»Gut Ding will Weile haben«, behauptet der Volksmund. Ob die Entblößung, die einen Tag länger auf ihre Fortsetzung warten musste als geplant, gut ist, überlasse ich dem Urteil der geschätzten Leser, die ja zum Volk gehören und somit Teil des Volksmundes sind.
Es wird noch einen weiteren Teil geben, womöglich zwei, das hängt in gewisser Weise von der Entscheidung ab, die wie bei diesem Experiment üblich durch eine Mehrheit – wenn denn eine zustande kommt – getroffen wird. Wer noch einmal die vorangegangenen Teile lesen möchte, oder wer sie noch gar nicht kennt, darf hier klicken: Teil 1 /// Teil 2 /// Teil 3 // Teil 4
So. Unser Stephan Haberland ist in einer fremden Wohnung gelandet, Lisa ist auch noch da, und weiter geht es:
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Er setzte sich. Lisa hatte eine Flasche Wein, Gläser und eine Schale mit Pistazienkernen bereitgestellt. Sie schenkte ein und sie ließen die Gläser aneinander klingen. »Auf die Entblößung«, sagte Lisa.
»Auf dich!«, meinte er. »Bezüglich der Entblößung hätte ich noch einige Fragen zu stellen.«
»Ich antworte nicht immer auf Fragen. Eigentlich eher selten. Die meisten Fragen, die gestellt werden, sind so überflüssig wie die Grippeimpfung für einen gesunden Organismus.«
»Dein Buch, es lässt mehr offen, als dass man Antworten finden würde. So etwas mag ich eigentlich, aber nicht in diesem Fall.«
»Ich weiß, dass es dir gefallen hat. Eigentlich habe ich Mein zweites Ich für dich geschrieben. Und für Isis, natürlich.«
»Wann hast du Isis zum letzten Mal gesehen?«
»Erzähl mir von ihr. Das, was nicht in meinem Buch zu finden ist.«
Stephan Haberling trank einen Schluck Wein, während er überlegte, wo er anfangen sollte. In ihrem Buch – eine als Roman verkleidete Autobiografie – hatte Lisa die Kindheit mit ihrer Zwillingsschwester Isis geschildert, das Heranwachsen, dann die Studienjahre. Die Schwestern im Buch trugen andere Namen, und die Handlung spielte sich an anderen Orten ab als im wirklichen Leben. Und dann, nach der Ankündigung, dass Isis heiraten würde, gab es eine Lücke in der Erzählung. Genau genommen brach die Geschichte einfach ab. Das letzte Kapitel schilderte nur, wie Isis gestorben sein musste. Vermutlich. Wahrscheinlich. Allem Anschein zufolge. Es gab niemanden, der Aufschluss hätte geben können. Die potentiellen Zeugen waren so tot wie Isis.
Als er Mein zweites Ich las, vor nunmehr fast acht Jahren, war er fassungslos. Wie konnte eine Autorin, von der er nichts wusste, die er nicht kannte, eine Romanfigur entwerfen, deren Geschichte so viele Parallelen mit dem Leben seiner Frau aufwies? Wie konnten der Charakter, die Eigenarten, sogar einige körperliche Merkmale so ähnlich, wenn nicht gar identisch sein?
Er wusste, dass Isis eine Zwillingsschwester gehabt hatte, keine eineiige, daher war die äußerliche Ähnlichkeit nicht größer als normalerweise bei Geschwistern zu erwarten. Isis redete selten und ungern über ihre Herkunft und Familie, er wusste nur, dass es eine Tragödie gegeben hatte, bei der ihre Eltern und Anina ums Leben gekommen waren. Er hätte nach der Lektüre des Romans natürlich Isis fragen wollen, ob manche der geschilderten Erlebnisse Phantasie oder Biographie waren. Das wenige, was sie preisgegeben hatte, legte die Vermutung nahe, dass Mein zweites Ich ihre wahre Geschichte erzählte. Aber Isis konnte nicht mehr Auskunft geben, er war und blieb mit seinen Fragen allein.
Er hatte versucht, mit der Autorin des Romans in Kontakt zu treten, erfolglos. Lisa del Giocondo war offenbar ein Pseudonym, und niemand schien in der Lage oder bereit zu sein, die Identität der Schriftstellerin aufzudecken. Es wurden keine Lesungen mit ihr veranstaltet, keine Autogrammstunden, selbst bei der Verleihung eines Buchpreises in Frankfurt war der Agent desVerlages erschienen, um die Ehrung an Lisas Stelle entgegen zu nehmen.
»Du bist doch in Wirklichkeit Anina, oder?«, fragte er sie.
Dieses Mal erhielt er sogar eine Antwort: »Ich war Anina. Jetzt bin ich Lisa, italienischer Abstammung statt ägyptischer. Ich fand das am ehesten plausibel, zu meinem Äußeren passend.«
»Und offensichtlich bist du nicht tot.«
Sie schwieg und schenkte Wein nach. Er hatte auch keinen Kommentar erwartet. Wie viele Worte, die man im Lauf des Tages aussprach, waren eigentlich wirklich notwendig oder zumindest angebracht? Zehn Prozent? Noch weniger?
Die beiden schwiegen eine Weile.
Dann sagte Lisa: »Erzähl mir von Isis, bitte.«
Stephan zündete sich eine Zigarette an und begann: »Es war ein Schicksalsjahr, 2001. Ich habe Isis am 5. Mai geheiratet, aber ich konnte nicht lange bei ihr bleiben. Vermutlich weißt du, dass ich damals für den Spiegel als Korrespondent aus Ägypten schrieb. Ich hatte einige einheimische Kontakte und sehr widersprüchliche Informationen wurden mir von ihnen zugetragen. Ein paar Tage nach unserer Hochzeit bat mich ein Mann an einer Straßenecke um Feuer für seine Zigarette. Ich wusste sofort, dass er kein normaler Passant war, denn er rauchte die eben angezündete Zigarette nicht, sondern hielt sie nur in der Hand. Er fragte mich, ob ich an einer brisanten und wertvollen Information interessiert wäre. Ich erklärte ihm, dass ich kein Geld ausgeben konnte, und er meinte, das sei auch nicht nötig.«
»Das ist aber nicht die Geschichte von Isis«, unterbrach ihn Lisa. »Das ist deine Geschichte, vielleicht. Man weiß es ja nicht, bei einem Autor, wie viel von seinem Erzählten wirklich passiert ist.«
»Warum hast du eigentlich kein weiteres Buch geschrieben?«
Sie antwortete auch auf diese Frage, worüber Stephan gleichermaßen erstaunt und erfreut war. »In mir war nur dieses eine Buch vorhanden. In dir sind noch viele Bücher.«
»Davon weiß ich nichts. Im Augenblick wüsste ich nichts zu schreiben.«
»Nobody can say where a book comes from. Least of all the person who writes it.«
»Das hat Paul Auster irgendwo geschrieben.«
»Leviathan.«
»Woher weißt du, dass in dir kein weiteres Buch ist, wenn du glaubst, dass in mir noch welche sind?«
»Ich bin keine Autorin. Ich bin Fotografin. In mir sind Bilder. Erzähl mir von Isis, bitte.«
»Ich kehrte am 28. Juni zu ihr zurück. Sie stand am Rand der Wiese hinter unserem Garten, wo einst ein kleiner Bach entsprungen war. Der war längst ausgetrocknet. Sie war müde, schlaftrunken, erschöpft. Ich nahm sie in die Arme und sagte ihr, dass ich sie liebte. Sie fragte, wo ich gewesen war, und ich erklärte ihr, dass es kein besonderer Ort war. Ich würde anders aussehen, meinte sie. Ich bestätigte, dass dem wohl so sei. Ich hatte sieben Wochen fernab der Zivilisation verbracht, wenig gegessen, keinen Rasierapparat benutzt und zum Waschen gab es meist nur eine Schüssel voll brackigen Wassers, wenn überhaupt. Du warst fort, sagte sie müde. Ja, natürlich war ich fort, antwortete ich. Sie fragte: Bleibst du jetzt hier? Ich blickte Isis in ihre unvergleichlichen Augen und sagte: Wenn du es willst, ja.«
»Und du bist geblieben.«
»Ich bin geblieben. Wir hatten etwas mehr als zwei Monate, einander zu lieben, zu genießen, von unserer Zukunft zu träumen. Es war kein Urlaub, aber ich musste nicht reisen. Sie arbeitete an ihrer Dokumentation, und je länger sie sich mit dem Stoff beschäftigte, desto verzweifelter wurde sie.«
Lisa schenkte Wein nach, Stephan Haberling zündete sich eine weitere Zigarette an. Sie schwiegen einige Minuten.
»Sie war kurz davor, die letzten Lücken in ihrer Dokumentation zu schließen«, sagte Lisa schließlich. »Sie schrieb mir einen Brief, am 30. August, der mich aber wegen der Umstände erst am 10. September erreichte. Ich hatte die beiden Puzzlestücke, die ihr fehlten. Nachher zeige ich dir den Brief. Ich habe damals versucht, gegen alle Regeln und Vernunft, Isis telefonisch zu erreichen, aber es war zu spät.«
Stephan Haberling fragte: »Wo warst du eigentlich? Ich nahm an, du seiest schon Jahre zuvor verstorben, bei einer Tragödie, die mir nie genauer erläutert wurde.«
»Es wussten nur sehr wenige Menschen die Wahrheit. Isis natürlich, und zwei Personen in der Zentrale, die mir die neue Identität ermöglicht und verwirklicht haben. Es waren einige Umwege notwendig, es gab Sackgassen und Fehlschläge, aber im Dezember 1989 war ich dann Lisa del Giocondo, das Wirrwarr um den Fall der Mauer und die deutsche Vereinigung hat mit letztendlich echte Papiere und eine glaubhafte Vergangenheit beschert. Ich arbeitete in München als Fotografin, seit zwei Monaten bin ich nun in Berlin. Deinetwegen. Immerhin konnten wir uns Briefe schreiben, Isis und ich. Der Transport dauerte lange, aber Telefon oder gar E-Mail war tabu, schon um Isis zu schützen, aber auch, damit ich am Leben blieb. Ich war zwar offiziell bereits tot, aber wenn die falschen Menschen mich aufgespürt hätten, wäre ich nirgends mehr sicher gewesen.«
»Und was hat sich jetzt geändert?«
»Anina muss tot bleiben, um nicht zu sterben. Lisa darf leben. Und Lisa musste dich treffen.«
»Also hast du die Galerie ins Netz gestellt. Als alter.ego, um mich öffentlich zu entblößen.«
»Ach Stephan! Du hast den Sinn der Galerie noch nicht erfasst? Ich hatte angenommen, dass du den gedanklichen Weg von Mein zweites Ich zu alter.ego finden würdest. Dann hätte eine Google-Suche genügt, um festzustellen, dass Lisa del Giocondo gar kein Pseudonym war, sondern dass die preisgekrönte Autorin – inzwischen als Fotografin tätig – ihre Diogenestonne aufgegeben hat und nach Berlin übergesiedelt ist.«
Er schüttelte den Kopf. Darauf war er nicht gekommen, und er bezweifelte, dass ihm das in absehbarer Zeit durch noch mehr Nachdenken und Grübeln gelungen wäre. Jetzt, mit dem Wissen, dass Isis’ Schwester lebte und die Urheberin der Galerie war, ahnte er auch, wie die Fotos zustande gekommen sein konnten. Allerdings hatte dann der ehemalige Kollege seines Nachbarn doch Unrecht.
»Mich hat ein Experte der Polizei wissen lassen, dass die Aufnahmen nicht manipuliert sind. Wenn du, wie auch immer, an die Fotos von Isis gekommen bist, dann kann das aber nicht stimmen.«
Sie schwieg und lächelte. Es war Isis’ Lächeln, es waren Isis’ Augen. Er wusste bereits, dass sein Leben nach diesem Abend, irgendwann bald, in die Zweisamkeit münden musste. Milan Kundera hatte in einem seiner frühen Romane gemutmaßt, dass ein ideales Paar ursprünglich als Ganzes geschaffen und dann von widrigem Schicksal getrennt worden sei; es käme nur darauf an, dass die beiden sich irgendwann treffen und was sie dann aus ihrer Begegnung machen. Lisa, das andere Ich, war sie eine Art Wiedergutmachung des Himmels für das Entsetzten und das Leid, das ihm widerfahren war? Hatte das widrige Schicksal womöglich ein Einsehen?
»Man könnte das ja noch aufhalten. Irgendwie.«, wiederholte Lisa leise in seine Gedanken hinein ihre zweite E-Mail.
Fassungslos fragte er: »Heißt das etwa, die Entblößung geht weiter?«
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So, liebe Leser. Nun seid ihr wieder dran. Wird es am nächsten Morgen ein weiteres Bild in der Galerie geben oder nicht?
Die Entblößung im Internet... |
...ist nicht aufzuhalten. Her mit dem Adamskostüm! |
...wird nicht stattfinden. Die restlichen Textilien bleiben! |
Auswertung |
Weil diese Folge einen Tag später als geplant erscheint, warte ich vor dem Weiterschreiben den Dienstagmorgen ab.
Nachtrag 5. November: Wer mag, kann noch abstimmen, aber das Ergebnis ist eindeutig. Herr Haberling wird entblößt. Ein gnadenloses Publikum seid ihr! :-)
5 Kommentare:
extrem gut.
wunderbar.
mit welchem Preis bist Du eigentlich gekrönt?
ach ja, übrigens...
es gibt ja in jeder Geschichte so autobiografische Züge.
Nein, ich will jetzt nicht wissen, ob Du diese Narbe am Knie auch hast.
Etwas öffentlicher.
Rauchst Du?
:-)
janz schön neujierich für jemanden, der nicht mal sein konterfei ins internet zu stellen bereit ist...
aber gut, zunächst das, was du gar nicht wissen willst: die narbe am knie ist vorhanden und so entstanden, wie geschildert.
und wie stephan haberland bin ich jemand, der die kunst der tabakwarenhersteller durchaus zu genießen weiß.
GJM,
danke.
Wenn Du möchtest, schick ich Dir ein Foto von mir zu.
du kannst Dich freuen.
Diesmal wirds wohl kein Unentschieden.
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