Während meiner Nachtschicht in der Notaufnahmestation traf eine Frau, die rund 70 Jahre alt war, mit ihrem 40jährigen Sohn ein. Bei seinem Anblick hätte niemand sein Alter erraten. Er sah älter aus als seine Mutter, er war abgemagert, ausgezehrt, buchstäblich verfallen. Er brauchte gar nichts sagen, seine Schmerzen, sein Leiden, seine Scham und seine Schuldgefühle waren offensichtlich. Er war im AIDS Endstadium. Von der Krankheit verwüstet, starb er an Dehydrierung und Unterernährung ... und seine Mutter war dem nicht mehr gewachsen.
Ich sah, dass sie eine Halskette mit einem Kreuz trug, also fragte ich sie, ob sie einer Kirchengemeinde angehörte und dort Unterstützung und Hilfe bekommen würde. Es war, als hätte ich eine offene Wunde berührt. Tränen strömten über ihr Gesicht. Ich reichte ihr Taschentücher und sie erklärte, dass sie niemandem etwas über den Zustand ihres Sohnes sagen konnte.
Selbst wenn es nicht himmelschreiend offensichtlich ist, kann man es doch nicht übersehen. Irgendwo versteckt in ihrer Kirche hat Verurteilung ihren Platz: Homosexualität ist Sünde, daher findet Gericht statt und AIDS ist die Folge, die irdische Strafe. Und wenn das noch nicht schlimm genug sein sollte, hat ihr Sohn auch noch die ewige Qual in der Hölle vor sich. Ich bin sicher, dass die Frau diese Verurteilung zumindest teilweise auch auf sich bezog. Schließlich soll Homosexualität ja eine Frage der Entscheidung sein ... wenn sie ihrem Sohn eine bessere Mutter gewesen wäre, vielleicht wäre er dann anders geworden?
Wer ist eigentlich dieser Jesus, der in manchen Kirchen und Gemeinden angebetet wird? In den Evangelien kann ich ihn nirgends entdecken.
Ich sehe die ganze Zeit einen anderen Jesus vor mir, einen, der sich bei denen aufhielt, die in dieser Welt am meisten an den Rand gedrängt wurden. Irgendwie war er immer mitten unter den Kranken, den Blinden, den Verkrüppelten, den Bettlern, den von Dämonen gequälten. Er berührte die Leprakranken, küsste und heilte sie. Er hatte Umgang mit Prostituierten, wurde ihnen zur Rettung - sie wuschen ihm mit Tränen und Salböl die Füße.
Da ist diese Frau, deren Sohn an AIDS stirbt, und niemandem in ihrer Gemeinde kann sie das erzählen. Ich bin mir sicher, dass Jesus diesen Mann umarmen und lieben würde, ohne jegliche Verurteilung. Aber die Kirche, die sich als Leib Jesu Christi bezeichnet, geht keinen Schritt auf den Mann zu, legt keine Arme um ihn oder bewegt ihre Lippen, um ihn zu küssen.
Manch einer mag jetzt den Slogan »liebe den Sünder und hasse die Sünde« parat haben. Tut mir leid, aber das ist Schwachsinn. Du kannst nicht gleichzeitig lieben und hassen, da käme eine ziemlich verdorbene Liebe zustande. Jesus sagte, dass wir einfach nur lieben sollen, genau wie er. Die Evangelien sind voll von dieser radikalen, skandalösen, erlösenden Liebe. Wäre es uns wohl möglich, dass wir es lernen, einfach nur zu lieben, zu lieben, zu lieben ... bis es uns umbringt? Mit einer Liebe, die uns jedes Opfer wert ist?
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Quellen
Artikel: Ron Cole - Aids, homosexuality…confronting the terminal illness of judgement. Gefunden auf Emerging Village Voice, übersetzt von mir. Originalartikel: [Ron Cole: Aids, homosexuality…confronting the terminal illness of judgement]
Bild: David Hayward – coming out. Originalbild: [nakedpastor: coming out]
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30 Kommentare:
Manche Leute würden gern aus Johannes 8,11 die zweite Satzhälfte streichen (oder historisch-kritisch außer Kraft setzen):
"So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!"
In Joh. 5,14 wird Jesus noch deutlicher:
"... dass dir nicht etwas Ärgeres widerfahre."
Könnte es sein, dass Jesus die Sünde hasst, aber den Sünder liebt?
"Manch einer mag jetzt den Slogan »liebe den Sünder und hasse die Sünde« parat haben. Tut mir leid, aber das ist Schwachsinn. Du kannst nicht gleichzeitig lieben und hassen, da käme eine ziemlich verdorbene Liebe zustande." (Zitat Ron Cole).
Ich muss annehmen, dass Ron Cole keine Kinder hat, denn sonst wüsste er, dass es nicht nur möglich ist, sein Kind zu lieben und gleichzeitig dessen Krankheiten oder Süchte zu hassen, sondern dass dieser Hass umso stärker ist, je größer die Liebe zum Kind ist.
Die größte Manifestation der Liebe zu den Menschen, die es je gab, der Kreuzestod Christi, ist gleichzeitig die größte Manifestation des göttlichen Hasses gegen die Sünde: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen."
Also wenn du eine Gemeinde hättest, leiten würdest, dann wäre diese Frau samt Sohn nicht willkommen?
Wie kommst du denn darauf?
Ich war im Leitungsteam von Großstadtmissionen, deren Markenzeichen es war, jeden willkommen zu heißen.
Freunde von mir sind an AIDS gestorben.
Gerade deshalb: Ich liebe den Menschen, aber ich hasse, was ihn kaputt macht.
Mein Fazit: Ron Coles Einstellung zeugt entweder von einer defizitären Auffassung von Sünde, oder von einer defizitären Erwartung an Jesus' verändernde Kraft.
Wiederum mein Fehler:
Wie konnte ich nur eine ernsthafte Diskussion über Ron Coles Aussagen anregen, der sich selbst als "unplugged, unorthodox, sacrilegious over the hills of holiness, and past the flat lands of religion...ranting like a lunatic into the radical, scandalous redemptive imagination of the Kingdom" vorstellt.
Seine recht zynische Antwort auf Shane Fite's ausgewogenen und besonnenen Kommentar festigt den Eindruck, dass er sich selbst als eine Art radikalen Bilderstürmer sieht.
Manche Theologen haben es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, die Aussagen der Bibel so weit zu reduzieren, dass garantiert kein Atheist mehr Einspruch erheben würde.
Du nimmst die Bibel zu wörtlich und zu wenig ernst. Vermute ich zumindest. Aber die Diskussion muss jetzt nicht neu aufleben - bleib bei deiner Meinung/Überzeugung. Und lass andere Menschen anders denken, ohne sie zu verurteilen. Falls das möglich ist.
müde Reflexe ...
Vermutlich nehme ich Ron Cole zu wörtlich (und zu ernst).
Es ist stets von Vorteil, wenn man eine Bibel hat und lesen kann:
Rev 2:6 Aber dieses hast du, daß du die Werke der Nikolaiten hassest, die auch ich hasse.
Rev 2:7 Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Versammlungen sagt!
Der Punkt ist hier doch, dass (übrigens besonders gerne in der Homo-Szene, aber auch bei anderen "Minderheiten" die "ihre Rechte" durchsetzten wollen) sofort der Aufschrei des Entsetzens losbricht und der Vorwurf der Lieblosigkeit zum Standart gehört, weil man nicht den Unterschied wahrnehmen will, dass zwar die Werke hassenswert sind, aber nicht die Nikoaliten selber.
Eine "ziemlich verdorbene Liebe", die den Sünder und das, was ihn zerstört, gleichermaßen liebt. Da passt nur ein Wort: Bullshit.
Also, Herr Bento & Hans-Christian, mal Klartext: Wenn ihr eine Gemeinde/Kirche leiten würdet, und ein homosexueller Aidskranker würde sich dort einfinden, samt Mutter. Wären die so wie sie sind willkommen? Einfach so, wie sie sind?
Klartext (für mich und ich bin mir sicher, auch für Bento):
Ich empfände es nicht nur als extreme Lieblosigkeit, sondern als krassen Akt unterlassener Hilfeleistung, die beiden nicht willkommen zu heißen. Ich könnte als Christ nicht mehr in den Spiegel schauen.
Es wäre auch wohl kaum der richtige Zeitpunkt, einen Vortrag über Homosexualität zu halten, wenn jemand im Endstadium von AIDS an der Tür steht.
Das hätte ich vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt versucht, als der Mann noch Weichen für sein Leben stellen konnte.
Jetzt, da er todkrank ist, ist es Aufgabe der Christen, ihn mit Pflege und Gebet so gut es geht zu begleiten, wie Jesus es getan hätte.
Nicht wir sind die Richter, sondern Gott. Und "Israel, hoffe auf den HERRN! denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm." (Psalm 130,7)
Na dazu kann ich doch mal mit Paul Simon rufen: Amen and hallelujah! Respekt!
Danke! Ich glaube, die meisten Christen sehen das ähnlich. Viele haben in einer solchen Situation schlichtweg Angst, und es mangelt ihnen an Erfahrung. Kiezgemeinden haben den Vorteil, dass sie ständig mit "Extrem"-schicksalen und -situationen zu tun haben und viel natürlicher damit umgehen.
..das ist eine sehr seltsame Frage Herr Günter - seeeehr seltsam!
Die Antwort ist doch völlig klar:
Nein, natürlich nicht!!
Ich wäre der erste, der sofort auf sie zustürzen, ihnen eine Bibel auf den Kopf hauen und sie auffordern würde, gefälligst ihr Leben in Ordnung zu bringen, bevor sie es wagen in eine Versammlung der Heiligen zu kommen. Danach würde ich sie unter lauten Rufen "hinweg ihr unwürdigen Sünder" und notfalls auch einem Tritt in den Allerwertesten aus den heiligen Versammlungsräumen hinausbefördern.
Das ist doch alles ganz selbstverstäöndlich und ich verstehe wirklich nicht, wie du überhaupt auf diese seltsame Frage gekommen bist - und erst recht nicht, was sie mit dem von mir aufgegriffenen Thema »liebe den Sünder und hasse die Sünde«, das der Autor als "Schwachsinn" bezeichnet hat, zu tun haben könnte...
Vielleicht komme ich auf die direkte Frage, weil mir nicht klar ist, wie das ganz praktisch aussehen würde. Da sitzt nun der Homosexuelle in der Gemeinde/Kirche und wird angenommen/geliebt.
Das Thema sexuelle Orientierung wird also zukünftig nicht mehr angesprochen?
Lieber Günter, schreib mir bitte, dass ich mit meinem Verdacht völlig daneben liege, dass die ganze Story mit Endstadium und Mutter nur erfunden wurde, um klar zu stellen, dass ein Christ das Thema "sexuelle Orientierung" nie anzusprechen hat, weil es ihn verdammt noch mal nichts angeht, wie jemand lebt: Er soll ihn "einfach lieben und annmehmen" und genau so lassen, wie er ist und wie er es sich ausgesucht hat.
Mann Herr Günter, langsam wird es echt peinlich...
"Das Thema sexuelle Orientierung wird also zukünftig nicht mehr angesprochen?"
ja genau - wir sprechen nur noch Themen an, die völlig unrelevant sind und niemanden betreffen - genau das ist doch lebendige Gemeinde, die vom Heiligen Geist erneuert wird! ...
Ist es dnn wirklich so schwer das auseinander zu halten - Menschen zu lieben und die Werke der finsternis zu hassen??? Für mich ist das beides völlig identisch!
ps - warum kann man die Folgekommentare hier eigentl. nichtmehr
..abonieren?
Bringt mehr Klicks, wenn wir öfter mal auf Verdacht vorbeischauen ;-)
An den Einstellungen zum Kommentieren habe ich nichts geändert. Müsst ihr wohl bei Google/Blogger nachforschen.
Ansonsten stelle ich fest, dass ihr beide wohl zu den Guten gehört. Feine Sache.
Selbst wenn ich den AIDSkranken-Test bestehen würde, wäre ich deshalb noch nicht gut. Da gibts noch viele Baustellen;-)
Als "gut" kann sich nur jemand bezeichnen, der sich selbst einen Maßstab setzt, den er dann erfüllt.
Ich kannte mal jemand, der sagte: "Ich habe immer alles bezahlt, was ich gekauft habe." Daher empfand er sich als gut. Nur auf seine offensichtlichen Schwächen durfte man ihn nicht ansprechen.
Wer einen AIDSkranken aufnimmt und sich deshalb als gut empfindet, gleicht dem Zöllner, der betet: "Herr, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie jener Pharisäer!"
Also aufnehmen und schlecht dabei fühlen? Oder wie jetzt?
Werter Kollege Günter,
mit dieser Frage ist nun das Niveau vollends im Keller angekommen.
Ich beziehe mich in meinen Kommentaren hier auf die Behauptung im Beitrag, dass das Ansinnen Sünder zu lieben und Sünde zu hassen Schwachsinn wäre - auf diese Aussage läuft ja die ganze "Anklageschrift" gegen den Umgang mit Hilfsbedürftigen in der Gemeinde hinaus. Ohne dieses Fazit hätte ich dem Beitrag ja durchaus noch zugestimmt, denn ich bin ja nicht blind für die Hilflosigkeit, mit der die Gemeinden i.d.Regel in solchen Fragen agieren. So aber wird das Anliegen nur allzu deutlich, durch eine unstattliche Vermischung bzw. Gleichsetzung von Sünder und Sünde, das tödliche Problem der Sünde in einer "liebenden Umarmung" vom Tisch zu wischen und es wird darüber hinaus ein Jesus suggeriert, der gewissermassen die Sünde weggeküsst habe und ebenso ein Evangelium, in dem die dringliche Aufforderung zur Buße (Umkehr) nicht einen der obersten Plätze einnimmt.
DAS ist hier der eigentliche Schwachsinn und deshalb habe ich mich zu Wort gemeldet.
Wie du nun mittels seltsamster Fragen, mit denen du offenbar versuchst diese (biblisch gesehen) eindeutige Fehlgriff zu kaschieren und das Thema zuerst anhand von einem "praktischen Beispiel" und nun gar auf der persönlichen Ebene durch die Frage nach dem eigenen "Gutsein", bis hin zur völligen Unkenntlichkeit zu verwischen suchst, ist wirklich schwer zu ertragen.
Bisher dachte ich, man könnte mit dir - trotz oder auch grade wegen der unterschiedlichen Standpunkte und Sichtweisen - einen einigermassen interessanten und themenbezogenen Austausch auf einem erträglichen Niveau führen, nun aber steige ich hier aus -
und ich habe zudem den starken Eindruck, dass dir das gar nicht mal so unrecht ist.
Gruß und Segen
Bento
Günter, man nimmt ihn auf, fühlt sich okay, aber klopft sich nicht auf die Schulter, wie viel besser man ist als die da hinten, die das nicht so vorbildlich gemacht haben.
Man macht einfach mal was richtig und vergisst es dann, so wie linke-rechte Hand; nicht wie die, die sagen: "Herr habe ich nicht in deinem Namen ... dies und das alles getan!" Dann sagt er nämlich vielleicht: "Macht, dass ihr wegkommt! Ich kenne euch gar nicht."
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