Eines Abends, mitten im Winter, pochte ein junger Mann aus einer benachbarten Stadt an die Tür der Kirche und bat um Asyl. Der Hausmeister, ein Mann mit tiefem Glauben, ließ ihn sofort ein und sorgte für eine warme Mahlzeit und frische Kleidung, weil er bemerkte, dass der Flüchtling hungerte und fror.
Als er sich etwas erholt hatte, erklärte der junge Mann, dass er aus seiner Stadt geflohen war, weil die Regierung ihn als politischen Dissidenten bezeichnet hatte. Es stellte sich heraus, dass er bei seiner Arbeit als Journalist sowohl den Herrschenden als auch der Kirche gegenüber Kritik geäußert hatte. Der Hausmeister nahm den jungen Mann mit zu sich nach Hause und gestattete ihm, zu bleiben, bis ein Plan bezüglich der nächsten notwendigen Schritte gefasst war.
Der Priester wurde über das Geschehen informiert und er rief die Verantwortlichen der Stadt zusammen. Man musste beraten, was nun zu tun sei. Nach einer zweitägigen Diskussion beschloss die Ratsversammlung, dass der junge Mann der Obrigkeit seiner Heimatstadt übergeben werden sollte, um sich der Anklage wegen seiner Verbrechen zu stellen. Der Hausmeister jedoch protestierte: »Dieser Mann hat kein Verbrechen begangen, er hat lediglich kritisiert, was er als im Namen Gottes begangenes Unrecht seitens der Regierung empfunden hat.«
»Es mag ja stimmen, was du sagst«, erwiderte der Priester, »aber seine Anwesenheit hier bringt unsere ganze Stadt in Gefahr. Nicht auszudenken, wenn jene Obrigkeit erfährt, wo er ist und dass wir ihm Schutz gewähren!«
Aber der Hausmeister weigerte sich, den jungen Mann an den Priester und die Obrigkeiten auszuliefern. Er erklärte: »Er ist mein Gast, und solange er sich unter meinem Dach befindet, werde ich dafür sorgen, dass ihm kein Leid geschieht. Wenn er mit Gewalt aus meiner Obhut gerissen wird, dann werde ich mich öffentlich dazu bekennen, das ich ihm Asyl gegeben habe und die gleiche Ungerechtigkeit erleiden wie mein Gast.«
Der Hausmeister war sehr beliebt und der Priester hatte nicht die Absicht zuzulassen, dass ihm etwas zustieß. Also machte sich die Ratsversammlung daran, die Heilige Schrift nach einer Antwort zu durchforsten, denn sie wussten von dem tiefen Glauben des Hausmeisters. Nach einer ganzen Nacht des Bibelstudiums kamen sie wieder zum Hausmeister und sagten: »Wir haben vom Abend bis zum Morgen auf der Suche nach Wegweisung das heilige Buch durchforstet und sind zu dem Schluss gekommen, dass es uns anweist, die Obrigkeiten dieses Landes zu respektieren und Zeugen unseres Glaubens zu sein, indem wir uns ihnen unterordnen.«
Doch der Hausmeister kannte die Worte der Heiligen Schrift ebenfalls sehr gut und erklärte, dass die Bibel dazu auffordert, sich der Leidenden und Verfolgten anzunehmen.
Nun begannen die Verantwortlichen der kleinen Stadt, verzweifelt auf der Suche nach einer Lösung, auf der Stelle inbrünstig zu beten. Sie beschworen Gott, zu ihnen zu sprechen, und zwar nicht mit der leisen inneren Stimme des Gewissens, sondern eher so, wie er mit Mose und Abraham geredet hatte. Sie flehten Gott an, direkt mit ihnen zu kommunizieren, damit der Hausmeister seinen Irrtum zu erkennen vermochte. Tatsächlich verdunkelte sich der Himmel und Gott stieg herab. Er sprach den Hausmeister an: »Der Priester und die Vorsteher sagen die Wahrheit, mein Freund. Um die Stadt zu schützen muss dieser Mann der Obrigkeit übergeben werden.«
Aber der Hausmeister, ein Mann des tiefen Glaubens, schaute auf und erwiderte: »Wenn du, mein Gott, willst, dass ich dir treu bleibe, dann kann ich deine Anweisung nur ablehnen. Ich brauche weder die Schrift noch deine Ansprache um zu wissen, was ich tun soll. Du hast längst von mir verlangt, dass ich mich um diesen Mann kümmere. Du hast bereits geschrieben, dass ich ihn um jeden Preis beschützen muss. Deine Liebesworte reden durch die Gesichtszüge dieses Mannes, deine Wertschätzung ist in die Struktur seines Fleisches eingewoben. Daher, mein Gott, widersetze ich mich dir, um dir treu zu bleiben.«
Als Gott diese Worte gehört hatte, wandte er sich an die Ratsversammlung und sprach nun sie direkt an: »Wenn ich den Hausmeister nicht überzeugen kann, dann wird es euch erst recht nicht gelingen. Jetzt lasst ihn in Frieden.«
Dann lächelte Gott und zog sich leise zurück. Er wusste, dass die Angelegenheit endlich erledigt war.
--- --- ---
Quelle: The Orthodox Heretic von Peter Rollins, übersetzt von mir; mit freundlicher Genehmigung vom Autor. Danke, Peter!
Aus diesem Buch:
Mehr über den und vom Autor: Peter Rollins Webpage
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen