Als Lea eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand sie sich nicht in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt, obwohl sie in den ersten Augenblicken nach dem Weckerklingeln davon überzeugt war, zu einem Käfer geworden zu sein. Warum ausgerechnet Franz Kafkas sonderbare Fantasie ihren lebhaften Traum durchdrungen hatte, vermochte sie nicht zu sagen, die Lektüre seiner Erzählungen lag Jahre zurück. Jedenfalls war der Traum so eindrücklich gewesen, dass sie beim Aufwachen fest damit rechnete, es würden Insektenbeine, und zwar sechs Stück, unter der Bettdecke hervorkommen, als sie diese beiseiteschob.
»Hallo Arme, hallo Beine«, murmelte sie erfreut. Bauch und Brüste hatten ebenfalls nichts Käferiges an sich. Das Schicksal des Gregor Samsa war ihr ganz offensichtlich erspart geblieben.
Lea stand auf und ging in die Küche, drückte auf dem Display ihrer Kaffeemaschine auf Latte und trat dann auf den Balkon. Sie liebte diese drei bis vier Minuten am Morgen, in denen sie mit ihrer nackten Haut die Welt und das Leben erspürte, während sie eine erste Zigarette rauchte. Sommer, Winter, Frühling, Herbst, Regen, Sonne, Nebel, Schnee – nichts konnte sie von ihrem Kurzbesuch auf dem Balkon vor der Dusche abhalten, höchstens einmal eine ernsthafte Erkrankung.
Ein Käfer saß auf dem Geländer, ein großer grünlich schimmernder Käfer. Gewöhnlich ekelte sich Lea vor allem, was sechs- oder achtbeinig die Welt bevölkerte. Mücken, Wespen und Fliegen wurden von ihr ohne Federlesen ihres Daseins beraubt, Spinnen durften weiter ihre Netze weben, solange sie dies nicht in der Wohnung taten, Käfer wurden in der Regel in weitem Bogen weggeschnipst. Doch an diesem Morgen stupste Lea den ungebetenen Balkongast nur ganz vorsichtig mit der Spitze ihres Fingers an, statt ihn die zwei Stockwerke in die Tiefe zu stürzen. Er krabbelte träge einen Zentimeter zur Seite und blieb dann wieder still sitzen. Das Grün seines Rückens schimmerte jetzt in der Morgensonne bräunlich.
»Ich habe geträumt«, sagte Lea, »ich sei du. Oder du ich.«
»Wir sind, was wir sind und tun, was wir tun«, antwortete das Insekt. Die Stimme war fein und leise, aber deutlich zu verstehen.
Lea zuckte mit den Schultern und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. Vielleicht träume ich ja noch. Ein redefreudiger Käfer! Ach du liebe Güte!
Sie belehrte das Tier: »Käfer sprechen nicht.«
»Wenn es sein muss, kann sogar ein Esel reden.«
»Was für ein Esel? Meinst du etwa mich?«
»Natürlich nicht. Du wärest ja eine Eselin, wenn überhaupt. Ich dachte an Bileam und sein störrisches Lasttier.«
Lea konnte sich nur ganz dunkel erinnern, die Geschichte vor langer Zeit gehört oder gelesen zu haben. Sie grübelte. War das irgendein orientalisches Märchen? Warum hat das Tier angefangen zu reden? Mit wem? Egal – ich muss jetzt zur Arbeit.
»Einen schönen Tag noch«, wünschte sie dem gebildeten Krabbeltier.
»Danke, Lea. Lass dir heute etwas mehr Zeit als sonst.«
Sie ging kopfschüttelnd in die Küche zurück, trank den ersten Kaffee, drückte auf Latte für den zweiten und verschwand im Bad, um zu duschen.
Bevor Lea die Wohnung verließ, um zur Arbeit zu fahren, schaute sie noch einmal auf den Balkon. Der Käfer war verschwunden. Inzwischen wärmte die Frühjahrssonne recht kräftig, das Tier hatte wohl die nächtliche Kältestarre hinter sich gelassen und sein Tagewerk begonnen, was immer das auch sein mochte. Blätter knabbern? Höhlen graben? Philosophische Reden halten?
Das Auto war noch kühl von der Nacht, Lea öffnete das Fenster einen Spalt, um Wärme hereinzulassen. Sie drehte den Zündschlüssel, der Motor sprang an. Blick in den Spiegel, alles frei. Losfahren, eintauchen in den Berufsverkehr. Ein Tag, ein Morgen wie jeder andere, von Wochenenden einmal abgesehen.
Lea fiel der Traum wieder ein, als sie schon gut zehn Minuten unterwegs war. Wenn ich jetzt ein sechsbeiniges Insekt wäre, mit Flügeln ausgestattet, dann könnte ich natürlich den Stau überfliegen. Die Parkplatzsuche würde auch entfallen. Meine Kollegen würden sich vermutlich etwas gruseln, aber schließlich doch daran gewöhnen … vorausgesetzt, ich könnte als Käferin meiner Arbeit weiter nachgehen.
Sie überlegte, warum der Käfer ihr geraten hatte, sich mehr Zeit als sonst zu lassen, kam aber auf keine Antwort. Da Tiere, Insekten insbesondere, sowieso nicht reden konnten, war die Frage auch müßig. Nicht einmal Loriots sprechender Hund hatte das mit dem Atomstrom richtig artikulieren können. Unterhaltsam fand sie das morgendliche Balkongespräch allemal, aber natürlich hatte es nichts mit dem wirklichen Leben zu tun.
Immerhin war er ganz nett, der braungrüne Gesell. Ob er wohl einen Namen hat? Gregor vielleicht? Wäre ich als Insekt aufgewacht, hätte er vielleicht mein Lebensgefährte werden können …
Inzwischen war sie auf der Stadtautobahn, 80 Stundenkilometer waren erlaubt, aber zahlreiche Fahrzeuge überholten Lea mit wesentlich höheren Geschwindigkeiten. Sie überließ es wie gewohnt der Tempoautomatik, sie vor Strafzetteln zu bewahren; darüber hinaus hatte ja das Balkoninsekt von Eile am heutigen Tag abgeraten. Gregor rät zu Gelassenheit, schmunzelte sie.
Nach 30 Minuten Fahrt näherte sich Lea ihrem Ziel. Noch drei Ampelkreuzungen, dann hoffentlich ein freier Parkplatz in der Nähe der Firma.
Die Stimme, fein und leise, erklang dicht neben ihrem Ohr: »Es ist zwar grün, aber wir halten lieber an.«
Lea dachte nicht nach, sondern trat auf die Bremse. Sie drehte den Kopf. Auf der Lehne des Beifahrersitzes saß der Käfer.
»Was zum Teu…«
»Es ist besser so«, erklärte das Insekt.
Lea blickte wieder nach vorn. Ein 30-Tonner raste quer über die Kreuzung.
Der Käfer hatte keine Zeit, auf Leas Dank zu warten. Er war schon unterwegs zu seiner nächsten Aufgabe. Der betreffende Mensch las gerade ziemlich vertieft das Buch Neuland, eine Sammlung von Erzählungen.
Hoffentlich ist meine Stimme laut genug, dachte Gregor, der wusste, dass dieser Mensch in der vergangenen Nacht nicht von Insekten geträumt hatte, also ziemlich unvorbereitet war. Hoffentlich ist meine Stimme laut genug, sonst muss ein Esel her!
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Dieser Text ist eine Leseprobe aus meinem Buch »Neuland«. Das kann man kaufen: Neuland: Erzählungen aus dieser und aus jenen Welten
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Foto: WikiCommons
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