Freitag, 6. November 2009

Ein Wort zu einigen gelöschten Beiträgen

Wo ist denn die Reihe »Das Ende der charismatischen Bewegung« geblieben, fragen sich und mich einige Leser. Die Antwort ist ganz einfach: Ich habe sie von meinen Seiten entfernt.

Der Grund ist folgender: Offensichtlich haben (hier mit Bedacht nicht näher bezeichnete) »nationale Agenturen« aus meinem Gesamttext einige Ausschnitte herausgenommen und daraus etwas konstruiert, was überhaupt nicht meiner Absicht mit dem Beitrag entsprach.
Fakt ist, dass nicht zuletzt aufgrund Ihrer Veröffentlichung, nationale Agenturen das Ende der charismatischen Bewegung in Deutschland vermelden, was so ganz sicher nicht stimmt. Das ist eine absolute Falschmeldung, die dazu geeignet ist die bestehenden Gemeinden der Bewegung unter Druck zu setzen und sie der Orientierungslosigkeit preis zu geben. … Das würde heissen, dass die Gemeinden sich quasi auflösen und ihre Inhalte preisgeben für die sie gestanden haben und es die Bewegung so nicht mehr gibt. Das kann so nicht gemeint sein.
Dies schrieb mir (unter anderem) jemand aus einer großen Gemeinde im Süden Deutschlands, deren Pastor ich außerordentlich schätze. Ich mag in manchen Punkten nicht mit dem übereinstimmen, was dieser oder andere Pastoren lehren, aber es war nie meine Intention, irgend einer Gemeinde, sei sie nun charismatisch oder nicht, Schaden zuzufügen.

Mir geht es, ob nun katholische, evangelische, methodistische, charismatische, baptistische oder sonstige Prägung vorliegt, darum, dass die Gemeinde (als Ganzes verstanden) ihrer Bestimmung näher kommt: Die Hölle zu plündern und den Himmel zu bevölkern, um es mit den Worten des von mir ebenfalls hoch geschätzten Reinhard Bonnke zu sagen.

Wenn ich also meinen als Diskussionsanstoß gedachten Beitrag hier entfernt habe, dann nicht deshalb, weil ich in den darin angesprochenen Punkten meine Meinung geändert hätte, sondern darum, weil er von gewissen Seiten her missbraucht wurde.
Ich bleibe dabei, dass aus meiner (sicherlich beschränkten) Sicht die emergente Bewegung die momentan einzig erkennbare Chance ist, als Gemeinde wieder relevant zu werden für unsere Gesellschaft. Dabei werden Fehler passieren, Irrtümer unterlaufen, Korrekturen notwendig werden.
Und ich bleibe dabei, dass die charismatische Bewegung ein wichtiger und unverzichtbarer Teil der Gemeindelandschaft ist – in dem genauso Fehler passieren und Irrtümer unterlaufen und Korrekturen notwendig sind.

Ich hoffe, dass dies dazu beitragen kann, Missverständnisse - zumindest soweit sie mich betreffen - aus dem Weg zu räumen.

Wenn das Brandenburger Tor zur Leinwand wird...


...dann heißt das, dass U2 auf der Bühne steht und ein kostenloses Mini-Konzert gibt. Mit 30 Minuten Verspätung ging es gestern Abend los, und es gab 30 statt der angekündigten 20 Minuten Musik. Da kann man ja nicht meckern.

Der Auftritt begann mit One, gefolgt von Magnificent und Sunday Bloody Sunday. Bei diesem Song war Jay-Z dabei, ein mir unbekannter Künstler, den aber der überwiegende Rest des Publikums zu kennen schien. Es folgte Beautiful Day, dann ein furioses Vertigo und zum Abschluß gab es eine wunderschöne Version von Moment of Surrender.

»Happy Birthday, Berlin!«, gratulierte Bono und verabschiedete sich mit einem Segen: »God bless you, and keep you save!« Was soll man da noch hinzufügen außer: Danke U2, für dieses nette Geburtstagsgeschenk.


Wer nicht dabei sein konnte, oder dabei war und die 30 Minuten noch mal erleben will: Bei u2tour.de gibt es Links zu den Videos und zum MP3-Download des kompletten Konzertes. Die MP3-Datei hat allerdings leider eine hundsmiserable Tonqualität. Hier klicken: U2 für die MTV EMA am Brandenburger Tor.

Donnerstag, 5. November 2009

Gastbeitrag Steve Turner: Das Beispiel U2

Anlässlich des heutigen kostenlosen Mini-Konzertes von U2 am Brandenburger Tor in Berlin, dem beizuwohnen ich die große Freude haben werde, präsentiere ich der geschätzten Leserschaft einen Auszug aus dem Buch »Imagine« von Steve Turner, das ich vor einiger Zeit für den Verlag ins Deutsche übersetzt habe.

In diesem Kapitel macht der Autor am Beispiel der Band U2 deutlich, wie Christen Kunst und Kultur durch ein lebendiges Zeugnis ihres Glaubens prägen können. Am Ende gibt es einen Link zum sehr lesenswerten Buch. Doch zunächst hat Steve Turner das Wort:

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Können wir uns Christen vorstellen, die eher zum Künstler berufen sind als zum Prediger? Die nicht nur in der Kunstrichtung ihrer Wahl Eindruck hinterlassen, sondern dies auch noch so tun, dass sie Aufmerksamkeit für eine Weltanschauung erregen, die anders ist als die ihrer Zeitgenossen, eine Weltanschauung, die zum Gespräch anregt? Könnte es sein, dass Christen tatsächlich etwas zu den großen Debatten dieser Welt beizutragen haben?

Es ist nicht nur möglich, sondern es geschieht sogar. Ich habe ein Beispiel aus der Rockmusik gewählt, zum Teil wegen meiner Kenntnisse im Bereich der Musik, zum Teil, weil ich die beteiligten Personen kenne und ihre Geschichte mit besonderem Interesse verfolgt habe.

Als ich 1970 anfing, über Musik zu schreiben, wusste ich von keinem Christen, der in den höheren Ebenen des Rock gearbeitet hätte, niemand glich einem John Lennon, Jerry Garcia oder Jim Morrison. Es kursierten Gerüchte, Eric Clapton sei zum Herrn gekommen, Keith Richards wäre ein wiedergeborener Gläubiger. Keines der Gerüchte erwies sich als wahr.

U2 1980 Dann änderten sich die Dinge. 1980 erzählte man mir von »dieser Punk-Gruppe aus Dublin«, in der drei der vier Mitglieder Gläubige seien. Bald gab mir jemand die Bandaufnahme einer Session, bei der Bono, der Sänger und Edge, der Gitarrist, einer kleinen Gruppe von Christen ihre Vision für die Rockmusik mitteilten. Es war ziemlich außergewöhnlich. Bono las aus Jesaja 40, 3: »Eine Stimme ruft: In der Wüste bahnt den Weg des HERRN! Ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott!« Er empfand, dass dieser Vers das zusammenfasste, wozu er berufen war.

Obwohl auch jeder Fehler, den die Band in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat, öffentlich bekannt wurde, hat U2 sachkundig ein Gesamtwerk geschaffen, das aus den besten Traditionen der modernen Musik genährt wurde, etwas Einmaliges hinzutat und das eine Vision in sich trägt, die eindeutig in der Bibel verwurzelt ist. Mehr als jede andere Formation in der Geschichte der Rockmusik haben sie Gott, Jesus, die Bibel und eine christliche Weltanschauung auf die Tagesordnung gezwungen. Rockkritiker konnten in den 1970ern den Jesusrock ignorieren (was sie auch taten), aber sie konnten U2 nicht ignorieren; sie mussten eine Stellungnahme über die Werte, für die U2 stand, abgeben.

Was U2 tat, funktionierte, weil sie sowohl Respekt vor der Kunstform des Rock hatten als auch vor den Inhalten des Christentums. Ihre sich entwickelnde Weltanschauung war in ihre Kunst integriert, weil sie instinktiv wussten, wie zeitlose geistliche Wahrheiten mit jugendlichen Ängsten, Ekstasen und Idealen zusammentreffen können.

Es hatte schon viele große Rocksongs über die Sprachlosigkeit gegeben, aber vor »Gloria« (1981) gab es keinen, der das Thema auf das Gefühl, nicht zu wissen, wie man beten soll, ausgeweitet hatte, auf das »unaussprechliche Seufzen«, von dem Paulus im Römerbrief spricht.

Es hatte auch schon viele Lieder über den Wunsch nach Veränderung der Welt gegeben, aber kein Song vor »New Year’s Day« (1983) kam als Schlussfolgerung auf Bilder aus dem Matthäusevangelium und der Offenbarung.

In der Frühzeit der Band gab es einen Eifer, der darauf hinwies, dass sie meinten, nur mit einer großen Anzahl von spezifischen Statements über den Glauben in ihren Texten in der Rockwelt tätig sein zu dürfen. Im Hintergrund gab es die Menschen in ihrer charismatischen Gemeinde, die der Meinung waren, dass das Leben eines Rockstars im Widerspruch zum Ruf Christi, demütige Diener zu sein, stand, weil es von seiner Natur her darauf abgelegt ist, Aufmerksamkeit zu erregen. Die Band hat das nicht von vorne herein von sich gewiesen, sondern sie forschten, was Gott von ihnen wollte, während sie Songs für das Album October (1981) schrieben. Das erklärt den Schrei nach Leitung und das Versprechen der Unterordnung in Liedern wie »Gloria« und »Rejoyce«.

LP Cover: October Selbst zu dieser Zeit hatte Bono den Hang, Lieder zu schreiben, als wären zwei Gehirne am Werk. Vielleicht war es auch der eine Verstand, der mit zwei Ebenen der Realität beschäftigt war. Er konnte über etwas schreiben, was er im Fernsehen gesehen hatte und plötzlich war er vor dem Grab Christi; oder er schrieb über polnische Arbeiter und sein Geist landete bei der Wiederkunft Christi. In »Surrender« auf dem Album War (1983) scheint er über ein Mädchen auf der Straße zu schreiben, aber dann wird er abgelenkt von einem Stück Theologie des Paulus. »If I want to live, I’ve got to die to myself someday.« (Wenn ich leben möchte, muss ich eines Tages mir selbst sterben) schreibt er.

Diese Schichten haben den Effekt, als blicke man auf eine von diesen Hologrammpostkarten. Mit der normalen Wahrnehmung erkennen wir die glatte Oberfläche, die wir Realität nennen. Wenn wir die Karte drehen, entdecken wir eine andere Dimension, die zwar die ganze Zeit vorhanden, aber für uns unsichtbar war. Bono schaut das Alltägliche an und landet bald in den Bereichen, die nur ein Christ sehen kann. Und dann kehrt er wieder zurück.

Die drei christlichen Mitglieder von U2 (Bono, Edge und Larry Mullen jr.) wussten, dass im Rock Gefahren lauerten, aber sie beschlossen, lieber mit den Widersprüchlichkeiten zu leben, als aufzugeben. Sie entschieden auch, dass ihre Existenz nicht durch die Menge von Evangelium gerechtfertigt war, die sie austeilen konnten. Das Resultat war, dass U2 intensiver wurde und der Glaube natürlicher das Liederschreiben Bonos durchflutete.

Einige Lieder sind Übungen im Sound, oder sie experimentieren mit Worten. Bono nimmt eine Zufallsphrase wie »Hawkmoon 269« »Unforgettable Fire« oder »Shadows and Tall Trees« als Sprungbrett in eine Übung der Selbsterforschung. Der Text zu »Is That All« wurde im Studio improvisiert, nachdem die musikalische Atmosphäre geschaffen worden war.

Besonders der Produzent Brian Eno ermutigte die Band, nichtlineare Methoden der Kreativität auszuprobieren, anstatt vorbereitete Statements zu Songs zu verwandeln. Soundchecks und Jam Sessions wurden aufgenommen, damit neue musikalische Themen erkennbar wurden. Fehler wurden als Hinweise auf unentdeckte Ideen verwendet, anstatt sie wegzuwerfen. Ein Motto von Eno war: Ehre den Fehler als eine versteckte Absicht.

Es gibt eine zweite Gruppe von Liedern, die bewusster konstruiert sind und sich mit gemeinsamen menschlichen Erfahrungen beschäftigen. Es sind Liebeslieder wie »With Or Without You«, Lieder über den Tod wie »One Tree Hill« oder Lieder über Zweifel wie »The First Time«. Sie zeigen nicht immer eine offensichtlich christliche Lösung auf, weil das nicht notwendig ist. Es genügt, dem Publikum mitzuteilen, dass du genau wie die Zuhörer geliebt, Verlust erlitten, gefeiert und getrauert hast.

Im dritten Bereich sind die Songs, die ein biblisch erwecktes Bewusstsein zeigen. Christus zeigte sich besonders besorgt um die Schwachen, Armen, Beraubten, Entfremdeten, Ausgebeuteten und den an den Rand Gedrängten. Man kann erwarten, dass sich diese Sorge auch in der Kunst seiner Nachfolger widerspiegelt.

Die Auswirkungen dessen, was U2 über den persönlichen Glauben gesagt hat, wäre empfindlich gemindert worden, wenn sie nicht diese Gebote ausgelebt hätten. Ich bin überzeugt, dass ein großer Teil des Respekts, der ihnen jetzt entgegengebracht wird, dadurch entstanden ist, dass sie als Menschen angesehen werden, die zu ihrem Wort stehen. Das Evangelium erscheint den Menschen sinnvoller, wenn sie es gelebt sehen anstatt es nur als Worte zu hören.

U2 war Vorreiter der Einbindung von Rockmusik in globale Themen seit 1985, als sie bei Live Aid auftraten, ein Benefizkonzert für die Menschen in Äthiopien. Neben Bonos persönlichen Besuchen an Brennpunkten der Not und der Beteiligung der gesamten Band an Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace und Jubilee 2000 hat U2 zahlreiche kraftvolle Songs veröffentlicht, die darauf abzielen, die traurige Lage der Unterdrückten und Zerbrochenen auf dieser Welt zu verstehen.

»Silver and Gold« war eine Reflektion über die Apartheid, »Red Hill Mining Town« trat in die Gedankenwelt einer Britischen Bergbaubevölkerung ein, deren Gruben geschlossen wurden. »Mothers of the Disappeared« erhob die Stimme für die Argentinier, die ihre Kinder während der Herrschaft der Militärjunta verloren hatten. Natürlich hätte jedes dieser Lieder von einem Ungläubigen geschrieben werden können. Aber obwohl Mitleid nicht exklusiv dem Christentum gehört, hat U2 richtig gehandelt, indem die Band diese Sorgen zu einem integralen Teil ihres Werkes gemacht hat.

Dann kommen wir zum Bereich, in dem wir Lieder vorfinden, die eine klare christliche Ausprägung haben, aber nicht alle losen Fäden verknüpfen. Manchmal benutzt Bono, wie schon erklärt, eine sich verschiebende Perspektive, so dass der aufmerksame Zuhörer mit etwas sehr irdischem angesprochen und dann plötzlich in etwas viel größeres hineingezogen wird. U2 zur Zeit, als How to dismantle an atomic bomb entstand

Der Song »Mysterious Ways« zum Beispiel beginnt damit, dass Johnny spazieren geht. Johnny ist seit Chuck Berry der Rock-Jedermann. In diesem Song ist aber seine Schwester der Mond. (Anmerkung des Übersetzers: Im Deutschen ist der Mond männlich, im Englischen funktioniert das besser: His sister, the moon.) Dies mag uns an Franz von Assisi erinnern und sein Gebet »An den Bruder Sohn und die Schwester Mond«. Wir wissen aber auf jeden Fall, dass es nicht um Johnny B. Goode geht, und dass sein Ziel nicht die Erfüllung in Hollywood ist. Dann kommen die Zeilen: »If you want to kiss the sky / you better learn how to kneel« (Wenn du den Himmel küssen willst / dann lernst zu besser, zu knien). In »Purple Haze« hatte Jimi Hendrix die Zeile »Excuse me, while I kiss the sky!« (Entschuldige mich, solange ich den Himmel küsse.) - was als wilde psychedelische Phantasie interpretiert worden war. Könnte Bono andeuten, dass man für das ultimative transzendentale Erlebnis tatsächlich in Buße und Gebet auf die Knie gehen muss?

Dann kommt der Chorus, »She moves in mysterious ways« (Sie bewegt sich auf geheimnisvolle Weise), was sich auf die »Schwester Mond« zu beziehen scheint. Der Ausdruck »mysterious ways« ist jedoch ein Bezug auf die Hymne des calvinistischen Poeten aus dem 18ten Jahrhundert William Cowper: »God moves in mysterious ways / His wonders to perform« (Gott bewegt sich auf geheimnisvolle Weise, um Seine Wunder zu tun). Diese Anspielung scheint durch den Schlußchorus bestätigt zu werden: »We move through miracle days / Spirit moves in mysterious ways« (Wir bewegen uns durch Tage der Wunder / der Geist bewegt sich auf geheimnisvolle Weise).

In einem Interview bestätigte Bono, dass der Song mehr als eine Ebene hat. »Es ist ein Lied über Frauen oder eine Frau«, sagte er einerseits. An anderer Stelle sagte er, dass das Lied etwas mit seinem Glauben zu tun hat, »der Heilige Geist habe feminine Eigenschaften«. In der Vorstellungskraft eines Christen deutet das Sichtbare auf das Unsichtbare.

Manchmal scheint Bono in einem bestimmten Kapitel oder Buch der Bibel förmlich zu baden, um dann ein Rock-Update zu schreiben. Das Lied »40« ist beinahe wörtlich aus dem Psalm 40 übernommen, »Fire« nimmt seine Bildersprache aus der Offenbarung. »With a Shout« lässt die Schlacht um Jericho wieder auferstehen und »The Wanderer«, gesungen von Johnny Cash (einem angemessen vom Leben gesättigten Gläubigen) auf dem Album Zooropa (1993) war Bonos Fünf-Minuten-Version des Buches Prediger, ursprünglich unter dem Titel »The Preacher« geschrieben.

Nicht alles biblisch inspirierte Material ist erbaulich. Eine der Lektionen, die Bono aus den Psalmen gelernt hat, ist die, dass es zulässig ist, mit Gott zu streiten. Es gibt Zeiten, in denen sich der Christ genauso niedergeschlagen fühlt wie jeder andere Mensch, aber anstatt sich umzubringen oder zu betrinken, schreit er zu Gott, in dem Bewusstsein, dass Gott die Angewohnheit hat, zurück zu schreien.

Manchmal scheint dieses Streitgespräch in Bonos eigener Stimme aufzutauchen - der Christ, der nach einer Erklärung ruft - manchmal erscheint es mit der Stimme verschiedener desillusionierter und verletzter Menschen. Lieder wie »If God Will Send His Angel« (Wenn Gott seinen Engel schicken wird), in dem es heißt »God has got his phone off the hook babe / Would he pick it up if he could?« (Gott hat seinen Telefonhörer nicht aufgelegt / würde er den Anruf entgegennehmen, wenn er könnte?) und »mofo«, in dem es heißt »Lookin’ for to fill that God shaped hole« (Ich versuche, dass gottförmige Loch zu füllen) sind wie Psalmen der Straße, Gebete von Menschen, die kaum wissen, wie man betet.

»Drowning Man«, ein Lied aus dem Album War, dreht den Prozess um. Es schreit kein Mensch nach Gott, sondern Gott ruft nach dem Menschen, bietet eine Hand der Freundschaft an.

Die überzeugendste Anziehungskraft des Christentums war für Bono als Teenager die Vorstellung, dass Gott an ihm interessiert war. Nicht ein Gott, sondern Gott. »Worauf sollen wir diese Beziehung gründen?«, fragte er. »Die Beziehung muss mit dem Vater anfangen und dann mit Christus bestehen, dem Sohn des Vaters.«

CD Cover: All that you can't leave behindDurch das Album All That You Can’t Leave Behind zieht sich ein Thema, das den Ewigkeitstest besteht: Was bleibt zurück, wenn wir sterben, und was können wir mit uns nehmen? Das Albumcover zeigt die vier Mitglieder der Gruppe stehend im Flughafengebäude. Es wird ein Gefühl erweckt, das uns überkommt, wenn wir fliegen und - wie flüchtig auch immer - mit dem Gedanken spielen: Was wäre, wenn dies unser letzter Flug ist? Auf die CD ist ein Bild von einer Frau und einem Kind gedruckt, auf dem Cover aus der Entfernung zu sehen, verwischt und eine Reminiszenz an Kinobilder von todesnahen Erfahrungen, von Menschen, die in eine unbekannte Zukunft gehen.

Das Lied »Walk On«, aus dem der Albumtitel stammt, scheint sich auf 1. Korinther 13 und die Lehre, dass von allen Gaben, die wir besitzen, nur die Liebe über den Tod hinaus bestehen wird, zu beziehen. »The only baggage you can bring is all that you can’t leave behind.« (Das einzige Gepäck, das du mitnehmen kannst ist all das, was zu nicht zurücklassen kannst.)

Auf dem gleichen Album dreht sich der Song »Grace« um das, was der Titel (Gnade) vermuten lässt: Ein »Gedanke, der die Welt verändert hat«, wie der Text erklärt. Bono malt ein Bild der Gnade als eine weibliche Person, die »Schönheit aus hässlichen Dingen macht«. »Grace, she takes the blame, she covers the shame, removes the stain. It could be her name.« (Gnade, sie nimmt die Schuld, sie bedeckt die Schande, entfernt den Fleck. Es könnte ihr Name sein.)

Das bringt uns zu dem Bereich der Lieder, die eine offensichtliche Botschaft haben. Wie geht eine Rockband mit dem völlig unmodernen Thema des Kreuzes um? Es scheint, dass U2 wegen der aufregenden Musik und der Stärke ihrer Vision in der Lage war, Dinge zu erreichen, die schwächere, weniger phantasievolle Künstler niemals hätten schaffen können.

»Sunday Bloody Sunday« (der Titel »Sonntag, blutiger Sonntag« bezieht sich auf den Tod von Irischen Demonstranten durch britische Truppen im Jahr 1972) bewegt sich von einigen generellen Grübeleien über gewalttätige Konflikte zu den Ursachen (the trenches dug within our hearts - die Schützengräben, die in unseren Herzen ausgehoben wurden) und dann zur letztendlichen Lösung (The real battle just begun to claim the victory Jesus won on Sunday bloody Sunday - Der wahre Kampf hat erst begonnen, den Sieg in Anspruch zu nehmen, den Jesus gewonnen hat am Sonntag, blutigen Sonntag). So wird in diesem Lied aus dem Blut das Blut Christi und der Sonntag wird zum Ostersonntag.

»Pride (In the Name of Love)« endet mit der Ermordung von Martin Luther King jr., aber der Anfang dreht sich um Jesus Christus. Wen sonst kennen wir, der im Namen der Liebe kam, der kam, um gerecht zu machen, der sich der Gewalt entgegenstellte und mit einem Kuss betrogen wurde? Die Verbindung mit King illustriert die Kontinuität der friedlichen Revolution und den mächtigen Schatten, den Christus über die Geschichte geworfen hat.

Die Kompositionen der Gruppe sind reifer geworden und die Anknüpfungspunkte wurden feiner. »Until the End of the World« könnte in einer Bar handeln, wenn man nicht aufmerksam zuhört; tatsächlich spielt die Handlung in Gethsemane. Es ist ein Lied, das in der Stimme des Judas Ischariot geschrieben ist, irgendwo zwischen seinem Verrat und seinem Selbstmord.

»When Love Comes to Town«, ein Experiment mit dem Blues, fängt konventionell genug an, aber am Schluss wissen wir, dass die Liebe, die da in die Stadt kommt (oder gekommen ist) die Liebe Christi ist. Der Erzähler im letzten Vers ist ein Römischer Soldat, der um die Kleider Christi gewürfelt hat und der »gesehen hat, wie die Liebe den tiefen Spalt überwunden hat«.

»I Still Haven’t Found What I’m Looking For« ist ein bewusstes Gegengift gegen die Sorte selbstzufriedener Kunst, die behauptet, alles in unserem Leben könne durch ein schnelles Gebet des Glaubens in Ordnung gebracht werden. Wir leben zwischen zwei großen Ereignissen - dem Kreuz und dem Kommen des Reiches Gottes - und als solche leben wir in einem Spannungsfeld. Wir sind nicht mehr so kaputt wie wir vorher waren, aber wir sind noch nicht so in Ordnung, wie wir sein werden. Das Lied ist kompromisslos über das, was Christus bereits bewirkt hat:

»You broke the bonds, loosed the chains, carried the cross, of my shame, you know I believe it.« (Du hast die Fesseln zerbrochen, die Ketten gelöst, das Kreuz meiner Schande getragen, du weißt, dass ich es glaube.)

Über das, was Christus eines Tages bewirken wird, ist das Lied auch eindeutig: »I believe in the kingdom come, when all the colours will bleed into one.« (Ich glaube an das Kommen des Königreiches, wenn alle Farben in eine zusammenlaufen werden.)

Aber gleichzeitig ist sich Bono der Widersprüche und Kompromisse bewusst. Er kann mit der Zunge eines Engels reden und trotzdem noch die Hand eines Teufels ergreifen. Er ist am Gipfel angekommen, aber er rennt immer noch.

Bono: »Die Leute erwarten, dass du als Gläubiger alle Antworten hast, wenn du in Wirklichkeit nichts hast außer einer neuen Menge Fragen... Ich glaube, dass der Erfolg von »I Still Haven’t Found What I’m Looking For« daran liegt, dass es nicht bejahend im traditionellen Sinne eines Gospelsongs ist. Es ist ruhelos, aber dennoch ist da irgendwo reine Freude enthalten.«

U2 2009 - The Edge und Bono U2s Einfluss war und ist beachtlich. Die Band hat nicht nur Einfluss auf die Entwicklung der Rockmusik gehabt, sondern sie war auch eine führende Kraft in der jungen Renaissance der Irischen Kultur. Bonos persönliche Kraft, die für einen Rockstar ungewöhnlich ist, erstreckt sich weit über die Grenzen des Rock hinaus. Als der frisch bekehrte 20jährige im Jahr 1980 der kleinen charismatischen Gemeinde seine Vision mitteilte, hätte er sich nicht träumen lassen, dass man ihn eines Tages bitten würde, das Vorwort für eine Taschenbuchausgabe der Psalmen zu schreiben, und dass man ihn rufen würde, den Papst zu überreden, eine Rolle beim Schuldenerlass für die Dritte Welt zu übernehmen, oder dass er den Jahreswechsel mit dem amerikanischen Präsidenten feiern würde.

Die ursprüngliche Vision der Band war, »einen Weg für den Herrn zu bereiten«, und ich glaube, dass ihnen das gelungen ist, indem sie wichtige Anliegen des Christentums auf die Tagesordnung der Welt gesetzt haben. Sie sind nicht nur zu einem Vorbild für christliche Künstler, die sich nicht auf den engen Markt der christlichen Musiklandschaft beschränken wollen, geworden, sondern sie haben es für jedermann in der Rockmusik akzeptabel gemacht, über Gott, Jesus und die Erlösung zu reden und zu singen.

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Buch Imagine - Steve Turner

Im Buch »Imagine« geht es nicht nur um Musiker, sondern Steve Turner erlaubt Einblicke in viele Bereiche der Kunst, von Malerei über Schriftstellerei, Tanz und andere bis zur Filmkunst. Mehr zum Buch und Bestellmöglichkeit hier: Steve Turner – Imagine, Verlag Down to Earth

P.S.: Bilder von U2.com

Mittwoch, 4. November 2009

Wo sind eigentlich die Quelle-Schnäppchen?

Achtung: Dies ist nicht die Fortsetzung der Entblößung, obwohl das letzte Schnäppchen dieses Beitrages für manchen (oder manche?) etwas risqué sein mag. Dies ist einfach nur ein Einkaufsbummel bei Quelle Online mit Lisa und Stephan. Es hätten auch Hänsel und Gretel sein können, oder Romeo und Julia...

Stephan Haberling und Lisa del Giocondo erfahren in den Nachrichten, dass man bei Quelle jede Menge Super-Sonder-Extra-Billig-Preise finden könne. Der große Internet-Ausverkauf hat begonnen. Flugs setzen sie sich an den Computer, um nichts zu verpassen.
Stephan Haberling braucht einen neuen Wecker, da der alte ihn oft genug im Stich - im Schlaf - lässt.
Das Sony Uhrenradio gibt es im Quelle-Ausverkauf für sagenhafte 75,99 Euro. Lisa meint: Schau doch mal einen Preisvergleich an. Stephan tut es, und siehe da, 65,50 Euro reichen auch:
Lisa braucht keinen neuen Wecker, aber eine neue Tastatur. Am liebsten ohne Kabel. Bei Quelle für den Schnäppchenpreis von 70,99 Euro im Angebot.
Mal sehen, meint Stephan, wie viel so eine famose Maus-Tastatur-Kombination bei Amazon kostet. Aha. Aber hallo! Na so was. 59,95 Euro.
Angesichts seines Bauchansatzes und der Lisa-Aussichten hat Stephan beschlossen, durch mehr Fitness weniger Fettansatz zu erreichen. Er ist allerdings nicht geneigt, im Adamskostüm um den Schlachtensee zu joggen. Quelle hat die passende Bekleidung im Angebot.
Aber mittlerweile sind die beiden skeptisch. Ist das wirklich ein vernünftiger Preis? Eine schnelle Googelei bringt die echten Angebote zum Vorschein. Na ja. So so. Aha.
Lisa findet, eine USB-Festplatte wäre notwendig, da die Datensicherung ihrer vielen Fotos nicht mehr auf die bisherige passt. Vor allem die Entblößung muss doppelt gesichert werden. Quelle hat auf 61,99 Euro reduziert, immerhin 1 Cent unter 62 Euro.
Das kann Amazon bestimmt nicht unterbieten? Stephan, der sich in Sachen Entblößung nicht so sicher ist, tippt trotzdem Platinum MyDrive in das Suchfeld bei Amazon. Whooopsidaisy. 60,45 Euro - und das ohne Ausverkaufsrausch? Do legst di nieder und stehst nimmer auf.
Ach, à propos Niederlegen: Lisa sehnt sich, als Stephan nach Hause gegangen ist, bei so viel Einkaufsstress nach etwas Entspannung. Quelle bietet Handliches zum Sonderpreis.
Doch inzwischen ist sie überzeugt, dass bei den Ausverkaufspreisen wirklich nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Also flugs die Suchmaschine fragen. Und siehe da: Selbst recht simples Spielzeug gibt es nur anderswo zum wirklich zum günstigen Preis.
Stephan schreibt derweil vor dem Schlafengehen noch einen Artikel für Focus: Quelle oft teurer als die Konkurrenz.

Und was lernen die beiden daraus, Stephan und Lisa? Nicht alles, was sich Schnäppchen nennt, ist wirklich eins. Die Quelle-Pleite, so bedauerlich sie wegen der verlorenen Arbeitsplätze ist, mag auch etwas damit zu tun haben, dass ein Geschäft mit dubiosen Preisen in der Marktwirtschaft nicht auf Dauer überlebensfähig ist. Der Kunde ist nämlich, von Ausnahmen abgesehen, in der Lage, die Preise vor dem Kauf zu vergleichen.

Dienstag, 3. November 2009

Jon Birch: Die unsichtbare Brücke

Bild 1: Es ist einfach eine Frage des Glaubens. Du musst nur darauf vertrauen, dass die unsichtbare Brücke existiert.

Hier gefunden: The Ongoing Adventures of ASBO Jesus 801

Montag, 2. November 2009

Neulich beim Hauskreis…

…haben wir

  • kein einziges Lied gesungen,
  • kein einziges Gebet gesprochen,
  • keinen einzigen Bibelvers gelesen.

Statt dessen haben wir in der Wohnung einer Familie

  • mehrere Regale zusammengeschraubt und aufgestellt,
  • einige kleine Schränke zusammengebaut,
  • eine Lampe im Wohnzimmer angeschlossen und aufgehängt

Es war ein wunderschöner Hauskreisabend am vorigen Mittwoch.

Samstag, 31. Oktober 2009

Die Entblößung – Teil 5

»Gut Ding will Weile haben«, behauptet der Volksmund. Ob die Entblößung, die einen Tag länger auf ihre Fortsetzung warten musste als geplant, gut ist, überlasse ich dem Urteil der geschätzten Leser, die ja zum Volk gehören und somit Teil des Volksmundes sind.

Es wird noch einen weiteren Teil geben, womöglich zwei, das hängt in gewisser Weise von der Entscheidung ab, die wie bei diesem Experiment üblich durch eine Mehrheit – wenn denn eine zustande kommt – getroffen wird. Wer noch einmal die vorangegangenen Teile lesen möchte, oder wer sie noch gar nicht kennt, darf hier klicken: Teil 1 /// Teil 2 /// Teil 3 // Teil 4

So. Unser Stephan Haberland ist in einer fremden Wohnung gelandet, Lisa ist auch noch da, und weiter geht es:

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Er setzte sich. Lisa hatte eine Flasche Wein, Gläser und eine Schale mit Pistazienkernen bereitgestellt. Sie schenkte ein und sie ließen die Gläser aneinander klingen. »Auf die Entblößung«, sagte Lisa.

»Auf dich!«, meinte er. »Bezüglich der Entblößung hätte ich noch einige Fragen zu stellen.«

»Ich antworte nicht immer auf Fragen. Eigentlich eher selten. Die meisten Fragen, die gestellt werden, sind so überflüssig wie die Grippeimpfung für einen gesunden Organismus.«

»Dein Buch, es lässt mehr offen, als dass man Antworten finden würde. So etwas mag ich eigentlich, aber nicht in diesem Fall.«

»Ich weiß, dass es dir gefallen hat. Eigentlich habe ich Mein zweites Ich für dich geschrieben. Und für Isis, natürlich.«

»Wann hast du Isis zum letzten Mal gesehen?«

»Erzähl mir von ihr. Das, was nicht in meinem Buch zu finden ist.«

Stephan Haberling trank einen Schluck Wein, während er überlegte, wo er anfangen sollte. In ihrem Buch – eine als Roman verkleidete Autobiografie – hatte Lisa die Kindheit mit ihrer Zwillingsschwester Isis geschildert, das Heranwachsen, dann die Studienjahre. Die Schwestern im Buch trugen andere Namen, und die Handlung spielte sich an anderen Orten ab als im wirklichen Leben. Und dann, nach der Ankündigung, dass Isis heiraten würde, gab es eine Lücke in der Erzählung. Genau genommen brach die Geschichte einfach ab. Das letzte Kapitel schilderte nur, wie Isis gestorben sein musste. Vermutlich. Wahrscheinlich. Allem Anschein zufolge. Es gab niemanden, der Aufschluss hätte geben können. Die potentiellen Zeugen waren so tot wie Isis.

Als er Mein zweites Ich las, vor nunmehr fast acht Jahren, war er fassungslos. Wie konnte eine Autorin, von der er nichts wusste, die er nicht kannte, eine Romanfigur entwerfen, deren Geschichte so viele Parallelen mit dem Leben seiner Frau aufwies? Wie konnten der Charakter, die Eigenarten, sogar einige körperliche Merkmale so ähnlich, wenn nicht gar identisch sein?

Er wusste, dass Isis eine Zwillingsschwester gehabt hatte, keine eineiige, daher war die äußerliche Ähnlichkeit nicht größer als normalerweise bei Geschwistern zu erwarten. Isis redete selten und ungern über ihre Herkunft und Familie, er wusste nur, dass es eine Tragödie gegeben hatte, bei der ihre Eltern und Anina ums Leben gekommen waren. Er hätte nach der Lektüre des Romans natürlich Isis fragen wollen, ob manche der geschilderten Erlebnisse Phantasie oder Biographie waren. Das wenige, was sie preisgegeben hatte, legte die Vermutung nahe, dass Mein zweites Ich ihre wahre Geschichte erzählte. Aber Isis konnte nicht mehr Auskunft geben, er war und blieb mit seinen Fragen allein.

Er hatte versucht, mit der Autorin des Romans in Kontakt zu treten, erfolglos. Lisa del Giocondo war offenbar ein Pseudonym, und niemand schien in der Lage oder bereit zu sein, die Identität der Schriftstellerin aufzudecken. Es wurden keine Lesungen mit ihr veranstaltet, keine Autogrammstunden, selbst bei der Verleihung eines Buchpreises in Frankfurt war der Agent desVerlages erschienen, um die Ehrung an Lisas Stelle entgegen zu nehmen.

»Du bist doch in Wirklichkeit Anina, oder?«, fragte er sie.

Dieses Mal erhielt er sogar eine Antwort: »Ich war Anina. Jetzt bin ich Lisa, italienischer Abstammung statt ägyptischer. Ich fand das am ehesten plausibel, zu meinem Äußeren passend.«

»Und offensichtlich bist du nicht tot.«

Sie schwieg und schenkte Wein nach. Er hatte auch keinen Kommentar erwartet. Wie viele Worte, die man im Lauf des Tages aussprach, waren eigentlich wirklich notwendig oder zumindest angebracht? Zehn Prozent? Noch weniger?

Die beiden schwiegen eine Weile.

Dann sagte Lisa: »Erzähl mir von Isis, bitte.«Isis am 5. Mai 2001

Stephan zündete sich eine Zigarette an und begann: »Es war ein Schicksalsjahr, 2001. Ich habe Isis am 5. Mai geheiratet, aber ich konnte nicht lange bei ihr bleiben. Vermutlich weißt du, dass ich damals für den Spiegel als Korrespondent aus Ägypten schrieb. Ich hatte einige einheimische Kontakte und sehr widersprüchliche Informationen wurden mir von ihnen zugetragen. Ein paar Tage nach unserer Hochzeit bat mich ein Mann an einer Straßenecke um Feuer für seine Zigarette. Ich wusste sofort, dass er kein normaler Passant war, denn er rauchte die eben angezündete Zigarette nicht, sondern hielt sie nur in der Hand. Er fragte mich, ob ich an einer brisanten und wertvollen Information interessiert wäre. Ich erklärte ihm, dass ich kein Geld ausgeben konnte, und er meinte, das sei auch nicht nötig.«

»Das ist aber nicht die Geschichte von Isis«, unterbrach ihn Lisa. »Das ist deine Geschichte, vielleicht. Man weiß es ja nicht, bei einem Autor, wie viel von seinem Erzählten wirklich passiert ist.«

»Warum hast du eigentlich kein weiteres Buch geschrieben?«

Sie antwortete auch auf diese Frage, worüber Stephan gleichermaßen erstaunt und erfreut war. »In mir war nur dieses eine Buch vorhanden. In dir sind noch viele Bücher.«

»Davon weiß ich nichts. Im Augenblick wüsste ich nichts zu schreiben.«

»Nobody can say where a book comes from. Least of all the person who writes it.«

»Das hat Paul Auster irgendwo geschrieben.«

»Leviathan.«

»Woher weißt du, dass in dir kein weiteres Buch ist, wenn du glaubst, dass in mir noch welche sind?«

»Ich bin keine Autorin. Ich bin Fotografin. In mir sind Bilder. Erzähl mir von Isis, bitte.«

»Ich kehrte am 28. Juni zu ihr zurück. Sie stand am Rand der Wiese hinter unserem Garten, wo einst ein kleiner Bach entsprungen war. Der war längst ausgetrocknet. Sie war müde, schlaftrunken, erschöpft. Ich nahm sie in die Arme und sagte ihr, dass ich sie liebte. Sie fragte, wo ich gewesen war, und ich erklärte ihr, dass es kein besonderer Ort war. Ich würde anders aussehen, meinte sie. Ich bestätigte, dass dem wohl so sei. Ich hatte sieben Wochen fernab der Zivilisation verbracht, wenig gegessen, keinen Rasierapparat benutzt und zum Waschen gab es meist nur eine Schüssel voll brackigen Wassers, wenn überhaupt. Du warst fort, sagte sie müde. Ja, natürlich war ich fort, antwortete ich. Sie fragte: Bleibst du jetzt hier? Ich blickte Isis in ihre unvergleichlichen Augen und sagte: Wenn du es willst, ja.«

»Und du bist geblieben.«

»Ich bin geblieben. Wir hatten etwas mehr als zwei Monate, einander zu lieben, zu genießen, von unserer Zukunft zu träumen. Es war kein Urlaub, aber ich musste nicht reisen. Sie arbeitete an ihrer Dokumentation, und je länger sie sich mit dem Stoff beschäftigte, desto verzweifelter wurde sie.«

Lisa schenkte Wein nach, Stephan Haberling zündete sich eine weitere Zigarette an. Sie schwiegen einige Minuten.

»Sie war kurz davor, die letzten Lücken in ihrer Dokumentation zu schließen«, sagte Lisa schließlich. »Sie schrieb mir einen Brief, am 30. August, der mich aber wegen der Umstände erst am 10. September erreichte. Ich hatte die beiden Puzzlestücke, die ihr fehlten. Nachher zeige ich dir den Brief. Ich habe damals versucht, gegen alle Regeln und Vernunft, Isis telefonisch zu erreichen, aber es war zu spät.«

Stephan Haberling fragte: »Wo warst du eigentlich? Ich nahm an, du seiest schon Jahre zuvor verstorben, bei einer Tragödie, die mir nie genauer erläutert wurde.«

»Es wussten nur sehr wenige Menschen die Wahrheit. Isis natürlich, und zwei Personen in der Zentrale, die mir die neue Identität ermöglicht und verwirklicht haben. Es waren einige Umwege notwendig, es gab Sackgassen und Fehlschläge, aber im Dezember 1989 war ich dann Lisa del Giocondo, das Wirrwarr um den Fall der Mauer und die deutsche Vereinigung hat mit letztendlich echte Papiere und eine glaubhafte Vergangenheit beschert. Ich arbeitete in München als Fotografin, seit zwei Monaten bin ich nun in Berlin. Deinetwegen. Immerhin konnten wir uns Briefe schreiben, Isis und ich. Der Transport dauerte lange, aber Telefon oder gar E-Mail war tabu, schon um Isis zu schützen, aber auch, damit ich am Leben blieb. Ich war zwar offiziell bereits tot, aber wenn die falschen Menschen mich aufgespürt hätten, wäre ich nirgends mehr sicher gewesen.«

»Und was hat sich jetzt geändert?«

»Anina muss tot bleiben, um nicht zu sterben. Lisa darf leben. Und Lisa musste dich treffen.«

»Also hast du die Galerie ins Netz gestellt. Als alter.ego, um mich öffentlich zu entblößen.«

»Ach Stephan! Du hast den Sinn der Galerie noch nicht erfasst? Ich hatte angenommen, dass du den gedanklichen Weg von Mein zweites Ich zu alter.ego finden würdest. Dann hätte eine Google-Suche genügt, um festzustellen, dass Lisa del Giocondo gar kein Pseudonym war, sondern dass die preisgekrönte Autorin – inzwischen als Fotografin tätig – ihre Diogenestonne aufgegeben hat und nach Berlin übergesiedelt ist.«

Er schüttelte den Kopf. Darauf war er nicht gekommen, und er bezweifelte, dass ihm das in absehbarer Zeit durch noch mehr Nachdenken und Grübeln gelungen wäre. Jetzt, mit dem Wissen, dass Isis’ Schwester lebte und die Urheberin der Galerie war, ahnte er auch, wie die Fotos zustande gekommen sein konnten. Allerdings hatte dann der ehemalige Kollege seines Nachbarn doch Unrecht.

»Mich hat ein Experte der Polizei wissen lassen, dass die Aufnahmen nicht manipuliert sind. Wenn du, wie auch immer, an die Fotos von Isis gekommen bist, dann kann das aber nicht stimmen.«

Sie schwieg und lächelte. Es war Isis’ Lächeln, es waren Isis’ Augen. Er wusste bereits, dass sein Leben nach diesem Abend, irgendwann bald, in die Zweisamkeit münden musste. Milan Kundera hatte in einem seiner frühen Romane gemutmaßt, dass ein ideales Paar ursprünglich als Ganzes geschaffen und dann von widrigem Schicksal getrennt worden sei; es käme nur darauf an, dass die beiden sich irgendwann treffen und was sie dann aus ihrer Begegnung machen. Lisa, das andere Ich, war sie eine Art Wiedergutmachung des Himmels für das Entsetzten und das Leid, das ihm widerfahren war? Hatte das widrige Schicksal womöglich ein Einsehen?

»Man könnte das ja noch aufhalten. Irgendwie.«, wiederholte Lisa leise in seine Gedanken hinein ihre zweite E-Mail.

Fassungslos fragte er: »Heißt das etwa, die Entblößung geht weiter?«

-- -- -- -- -- -- -- -- --

So, liebe Leser. Nun seid ihr wieder dran. Wird es am nächsten Morgen ein weiteres Bild in der Galerie geben oder nicht?

Die Entblößung im Internet...
...ist nicht aufzuhalten. Her mit dem Adamskostüm!
...wird nicht stattfinden. Die restlichen Textilien bleiben!
Auswertung

Weil diese Folge einen Tag später als geplant erscheint, warte ich vor dem Weiterschreiben den Dienstagmorgen ab.

Nachtrag 5. November: Wer mag, kann noch abstimmen, aber das Ergebnis ist eindeutig. Herr Haberling wird entblößt. Ein gnadenloses Publikum seid ihr! :-)

Freitag, 30. Oktober 2009

Herr Haberland hat Verspätung

haberland Ich weiß, dass viele Leser ungeduldig auf die Fortsetzung der Entblößung warten. Die gute Nachricht deshalb zuerst: Es wird weiter gehen.

Die schlechte Nachricht für alle, die der Macht der Gewohnheit folgend jeweils am Freitag die Fortsetzung erwarten: Herr Haberland hat Verspätung.

Nun könnte ich fabulieren, dass es der Leserwille, ausgedrückt durch das Ergebnis der letzten Abstimmung, schwer gemacht habe, eine Fortsetzung zu ersinnen. Statt dessen sei die nackte Wahrheit offenbart: In den letzten Tagen waren zu viele andere Projekte vorrangig, so dass ich nicht dazu gekommen bin, den Entwurf der nächsten Folge in eine meinen Maßstäben für eine Erstveröffentlichung genügende Form zu bringen.

Immerhin: Der Entwurf existiert, und meine handschriftliche Überarbeitung muss nur noch im Dokument umgesetzt werden. Daher besteht berechtigte Hoffnung, dass es morgen früh hier heißt: Die Entblößung – Teil 5.

Wer nun erstens nicht warten kann und wer zweitens mal einen Blick darauf werfen will, wie ich an meinen eigenen Texten feile, bis möglichst alle Wortwiederholungen ausgemerzt und Formulierungen zu meiner Zufriedenheit gefunden sind, kann auf das Bild klicken und dann (bei entsprechender Vergrößerung) den Beginn des fünften Teils lesen und dabei versuchen, meine handschriftlichen Änderungen zu entziffern. Aber, diese Warnung scheint mir angebracht, zu sehen ist nur eine von mehreren Seiten Text. Ätsch!

Alle anderen seien auf morgen vertröstet. Da gibt es zwar immer noch kein Ende der Geschichte, aber doch immerhin die Fortsetzung und eine neue Frage an die Leserschaft.

Donnerstag, 29. Oktober 2009

Für (werdende) Väter

Da immer mehr Väter Elternzeit beantragen, möchte ich mit ein paar Tipps für den Alltag behilflich sein. Die versteht man auch, ohne des Englischen mächtig zu sein.

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Gefunden bei Kevin Twombly

Mittwoch, 28. Oktober 2009

U2.com > News > Historic Performance at Berlin's Brandenburg Gate


U2.com > News > Historic Performance at Berlin's Brandenburg Gate

So far no chance to get a ticket. Eventim is responding with a stupid Warteraum-page.

I'll keep trying...

Nachtrag 11:06 Uhr: YESSSSS! Zwei Karten erwischt. Heureka!

Wer Lust hat, mich mal wieder zu treffen: Am 5. November bin ich am Brandenburger Tor. So etwa ab 17:30. Da müsste ich ja dann eigentlich leicht zu finden sein...


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