein? Eine Frage, auf die es viele Antworten gibt, eine Frage, die ich nicht mit Ja oder Nein zu beantworten in der Lage bin. Der Focus:
„Sterben ist keine Idylle“, sagt der Vorsitzende von „Charontas“, „und manchmal ist es ein Verbrechen, nicht zu helfen.“ Wahrscheinlich hat er Recht. Der Anwalt dieses Vereins sagt: „Die Leute finden einen Weg, sich umzubringen.“ Wahrscheinlich hat er Recht. Der Vater des sterbenskranken Mädchens Julia sagt zu seiner Frau: „Ich entscheide nicht, wann sie zu sterben hat. Und du auch nicht. Wir haben kein Recht dazu.“ Wahrscheinlich hat er Recht. Alle haben Recht, irgendwie. Aber wer hat mehr Recht in diesem Fall? (Quelle: Focus Online)
Was würde ich tun, wenn ich mit einem solchen Schicksal als Elternteil konfrontiert wäre? Ginge es mir wie der Mutter im Film? „Wie halten Sie das aus?“, fragte die Kommissarin. Susanne Lothar mit dem (schmerzhaften) Versuch eines Lächelns: „Gar nicht.“

Foto: ARD