Dienstag, 31. Mai 2011

Jessika meint, dass sie ...

Abstimmung

... mit diesem Ergebnis sehr zufrieden ist. Also halten wir fest: Es wird geschwommen, zu nächtlicher Stunde. Fortsetzung der Geschichte voraussichtlich am Samstag an dieser Stelle.

Montag, 30. Mai 2011

Die Leseprobe zu Sabrinas Geheimnis

Jessika muss noch warten, weil die Abstimmung bisher wenig aussagekräftig ist. Daher heute zum Zeitvertreib eine Leseprobe, die auf Sabrinas Geheimnis neugierig machen soll.

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Sabrinas Geheimnis

Nichts ist vorbei. Nichts kann jemals die Bilder auslöschen, die ich gesehen habe.

 

Prolog

We are all just prisoners here,
of our own device.
The Eagles (Hotel California)

Vor rund zwei Jahren, im April 2009, hat meine Frau einen respektablen Geschäftsmann erschossen. Gezielt, gewollt, mit voller Absicht. Und das ist auch gut so.

Wenn Sie mir durch die Zeilen dieses Buches folgen möchten, werden Sie am Ende womöglich ebenfalls der Meinung sein, dass Christine wegen der drei Schüsse nicht zu tadeln ist. Es kann auch sein, dass Sie anderer Meinung sein werden, womöglich gar Anzeige gegen uns erstatten möchten. Das, liebe Leser, bleibt Ihnen unbenommen.
Mein Name ist Jörgen Maurer, meine Frau heißt Christine Maurer, geborene Dietrichs. Unser Sohn Viktor war 15 Jahre alt und wie ich Augenzeuge, als der Geschäftsmann neben seinem Auto von den Schüssen getroffen zu Boden sank. Wir leben in Hamburg, in einer komfortablen Villa. Das alles können Sie getrost der Polizei erzählen. Fragen Sie nach Kommissar Meinhardt, der wird Ihre Aussagen protokollieren und dann, kaum sind Sie wieder aus dem Präsidium verschwunden, die Aufzeichnungen in seinem Reißwolf verschwinden lassen.
Sie selbst werden voraussichtlich unbehelligt weiterleben dürfen. Wenn Sie es dabei belassen, ausgesagt zu haben. Falls Sie jedoch weiter nachbohren, wäre ich mir da nicht so sicher.

Doch das bleibt ohnehin abzuwarten. Vielleicht haben Sie ja auch kein Mitleid mit dem toten Geschäftsmann. Erst sollen Sie die Geschichte meines – unseres Lebens kennenlernen. Sie dürfen dabei Sabrinas Geheimnis erfahren. So wie ich es erfahren habe. Stück für Stück.

Alles fing damit an, dass ich auf dem Weg vom Büro nach Hause im für den Berliner Stadtverkehr üblichen Stau stand.

 

Kapitel 1

It ain’t why why why.
It just is!
Van Morrison (Summertime in England)

Der Volkswagen hatte mehr als dreißig Jahre seinen Dienst getan. Er erfuhr ganz offensichtlich regelmäßige Pflege, sein Lack glänzte so tiefschwarz in der Nachmittagssonne, dass man hätte meinen können, das Fahrzeug sei gerade vom Band gerollt. Von Weitem betrachtet war der Käfer, der die Fahrbahn zur Hälfte blockierte, ein Schmuckstück.
Als ich an jenem 17. Juli, der alles änderte, um 16:48 Uhr die Unfallstelle erreichte, ging mir der Gedanke so schlimm kann es gar nicht sein durch den Kopf. In meiner Aufregung hatte ich das kurze Telefonat wohl missverstanden.

Ich war auf dem Heimweg vom Büro gewesen, als mir einfiel, dass wir vergessen hatten, ein paar Flaschen guten Wein für den Abend zu kaufen. Wir erwarteten Gäste und eigentlich war alles für einen gemütlichen Abend besorgt – bis auf das passende Getränk.
Der Verkehr war, etwas anderes konnte man um diese Zeit in Berlin auch kaum erwarten, zähflüssig, stand immer wieder still. Zwei Polizeifahrzeuge und ein Notarztwagen hatten sich vor einer viertel Stunde auf der engen Straße am Stau, in dem ich mich mit zahlreichen anderen Verkehrsteilnehmern befand, vorbei gequält. Es ging nur sehr mühsam voran und ich hoffte, dass die Behinderungen bald aus dem Weg geräumt sein würden, damit noch etwas Zeit blieb, um Sabrina zu Hause den Tisch decken zu helfen und das Essen vorzubereiten, bevor unser Besuch kam.
Im Autoradio lief Red Red Wine von UB 40. Ich summte mit, und dabei kam mir der Gedanke an den vergessenen Wein, also rief ich Sabrinas Mobiltelefon an. Es mochte ja immerhin sein, dass sie das Versäumte bereits erledigt hatte. Die praktischen Aspekte des Lebens hatte sie besser im Griff als ich.
Anstelle meiner Frau antwortete eine mir unbekannte männliche Stimme: »Ja bitte?«
Verwählt haben konnte ich mich nicht, da ich die Speichertaste benutzt hatte.
»Wer ist da«, fragte ich, »und wie kommen Sie an das Telefon meiner Frau?«
Der Mann behauptete, Polizist zu sein. Er fragte, wo ich mich gerade befände. Ich erklärte etwas irritiert, dass ich auf dem Weg nach Hause gerade die Osdorfer Straße passiert habe und bestand darauf, zu erfahren, was der Polizist, wenn er wirklich einer war, mit dem Telefon meiner Frau zu schaffen hatte.
Ich ahnte in jenem Moment bereits, dass ich eine schlechte Nachricht bekommen würde. Wenn die Polizei den Anruf an einem privaten Mobiltelefon beantwortet, dann sicher nicht, um über das Wetter oder die Verkehrslage zu plaudern. Kennen Sie das Gefühl, wenn einem an einem warmen Sommertag plötzlich eiskalt wird? Wenn man nicht weiß, wohin der schneller werdende Herzschlag und der Schweißfilm auf der Stirn im nächsten Augenblick führen werden? Ob man in zwei Minuten noch Herr seiner Sinne oder seines Lebens sein wird? So fühlte ich mich, während ich zuhörte.
Ein Verkehrsunfall sei geschehen, erklärte der Polizist, er habe das Telefon aus der Handtasche meiner Frau genommen, als es läutete. Der Unfall sei an der Kreuzung Ostpreußendamm und Wismarer Straße geschehen. Mehr könne er mir am Telefon nicht sagen.
Ich war nicht mehr weit von der Stelle entfernt. Ohne den unfallbedingten Stau hätte ich zwei Minuten gebraucht, doch an jenem 17. Juli dauerte es unerträgliche elf Minuten, in denen Hoffnung und Angst um die Oberhand kämpften.
Eine Verwechslung.
Warum hat die Polizei dann Sabrinas Telefon?
Nur eine Schramme, meinetwegen ein gebrochenes Bein. Sie kann nicht schwer verletzt sein.
Warum nimmt sie dann  den Anruf nicht selbst entgegen? Sie stirbt oder ist schon  tot.
Unsinn, warum sollte sie tot sein. Außerdem kann das gleiche Schicksal nicht zwei Mal den gleichen Menschen treffen.
Ach nein? Wo steht das geschrieben?
Der Blitz schlägt nicht zwei Mal in den gleichen Baum. So schlimm ist es nicht. Gleich wird sich alles aufklären …
Ich hielt hinter einem Polizeifahrzeug an. Die Mine des Polizisten, der auf mein Fahrzeug zu kam, ließ meine Hoffnung bedingungslos vor der Befürchtung kapitulieren.
Doch, es ist schlimm. Noch viel schlimmer.
Zögernd öffnete ich die Türe und stieg aus.
»Herr März?« Der Mann hielt die Brieftasche meiner Frau in der Hand und verglich mein Gesicht mit dem Foto, das sie dort aufbewahrte.
»Ja«, sagte ich. Meine Stimme schien einem Fremden zu gehören. »Ich bin Roland März. Was – wo ist meine Frau?«
»Es tut mir Leid«, murmelte er, »es sieht nicht gut aus.«
Aus der Nähe sah ich jetzt, dass der Volkswagen an der rechten Front eingedrückt war. Auf der Motorhaube klebte etwas, was ich in vielen Träumen der nächsten Monate wieder und wieder sehen würde: Blut und ein paar Klumpen einer grauen Masse.
Das kann irgendetwas sein. Vielleicht Lehm von einem Feldweg.
Allerdings hatte ich noch nie Lehm gesehen, der mich so an Gehirnmasse denken ließ. Ansonsten war das Auto sauber wie ein Ausstellungsstück im Verkehrsmuseum.
Der Notarztwagen, der sich vorhin am Stau vorbei in Richtung Unfallstelle gequält hatte, stand auf der Fahrbahn, die hinteren Türen waren offen. Gestalten beugten sich über einen Körper. Ich erkannte Sabrinas neues Kleid, und noch etwas fiel mir auf, aber das drang nicht bis in mein Bewusstsein vor – es sollte noch Monate dauern, bis mir dieses Detail gewärtig wurde. Dort auf der Straße hatte ich nur einen Gedanken: Ich will zu Sabrina!
Man ließ mich nicht in den Krankenwagen. Mit sanfter Gewalt hielt mich ein Verkehrspolizist zurück, redete beruhigend auf mich ein, appellierte an meine Vernunft, versuchte, mich zu der Einsicht zu bewegen, dass ich mir den Anblick besser ersparte. Ich widerstrebte, wollte seine Hand von meinem Arm abschütteln. Schließlich sagte mir, da ich für rücksichtsvoll formulierte Argumente nicht zugänglich war, ein dem Polizisten zur Hilfe kommender Arzt unumwunden, dass der Kopf meiner Frau zwischen das Auto und den Glascontainer am Straßenrand geraten war.
»Wollen Sie sich das wirklich anschauen?«, fragte er. »Sie würden ihre Frau nicht erkennen.«
Das will ich nicht. Das kann ich nicht. Das ist überhaupt nicht wahr, das kann nicht Sabrina sein. Der Blitz schlägt doch nicht …
»Aber die …« fing ich an, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte. Mein Unterbewusstsein hatte etwas aufgeschnappt, ein dringendes, ein wichtiges, ein entscheidendes Detail, behielt es aber für sich wie ein trotziges Kind den letzten Keks in der Blechdose.
Ich setzte neu an: »Die … aber die – ich meine – es stimmt nicht – ich …«
Der Arzt fragte mich, ob ich ein Beruhigungsmittel wollte, Ich lehnte ab. Ich wollte Sabrina zurückhaben, und wenn das unmöglich war, wollte ich gar nichts mehr.
Die Türen des Notarztwagens wurden geschlossen und das Fahrzeug entfernte sich. Ich blickte hinterher, war versucht, dem Wagen nachzurennen. Als er außer Sicht war, schaute ich mich um und wusste plötzlich nicht, warum ich hier auf der Straße stand. Der Polizist brachte mich zu einem Streifenwagen und nötigte mich, ein paar Minuten Platz zu nehmen.

Irgendwie kam ich zu Hause an, ich kann mich bis heute nicht recht erinnern, was geschah, nachdem die Türen des Notarztwagens geschlossen wurden und ich weinend in dem Polizeifahrzeug Platz genommen hatte. Ich erwartete, Sabrina in der Wohnung zu finden, doch da wartete nur der festlich gedeckte Tisch. Da war niemand, der das Essen vorbereitete oder auftrug. Niemand, der mir ein fröhliches »wie war dein Tag?« entgegen rief. Im Schlafzimmer lag eine Kollektion von Kleidungsstücken auf dem Bett, wie immer, wenn sie sich schönmachen wollte. Sie beklagte sich in solchen Momenten, dass sie nichts anzuziehen hätte, was ich ihr nicht glaubte, denn sie war noch nie nackt in die Philharmonie gegangen oder hatte unbekleidet Gästen die Tür geöffnet. Aber an diesem Abend war da keine Sabrina, die etwas überstreifte und mich fragte: »Sieht das gut aus?«
Meine Antworten waren in solchen Fällen unerheblich gewesen, da ich, wie Sabrina zu sagen pflegte, »sowieso nicht objektiv« sei. Möglicherweise hatte sie recht, denn wie könnte ein Mann je objektiv urteilen, wenn es um das Aussehen der geliebten Frau geht?
Ich setzte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und starrte die Visitenkarte an, die mir ein Polizist gegeben hatte. Die Adresse und Telefonnummer eines Psychologen waren darauf verzeichnet.
Als bald darauf die ahnungslosen Abendgäste klingelten, reagierte ich nicht. Ich saß im Wohnzimmer und starrte auf die Karte. Es klingelte erneut.
Sabrina wird schon aufmachen. Ich bleibe hier sitzen.

Die Zeitungsnotiz im Lokalteil der Berliner Morgenpost am nächsten Tag war kurz und nüchtern: »Der flüchtige Fahrer eines VW-Käfer befuhr die Wismarer Straße in Richtung Ostpreußendamm. Die Ampel an der Kreuzung zeigte nach Angaben von Zeugen bereits mehrere Sekunden Rot für den Fahrzeugverkehr. Der Pkw erfasste eine 32-jährige Fußgängerin, die bei Grün die Straße überqueren wollte. Die Frau erlitt schwerste Kopfverletzungen und starb noch am Unfallort. Während sich die Augenzeugen um die Verletzte kümmerten, entfernte sich der Fahrer unbemerkt. Die Polizei bittet Zeugen des Unfalls, die den flüchtigen Fahrer beschreiben können, sich zu melden.«
Viel mehr erfuhr ich auch später nicht in meinen Gesprächen mit den ermittelnden Beamten. Der Fahrer des alten Käfers war mit ziemlich hoher Geschwindigkeit durch die Kurve vor der Kreuzung gefahren, den Spuren nach zu urteilen kam das Fahrzeug ins Schleudern und der Mann riss das Steuer nach rechts, zum Straßenrand. Sabrina habe das Fahrzeug kommen sehen, sagten einige Zeugen, und versucht, auszuweichen. Sie hatte es nicht geschafft. Sie prallte auf die Motorhaube, rutschte nach vorne ab. Ihr Kopf wurde zwischen dem Auto und dem massiven Sammelbehälter für Glasflaschen am Straßenrand zerquetscht.
Die Beschreibungen des Fahrers durch die Unfallzeugen waren so unzureichend, dass man nicht einmal ein Phantombild zustande brachte. Er sei »in jugendlichem Alter« gewesen, habe »längere Haare« gehabt – das war so ziemlich das Einzige, was die Befragten übereinstimmend aussagten. Einige meinten, ein Nasenpiercing gesehen zu haben. Andere hielten ihn für einen Türken oder Araber. Aber niemand konnte verwertbare Angaben manchen, die bei der Fahndung geholfen hätten.
Der VW war bereits am Vortag als gestohlen gemeldet worden. Die Untersuchungen des Fahrzeugs ergaben, dass die Reifen nicht mehr die vorgeschriebene Profiltiefe hatten, aber ob das Geschehen nun wegen der Reifen, wegen der überhöhten Geschwindigkeit oder aus sonstigen Gründen passiert war, interessierte mich nicht, denn es änderte nichts an den Folgen. Sabrinas Leben war ausgelöscht worden. Man erklärte mir, dass aufgrund der Verletzungen der Tod sofort eingetreten sei, dass meine Frau zumindest keine Schmerzen hatte erleiden müssen. Ein gewisser Trost lag in diesem Wissen, aber das machte den Verlust auch nicht leichter. Es war so unnötig und sinnlos, dass wegen eines Jugendlichen und seiner Raserei mit einem gestohlenen, nicht verkehrstüchtigen Auto ihr Leben enden musste.
Oder wegen der vergessenen Weinflaschen – denn deswegen war Sabrina noch einmal zum Supermarkt gegangen. Auf dem Küchentisch zu Hause hatte ihre Notiz gelegen, die letzten paar Buchstaben, die sie in ihrem Leben geschrieben hatte: Ich bin schnell Wein kaufen und gleich zurück. Ich liebe Dich! Sabrina.
Je länger ich grübelte, desto sicherer war ich, dass ich Schuld war. Ein paar Tage zuvor hatte ich eigentlich unsere Weinvorräte auffüllen sollen. Die Weinhandlung lag auf dem Weg vom Büro nach Hause, ich musste noch nicht einmal einen Umweg fahren. Doch der kleine Parkplatz war voll, ich war müde und so verschob ich den Einkauf.
Wäre ich nicht so bequem gewesen, hätte ich ein paar Straßen entfernt geparkt und den Einkauf erledigt, würde Sabrina noch leben.
Ich wünschte, es wäre ihr nicht eingefallen, dass der Wein fehlte. Ich wünschte, sie wäre eine Minute früher losgegangen, oder eine später. Ich wünschte, man könnte wie in dem Film Lola rennt noch mal von vorne anfangen, wenn die Ereignisse eine schreckliche Wendung nehmen. Doch dies war die Realität, kein Film, alles Wünschen und Grübeln war vergebens. Mein Verstand kümmerte sich allerdings herzlich wenig um die Vernunft. Immer wieder meinte ich, in der leeren Wohnung ihre Schritte zu hören. Morgens wachte ich auf und wunderte mich darüber, dass Sabrina schon vor mir aufgestanden war, denn ihre Betthälfte war leer. Beim Einkaufen legte ich ihr Lieblingsduschgel in den Korb…
Die Visitenkarte des Psychologen hatte ich weggeworfen. Ich wollte allein mit meinem Schmerz fertig werden. Mein Leben irgendwie weiterführen. Oder auch nicht. Manchmal zweifelte ich daran, dass sich die Mühe lohnen würde.
Ich konnte in den folgenden Wochen nicht an jener Kreuzung vorüber fahren, ohne Sabrinas leblosen Körper zwischen Glascontainer und Volkswagen vor mir zu sehen. Wenn man mich zu ihr gelassen hätte, wenn ich sie hätte betrachten, berühren dürfen, statt nur einen kurzen Blick auf die Gestalt im Notarztwagen zu erhaschen, der man ein grünes Tuch über den Kopf gelegt hatte – wäre meine Fantasie weniger eigenwillig gewesen? Hätte ich mehr Gewissheit gehabt, dass ich mich mitten im wahren Leben und nicht in einem bösen Traum befand? Aber ich hatte keine Gelegenheit bekommen, einen letzten, Abschied nehmenden Blick auf meine Frau zu werfen. Ich hatte nichts weiter als den Blick in den Notarztwagen aus etlichen Metern Entfernnung: Ihre schlanken Beine, das neue, hellblaue Seidenkleid mit dem dezenten Design aus cremefarbenen Blumen, ihre blutverschmierte Hand, die seltsam verdreht herabhing, das grüne Tuch über ihrem Kopf. Soweit noch ein Kopf vorhanden sein mochte.
Gelegentlich suchte mich bei meinen Grübeleien ein Gefühl heim, das ich schon am Unfallort gespürt hatte. Da ist noch etwas. Da ist ein Detail. Das könnte alles ändern.
Das Detail, wenn es denn eines geben sollte, blieb mir jedoch verborgen. Und zu ändern war ja nun nichts mehr.
Ich wehrte mich gegen diese Bilder, lange Zeit vergebens. Manchmal bedauerte ich es, den Psychologen nicht wenigstens einmal aufgesucht zu haben. Hätte er meine Fassungslosigkeit über die Sinnlosigkeit des Unglücks mindern können? Ein Unfalltod ergibt selbstverständlich niemals einen Sinn. Das Schicksal, blind wie es nun einmal ist, schlägt zu, und dann bleibt nichts als die Illusion, das Ganze sei ein Albtraum, aus dem man bald erwachen wird. Allerdings wacht man nie auf.

Der Blitz war doch ein zweites Mal in den gleichen Baum eingeschlagen. Wieder hatte ich meine Ehefrau durch einen – das Schicksal mochte blind sein, liebte aber offensichtlich die grausame Ironie – Verkehrsunfall verloren.

 

Kapitel 2

And I know it aches and your heart it breaks,
you can only take so much.
U2 (Walk On)

Ich weiß, liebe Leser, dass Sie neugierig auf Sabrinas Geheimnis sind, und bisher haben Sie so wenig Ahnung davon, wie ich nach diesem Unfall ahnte, was noch auf mich zukommen würde. Aber erlauben Sie mir, an dieser Stelle von Esther zu erzählen. Auch mit Sabrina hatte ich immer wieder über sie gesprochen, und einiges, was Sie später in diesem Buch lesen werden, ist leichter einzuordnen, wenn Sie jetzt Esther ein wenig kennen lernen.
Ach so, was ich eigentlich schon im Prolog sagen wollte, will ich hier nachholen: Wenn ich Sie mit Leser anrede, dann meine ich die Damen genauso wie die Herren. Ich finde dieses unsägliche »LeserInnen« so albern wie die ständige Doppelung »Leserinnen und Leser«. Ich hoffe, Sie können mir das nachsehen. Doch das sei nur am Rande angemerkt.

Esther, meine erste Frau, war am 23. Dezember vor elf Jahren auf dem Weg von der Bushaltestelle zu unserer Wohnung verunglückt und am ersten Weihnachtsfeiertag »ihren Verletzungen erlegen«, wie es in der Pressenotiz hieß. Eine harmlose Umschreibung für das, was ich im Krankenhaus gesehen hatte.
Ein Lastkraftwagen, mit Streugut für die Straßendienste in Berlin beladen, schleuderte wegen der Glätte, geriet auf den Gehweg und klemmte Esther zwischen Fahrzeug und Hauswand ein, verwandelte in einem Augenblick ihren schmächtigen Körper in eine Figur aus einem minderwertigen Horrorfilm. Die Beine waren unversehrt, der Kopf ebenfalls, dazwischen gab es eine Masse aus Knochensplittern, zerrissenen, gequetschten Organen sowie Rost und Schmutz von Fahrzeug und Hausmauer.
Als ich sie im Krankenhaus sah, erkannte ich ihr Gesicht kaum wieder. Schläuche und Drähte führten zu Geräten, deren Funktion ich nicht verstand. Ich begriff lediglich, dass dieser Körper nur von den Maschinen auf der Intensivstation am Leben gehalten wurde, und als der Stationsarzt mir am frühen Weihnachtsmorgen bestätigte, dass Chancen für eine Besserung nicht bestünden, dass darüber hinaus seit dem Unfall keine Hirntätigkeit mehr messbar gewesen war, gab ich mein Einverständnis, die Geräte abzuschalten. Ich hielt Esthers Hand, während die Monitore still und dunkel wurden.

Verwandte, Freunde und Bekannte hatten uns als Traumpaar bezeichnet, obwohl – oder gerade – weil wir harte Kämpfe hatten durchstehen müssen und lange Geduld mit der Familie meiner Frau vonnöten gewesen war. Esther war Jüdin, ihrer Verwandtschaft eine familiäre Verbindung mit einem Deutschen zunächst unvorstellbar. Angesichts der Geschichte meines Volkes, unserer historischen Schuld, konnte ich in gewisser Weise verstehen, dass den Eltern ein anderer Partner für ihre Tochter lieber gewesen wäre.
Wir hatten uns in Frankreich kennengelernt. Ich besuchte in Paris ein zweiwöchiges Seminar über die unterschiedlichen Erfahrungen mit teamorientierten Führungsstilen in Europa. Esther hatte keine weite Anreise, sie lebte nur drei Straßen vom Tagungshotel entfernt. Sie war als Vertreterin der Firma Renault zu dem Kolloquium gesandt worden.
Wir unterhielten uns in den Pausen und fanden bald Gefallen aneinander. Sie war von zarter Gestalt, ihre schwarzen, lockigen Haare trug sie offen. Sie kleidete sich ausgesucht elegant und bewies hervorragende Umgangsformen. Zwei Grübchen über den Mundwinkeln zeugten von ihrer heiteren Natur.
Mich beeindruckten ihre fundierten und selbstsicheren Beiträge bei den Diskussionen. Sie scheute nicht davor zurück, dem Dozenten aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen zu widersprechen, wenn sie anderer Meinung war, zu abweichenden Schlüssen kam als dieser Theoretiker. Esther konnte das, was sie zu den Podiumsrunden beitrug, durch Praxisbeispiele illustrieren. Ich beobachtete sie, war fasziniert und gab mir Mühe, sie nicht aufdringlich anzustarren.
Am vierten Abend besichtigten wir eine Ausstellung zeitgenössischer Malerei und saßen anschließend einige Stunden in einem Café, genossen ausgezeichneten Rotwein zu einem leichten Salat – und verliebten uns. Sie sprach recht gutes Deutsch, da sie von früher Jugend an eine Vorliebe für deutsche Literatur entwickelt hatte. Gelegentlich musste ich schmunzeln, wenn Ausdrucksweisen, die bei Thomas Mann noch ganz natürlich gewirkt hatten, im heutigen Sprachgebrauch aber weitgehend verschwunden waren, ihre Sätze schmückten.
Das Wochenende nach dem Seminar verbrachten wir gemeinsam. Meinen Rückflug hatte ich von Freitag auf Sonntag umgebucht und das Hotelzimmer stand mir zur Verfügung, da es noch nicht reserviert war. In Berlin wartete niemand auf mich.
Esther zeigte mir Paris, allerdings hatte ich eher Augen für sie als für Gebäude, Plätze und Parks. Ein paar Stunden vor meiner Abreise stellte mich Esther ihrer Familie vor. Bis zu diesem Moment war ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass es ein durch die Abstammung verursachtes Problem geben konnte; Esther allerdings auch nicht, denn sonst wäre der Besuch sicher besser vorbereitet oder auf später verschoben worden. Zwar hatte sie mir beiläufig erzählt, sie sei jüdischer Abstammung, doch war dies für mich nicht bedeutsamer als wenn ihre Vorfahren Schweden oder Tschechen gewesen wären.
Auf dem Weg zu ihren Eltern erzählte sie mir, was sie von ihren Großeltern wusste. Beide waren in Deutschland geboren und aufgewachsen. Trotz warnender Stimmen vor dem Unheil, das die Nazis bringen würden, waren sie geblieben, bis sie aus dem Land, das sie als Heimat verstanden und liebten, nach Warschau deportiert und dort in ein Getto gesperrt wurden. Esthers Großvater, ein begabter Musiker, spielte im Getto unbeirrt weiter Musik auch von deutschen Komponisten. Bis zu dem Tag, an dem er in einen Waggon getrieben wurde, glaubte er daran, dass der Nazispuk schnell vorübergehen, dass das Land, dem Schiller, Goethe und Thomas Mann entstammten, in dem Bach, Brahms und Beethoven unsterbliche Musik geschaffen hatten, zur Zivilisation zurückfinden musste.
Seine Frau sah ihn nie wieder. Als sie einige Tage nach dem Abtransport der Männer aus dem Getto fliehen konnte, wusste sie noch nicht, dass sie schwanger war. Esthers Mutter kam in einem Versteck zur Welt, das eine Bauernfamilie in ihrer Scheune für eine Handvoll Flüchtlinge eingerichtet hatte.
Esthers Großmutter hatte nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden gesetzt. Auch ihren Eltern war eine Reise nach Deutschland unvorstellbar. Alles, was »vor Hitler« gewesen war, Literatur und Musik vor allem, hatte an Wertschätzung nichts eingebüßt, an der deutschen Gegenwart bestand hingegen keinerlei Interesse.
Esthers Vater war Literaturkritiker, schrieb für die großen französischen Zeitungen, hatte auch mehrere Bücher veröffentlicht. Er ignorierte alle Werke, die von deutschen Schriftstellern der Gegenwart stammten. Er hatte eine einzige Ausnahme gemacht, als Marcel Reich-Ranickis »Mein Leben« erschienen war. Er lobte das Buch in einem Artikel, allerdings mit der Anmerkung, dass Reich-Ranicki kein Deutscher, sondern Jude sei, der eigentlich nicht in Deutschland leben sollte.
Seine Frau gab eine kleine aber feine Literaturgazette heraus, in der unbekannte Dichter ihre ersten literarischen Gehversuche der Öffentlichkeit vorstellen konnten. Es wurden Autoren aus vielen Ländern gedruckt, jedoch kein einziger Deutscher.
Esther hatte sich wie ihre Eltern zunächst mit der Literatur beschäftigt. Doch nach einigen Semestern Literaturwissenschaft wandte sie sich dann der Betriebswirtschaft, insbesondere dem Personalwesen, zu. Die Literatur schien ihr, wie sie mir schon bei unserem ersten Kennenlernen während des Seminars erzählt hatte, keine ausreichend sichere finanzielle Grundlage für das Leben zu bieten. Vater und Mutter verdienten allerdings gut damit – so mochte bei Esthers Entscheidung durchaus auch das Abnabeln vom Elternhaus eine Rolle gespielt haben, ein Ausbrechen aus dem Zwang der Familientradition sein. Mir fiel Katja Manns berühmter Satz »Es muss in dieser Familie einen Menschen geben, der nicht schreibt!« dazu ein. Esther wollte ihren eigenen Weg finden und gehen, in der Industrie. Die Liebe zur Literatur gab sie ja damit nicht auf.
Als ich an jenem Sonntag im Wohnzimmer von Esthers Familie in der Rue Raphael saß, spürte ich die Ablehnung fast körperlich in der Atmosphäre. Obgleich ich, 1955 geboren, die sogenannte Gnade der späten Geburt besaß, war ich als Angehöriger der Nation, die dem Volk meiner Gastgeber unaussprechliches Leid angetan hatte, nicht willkommen.
Esthers Großmutter wirkte körperlich gebrechlich, aber geistig hellwach. Die Unterhaltung verlief höflich und reserviert; ich hatte es schließlich mit gebildeten Menschen zu tun, deren Umgangsformen keinen Raum für Taktlosigkeit ließen – nicht einmal einem Deutschen gegenüber. Esther und ich waren noch kein Paar, sondern lediglich seit ein paar Tagen befreundet; doch bereits diese Freundschaft wurde, unausgesprochen aber deutlich spürbar, als ungehörig empfunden. Wie konntest du nur einen Deutschen ins Wohnzimmer unserer Familie bringen schienen die Blicke zu sagen, die Esthers Mutter ihrer Tochter zuwarf.
Dieser erste Besuch war kurz, was ich nicht bedauerte. Wir verließen die Wohnung nach zwei Tassen Kaffee und einem Stück Kuchen. Bis zu meinem Abflug blieben noch einige Stunden. Wir setzten uns wieder in das Café, in dem wir unseren ersten gemeinsamen Abend verbracht hatten.
»Meine Eltern und Großmutter waren nicht besonders liebenswert, nicht wahr?«, fragte sie und sah mich mit besorgtem Blick an.
»Stimmt. Sie haben uns beide behandelt wie ungebetene Fremde – nun ja, ich bin ja immerhin ein Fremder. Dass ich so unerwünscht war, hatte ich allerdings nicht vermutet.«
Sie runzelte die Stirn, suchte offenbar nach einer Möglichkeit, mir das Verhalten ihrer Familie plausibel zu machen.
»Es ist«, fing sie an, »doch ein größeres Problem, als ich gedacht hatte. Es gibt wohl zwei Dinge, die meiner Familie nicht recht sein werden, falls aus uns ein Paar wird. Ich hätte übrigens nichts dagegen.«
Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und reichte sie Esther. Dann nahm ich mir selbst eine. Wir rauchten einen Moment schweigend.
»Ich glaube, ich weiß, welches die beiden Probleme sind«, sagte ich schließlich.
»Dann erzähl. Die Kugel ist bei dir!«
Ich lachte, möglicherweise etwas zu laut für die gediegene Umgebung. Esther blickte mich irritiert an.
»Ich lache nicht über dich«, beeilte ich mich zu erklären, »sondern über diesen köstlichen Ausdruck. Ich weiß schon, was du meinst. Die Kugel ist bei mir. Herrlich.«
»Sagt man das nicht?«
»Nein, das sagt man nicht.«
»Aber man sagt das in Französisch.«
»Mag sein, so gut ist meine Sprachkenntnis nicht. Aber in Deutsch sagt man so was wie du bist dran oder du bist am Ball oder na dann schieß los.«
»Ich will nicht, dass du schießt. Ich bin für den Frieden!«
Wir amüsierten uns eine Weile über eigentümliche Metaphern in unseren Sprachen, bevor wir zum Thema zurückkamen.
Beim zweiten Glas Wein nahm ich den Faden wieder auf: »Also, ich gehe davon aus, dass ein Problem in der Tatsache liegt, dass ich Deutscher bin. Wäre ich Spanier, Amerikaner, von mir aus auch Eskimo, dann wäre die erste Hürde gar nicht vorhanden.«
»Das heißt Inuit, nicht Eskimo«, belehrte sie mich. »Eskimo ist nämlich ein abfälliger Ausdruck, der soviel bedeutet wie »jemand, der rohes Fleisch isst«. Inuit dagegen entstammt der Sprache des Volkes und heißt einfach »wahrer Mensch«. Aber deine Vermutung stimmt. Und was ist das zweite Problem?«

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Sonntag, 29. Mai 2011

Jetzt erhältlich: Sabrinas Geheimnis

Sabrinas GeheimnisDer Blitz schlägt nicht zwei Mal in den gleichen Baum, sagt sich Roland März, als er am Telefon hört, seine Frau habe einen Unfall gehabt. Doch der Blitz tut gelegentlich, was er will: Zum zweiten Mal verliert Roland seine Ehefrau durch einen Verkehrsunfall. Sabrina ist tot. Schicksal. Pech.

Schon bald zeigt sich, dass der Albtraum mit dem Unfall gerade erst begonnen hat. Roland stößt in den Unterlagen seiner Frau auf Spuren, die ihm nach und nach offenbaren, dass Sabrina ein doppeltes Leben geführt hat. Sie hütete ein tödliches Geheimnis, und jemand trachtet nun auch Roland nach dem Leben. Er sucht weiter die Wahrheit über Sabrina - koste es, was es wolle. Je mehr er entdeckt, desto fassungsloser ist er. Was hatte seine Frau mit Kindesmissbrauch und Pädophilie zu tun? Wer hat sie ermordet und wer ist jetzt hinter ihm her?

Die staatlichen Organe sind so gut wie machtlos. Aber eine geheimnisvolle Organisation, die keine Rücksicht auf Recht und Gesetz nimmt, scheint auf Rolands Seite zu stehen. Die Grenzen zwischen Gut und Böse geraten ins Wanken, während er Sabrinas Geheimnis immer näher kommt.

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Freitag, 27. Mai 2011

Jessika–Die Konfrontation /// Teil 2

Was bisher geschah: [Teil 1]

Was nun geschieht:

------ …… ------

»Wenn dir keine schwierigere Frage einfällt«, lächelte Jessika, »kann ich dir das gerne erzählen. Und zeigen.«

Jetzt war ich mir sicher, dass sie keine Ahnung hatte, denn das Foto war damals samt Negativ verbrannt worden. Als ich 13 war, gab es noch keine digitale Fotografie, das Bild war auch nie nachträglich gescannt und digitalisiert worden. Also konnte sie mir nichts zeigen, die damalige Vernichtung war endgültig. Ich war gespannt, was für eine Geschichte sie mir auftischen würde.

Unsere Gläser waren leer, ich überlegte gerade, ob ich ein drittes Bier wollte oder nicht, auf nüchternen Magen, als der Kellner an unseren Tisch kam und fragte, ob ich etwas nach meinem Geschmack in der Speisekarte gefunden hatte. Weil Jessika aufgetaucht war, als ich gerade etwas aussuchen wollte, hatte ich gar nicht mehr nachgeschaut.

»Svičková«, sagte ich kurzentschlossen.

Jessika bestellte Pstruh po mlynářsku.

Als der Kellner verschwunden war, lächelte sie versonnen und begann: »Du mochtest den Schwimmunterricht nicht, allerdings lag das keineswegs daran, dass du schlecht oder nicht gerne geschwommen wärest, sondern an der Badebekleidung und dem Duschen.«

Das kann nicht sein. Woher weiß sie das?

Vermutlich konnte sie meinem Gesicht die Verblüffung ansehen, aber sie fuhr ungerührt fort: »Schwimmen hattet ihr immer Donnerstags. Eines Freitags kamst du in die Schulklasse und ringsum wurde getuschelt und gekichert, während so gut wie alle Blicke auf dir ruhten. Das ging so weiter, bis dein Freund Robin das in die Hände bekam, was unter den Tischen durch die Klasse weitergereicht wurde.«

Jessika griff nach ihrer Handtasche und holte einen Umschlag hervor. Ich konnte mir denken, was darin war, denn offensichtlich funktionierte in diesem Traum alles, was im Wachzustand unmöglich war. Also konnte auch ein vor Jahrzehnten verbranntes Foto auftauchen. Ich war sogar ein wenig gespannt auf das Bild, das ich damals, mit 13 Jahren, nur kurz gesehen hatte. Robin hatte sich als echter Freund erwiesen und die Aufnahme nicht weiter gereicht, sondern in seinem Mathematikbuch verschwinden lassen. Als wir nach dem Unterricht zusammen die Schule verließen, klärte er mich über den Grund für das Getuschel und Gekicher auf und zeigte mir das Bild. Am Nachmittag besuchten wir zusammen unsere Klassenkameradin Franziska, denn sie war die einzige, die als Urheberin in Frage kam. Ihre Eltern führten ein Fotofachgeschäft und hatten ein Fotolabor im Haus. Da das Bild vom Vortag stammte und jeder normale Kunde ein paar Tage auf seine entwickelten Bilder warten musste, konnte nur sie von heute auf morgen einen Abzug mit in die Schule bringen. Robin verlangte das Negativ, Franziska wollte erst nicht wissen, worum es ging, gab dann aber nach, als wir uns mit der Bemerkung, dann eben ihre Eltern zu fragen, zum Gehen wandten.

»Wenn in dem Umschlag das Foto ist, das damals verbrannt wurde, dann würde mich interessieren, wo es herkommt. Und vor allem wie es in deine Hände gelangt ist«, sagte ich.

»Willst du nicht nachschauen?«

Ich nahm das Couvert und griff hinein. Die Rückseite lag oben. Da stand, genau wie ich es erwartet hatte, in Mädchenschönschrift: Johannes sein Johannes.

Johannes sein JohannesIch drehte das Bild um. Es war das Foto, das mir als 13jährigem so peinlich gewesen war. Dass wohl die ganze Klasse sich darüber amüsiert hatte, war noch peinlicher gewesen als der Moment, in dem es entstanden war. Als erwachsener Mensch denkt man anders darüber, weiß, dass es vollkommen normal ist und jedem pubertierenden Jungen häufig geschieht. Aber wenn man der pubertierende Junge ist und eine Badehose trägt, die so deutlich erkennen lässt, dass man eine Erektion hat, dann möchte man im Boden versinken. Oder im Wasser bleiben, bis der Penis sich wieder beruhigt hat. Allerdings schwindet die Schwellung nicht, wenn man ständig über sie nachdenkt und wenn der Sportunterricht zu Ende ist, muss man aus dem Wasser, ob man will oder nicht.

»Das«, erklärte Jessika triumphierend, war der peinliche Moment aus deinem 13ten Lebensjahr, den du bis heute nicht vergessen hast.«

Ich schob das Foto zurück in den Umschlag und nickte. »Woher weißt du das? Wie kommt das Foto in deinen Besitz?«

»Du kannst es behalten«, bot sie mir an. »Ich habe damals zwei Abzüge gemacht, das Negativ und den anderen Abzug hast du mit Robin zusammen verbrannt. Dieses Exemplar habe ich seit damals gut verwahrt und immer wieder angeschaut.«

Ich lachte laut auf, vielleicht zu laut, denn einige Gäste auf der Terrasse warfen uns neugierige Blicke zu.

Schade, dass ich mir Träume nie merken kann, sonst würde ich mir diesen Unsinn aufschreiben, wenn ich nachher wach bin. Jessika will Franziska gewesen sein! Ach du liebe Güte!

Ich trank meinen letzten Schluck Bier und kicherte: »Jessifranziska. Franzisjessika. Franjessiska.«

In ihren Augen blitzte es vergnügt. Sie meinte: »Ich habe damals noch mehr Fotos von dir gemacht. Ich war nämlich verliebt. Ich hatte dieses« - sie tippte auf den Umschlag - »Bild auch nicht böse gemeint. Ich fand es toll, wollte es nur meiner besten Freundin zeigen, weil wir uns oft über Jungs unterhielten, fantasierten …«

Mir fiel nichts passenderes ein, als Goethe zu zitieren: »Es fehlt dir nie an närrischen Legenden; fängst wieder an, dergleichen auszuspenden.«

Der Kellner brachte unser Essen, brachte auch gleich ein frisches Bier für mich mit. Das hatte ich nicht bestellt, nahm es aber gerne. Jessikas Glas war noch halb voll.

»Dobré chutání«, sagte der Mann und nahm den Aschenbecher an sich.

Jessika strahlte ihn an: »Děkuji srdečně!«

»Rádo se stalo.«

Für meine Ohren klang Jessikas Tschechisch perfekt, allerdings konnte ich mir kein Urteil erlauben, da ich so gut wie nichts verstand, geschweige denn all die sonderbaren Laute über meine Lippen zu bringen vermochte. Mir schien es, als flirtete Jessika mit dem Kellner – und so unverständlich mir das später war, in der Rückschau, ich spürte einen Anflug von Eifersucht. Völlig absurd. Wie der ganze Nachmittag und frühe Abend bisher.

Wir aßen ein paar Minuten schweigend. Ich überlegte, wie ich Jessika klarmachen konnte, dass ihre Geschichte Unfug war. Ob es überhaupt sinnvoll war, ihr das zu erklären. Die ganze Situation war ja völlig unmöglich, wozu also etwas erklären, was sowieso nicht stattfindet oder stattgefunden hat?

Schließlich sagte ich: »Als du 13 warst, hast du in Berlin gelebt und mit einer Hausmeisterin namens Evi Müller Teile einer frischen Männerleiche verspeist.«

Sie nickte und schnitt ein Stück vom Fleisch auf ihrem Teller ab. »Ja.«

»Als Franziska 13 war, lebte sie in Memmingen im beschaulichen Allgäu und hat mit ihrer Minox heimlich Fotos gemacht.«

Jessika spießte ein Stück Knödel auf die Gabel. »Ja.«

»Also was denn nun?«, fragte ich. »Wer denn nun?«

Jessika kaute genüsslich, schluckte, runzelte die Stirn und entgegnete: »Das fragst du jetzt aber nicht wirklich, oder?«

Natürlich nicht, da wir ja gar nicht hier in der Abendsonne sitzen, tschechische Nationalgerichte verspeisen, Budweiser Bier trinken und in dem Umschlag da ein vor dreißig Jahren verbranntes Foto von meinem durch die Badehose kaum verborgenen steifen Penis liegt. Nichts hier ist wirklich.

Ich überlegte, was ich sagen sollte. Jessika kam mir zuvor: »Wenn ich, wie du meinst, ein Geschöpf deiner Fantasie bin, wenn ich, wie du in Italien erkannt hast, als Nephilim mein Alter ändern und anpassen kann, wenn ich, wie du schon vorher wusstest, viel älter bin als ein Menschenleben je dauern könnte, warum sollte ich dann nur einmal ein 13jähriges Mädchen gewesen sein?«

 

Nach dem Essen rauchten wir noch eine Zigarette, der Kellner hatte beim Geschirrabräumen einen sauberen Aschenbecher gebracht.

Das Hotel Klika ist nicht groß, vielleicht trägt gerade das zur behaglichen, fast freundschaftlichen Atmosphäre bei. Die Ausstattung der Zimmer ist schlicht, der Fernseher jeweils winzig, das W-LAN unzuverlässig … aber die Lage direkt am Wasser, die Nähe zur Altstadt und vor allem die freundlichen Menschen, die das Hotel führen und dort arbeiten, haben es mir seit Jahren angetan. So gut wie jedes Jahr verbringe ich eine Woche dort, um auszuspannen, Ideen zu sammeln, Notizen zu machen.

Hatte ich hier auch an Episoden mit Jessika geschrieben? Möglich war es, vielleicht vor etlichen Jahren. Nun saß sie neben mir, die ausgedachte, die erfundene, die unbegreifliche und undurchschaubare Fantasiegestalt. Inzwischen war mir ziemlich klar, dass mein Gedanke, alles nur zu träumen, einem Wunschtraum gleichkam. Was aus dieser Situation werden sollte, war mir völlig schleierhaft. Hatte ich Jessika herbeigedacht oder konnte sie tun und lassen, was ihr in den Sinn kam? Kommen und gehen, wann und wie es ihr gefiel? Was wollte sie überhaupt von mir? Oder was wollte ich von ihr?

»Was machen wir nun mit dem Abend?«, fragte sie.

»Wieso wir? Ich gehe in mein Zimmer und lese ein Buch.«

»Wir könnten schwimmen gehen …«

»Ich gehe in mein Zimmer und lese ein Buch.«

» … oder ins Masné krámy gehen, da ist heute Livemusik zu hören.«

»Ich gehe in mein Zimmer und lese ein Buch.«

»Du wiederholst dich.«

------ …… ------

Die Leserfrage liegt nahe:

Johannes
... geht in sein Zimmer und liest ein Buch.
... geht mit Jessika schwimmen.
... besucht mit Jessika den Jazz-Abend im Masné krámy
O tempora, o mores!
Auswertung

Na denn. Frohes Abstimmen! Fortsetzung? Folgt.

Donnerstag, 26. Mai 2011

Das H-Wort

Etwas abgewandelt hat es diese kleine Episode aus dem August 2008 in den Roman »Sabrinas Geheimnis« geschafft. Hier noch einmal der Originalbeitrag, wie er auf diesem Blog zu lesen war:

…… …… ……

Kürzlich verabredete ich mich wieder mal mit einer leibhaftigen Verlagsinhaberin. Besagter Dame gehört nicht nur ein Verlag, sie ist auch eine langjährige Freundin und Mitstreiterin bei manchen großen und kleinen Projekten in den vergangenen Jahren. Außerdem ist sie klüger als ich, was sich durch die folgende kleine Episode zweifelsfrei belegen lässt.
Im Verlauf der Planung unseres Treffens kam eine E-Mail aus dem Verlag, in der es hieß:

...aber falls es einen Hauch später wird, melde ich mich bei dir, wenn du mir deine Handynr. gibst...
Meine Antwort ließ nur etwa zwei Minuten auf sich warten:
...da ich das Unwort mit dem »H« am Anfang ablehne, kann ich dir höchstens meine Mobiltelefonnummer geben. Alles andere wäre wider jegliches Sprachgefühl...
Darauf antwortete flugs die Verlegerin:
...wobei mobil ja auch ein Fremdwort ist... Du meinst also die Nummer (ist das auch ein Fremdwort?) deines beweglichen Fernsprechers. ...
Nun war der Sprachpolizist in mir hellwach. Besagte Freundin ist eine ganz hervorragende Übersetzerin aus dem Englischen, daher musste ich nicht lange um den Brei herumreden:
...aber das Unwort mit H ist eben kein Fremdwort, sondern ein völlig missglückter Versuch eines Anglizismus.
Du weißt ja: »To come handy« gibt es, oder »Handyman«... das Wort hat nichts, aber auch gar nichts mit einem technischen Gerät oder gar dem Telefon zu tun. Und als Substantiv ist es völlig unbekannt. Wenn Du einem Englänger oder Amerikaner oder sonstigen Weltbürger etwas bezüglich Deines mobilen Telefones erzählen möchtest und das Unwort mit dem H gebrauchst, hält man dich bestenfalls für sprachunkundig, vermutlich aber einfach für strohdumm...
Siehste.
:-)
Anyway, call my cell or my cell phone or my mobile or my mobile phone in case you're late on Monday. Have a nice weekend!
Günter der Sprachwächter...
Die Verlegerin ist klüger als ich, denn es heißt ja im Volksmund sinngemäß: »Die Klügere gibt nach.« Sie schrieb:
...na wunderbar - und wo de recht hast, haste recht!
Quod erat demonstrandum.
P.S.: Ein Freund hat mich bei einem Glas Bier (oder waren es zwei?) kürzlich aufgeklärt, dass das böse H-Wort aus dem Schwäbischen stammt. Falls die geneigten Blogbesucher Interesse an der historischen Wahrheit bekunden, könnte ich das Geheimnis lüften...
P.P.S.: Das Bild stammt vom Umschlag eines Romans, den ich mit nicht geringer Spannung und durchaus reichhaltigem Vergnügen (in Englischer Sprache natürlich) gelesen habe.

… … …

Und so klingt das in »Sabrinas Geheimnis«:

… … …

Nico warf mir einen prüfenden und deutlich schuldbewussten Blick zu, bei dem ich lachen musste. »Ist schon gut, mein Junge«, beruhigte ich ihn, »unter den gegebenen Umständen habe ich das Unwort überhört.«

»Was für ein Unwort?«, fragte Schlachter.

Sabrina kicherte und erklärte: »Handy. Das ist das Unwort. In Rolands Gegenwart ist nur Mobiltelefon, mobiles Telefon, zur Not noch Cellphone oder Cell zulässig.«

»Aber das ist doch auch Englisch?«

Nun schaltete ich mich doch ein. »Eben. Cell ist englisch, Cellphone auch. Aber das Unwort nicht. Ein Handyman ist ein Knecht, ein Gehilfe. Wenn etwas handy ist, dann heißt das, dass es gelegen kommt. Aber als Substantiv gibt es den Begriff nicht, oder es gab ihn nicht, bis irgendwelche deutschen Sprachverächter meinten, dem Mobiltelefon einen modischen Begriff verpassen zu müssen. Leider hat es das Unwort inzwischen sogar in den Duden geschafft.«

»Darf ich jetzt weiter erzählen? Den Sprachunterricht könnt ihr ja später abhalten«, meinte Nico.

Natürlich durfte er. Handy hin, Mobiltelefon her.

…… …… ……

Dienstag, 24. Mai 2011

Der Mann aus Minnesota

Am 24. Mai 1941 kam er zur Welt, der Mann aus Minnesota: Robert Allen Zimmermann, Sohn eines Elektrikers. Heute wird er 70 Jahre alt. Hätte er den Beruf seines Vaters gewählt, dann wüsste ich vermutlich nichts von ihm. Er wurde jedoch hauptsächlich Musiker. Hauptsächlich? Ja, denn er malt auch, schreibt Gedichte und Prosa und hat sich mehrere Jahre zu meinem großen Vergnügen als Moderator einer Radiosendung betätigt. Auch als Schauspieler war er schon tätig. Hauptsächlich jedoch war und ist er Musiker.

Viele seiner Kollegen bezeugten, dass er der prägende Einfluss bei ihrem eigenen musikalischen Weg war, darunter Van Morrison, die Beatles, Steely Dan, Bruce Springsteen, Jimi Hendrix und Nick Cave. Seine Lieder wurden und werden von zahlreichen Künstlern interpretiert, Joan Baez, Eric Clapton, The Byrds, Rod Stewart, Van Morrison, Joe Cocker, Johnny Cash, Jimi Hendrix, Bryan Ferry und Elvis Presley, um nur einige zu nennen.

Ich bin mit seiner Musik aufgewachsen, habe zu seinen Liedern geträumt und gefeiert, habe sie selbst gesungen und lege noch heute regelmäßig seine Alben auf, um seine Lieder zu genießen. Da er auf der Bühne nicht mehr singen, sondern nur noch bellen, krächzen und knarzen will, habe ich im letzten Jahr sein Konzert nicht besucht und werde auch 2011 keine Eintrittskarten kaufen. Dass er noch heute singen könnte, wenn er nur wollte, beweisen seine Studioalben. Warum er nicht mehr singen mag, wird wohl sein Geheimnis bleiben, wie so vieles.

Falle er es sich irgendwann anders überlegt, werde ich das dank der treuen Versorgung mit allen Live-Mitschnitten via Expectingrain wissen und gegebenenfalls auch gerne wieder Geld für einen Konzertbesuch ausgeben.

Darf man anlässlich des 70sten Geburtstages auf ein neues Album hoffen? Gerüchte gibt es, aber keine Fakten. Wir werden sehen. Mit der F.A.Z. (Ausgabe vom Samstag) zusammen wünsche ich mir und ihm:

Sein Werk, aufgetürmt in einem halben Jahrhundert, zu Tode zitiert und doch immer noch rätselhaft, hat nicht nur in den unermüdlichen Aufführungen, sondern auch durch die Empfindungen und Gedanken derer, an die es sich richtet (an uns alle), an Reichtum und Tiefe gewonnen und wird von dem, der es mit Geduld und Eigensinn schuf, hoffentlich noch lange fortgeschrieben, sofern man es höheren Orts nicht für richtig hält, ihn vorher abzuberufen.

Einstweilen: Herzlichen Glückwunsch, Bob Dylan! And may you stay forever young.

Sonntag, 22. Mai 2011

Jessika–Die Konfrontation. /// Teil 1

Versprochen war sie schon länger, die Fortsetzung, nun ist sie endlich da. Beziehungsweise ihr Beginn. Also keine lange Vorrede, sondern ab in medias res:

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»Nein«, sagte ich halblaut, »nein, nein, nein.«

Sicher hatte ich mich getäuscht, hatte mir die Fantasie einen Streich gespielt, war nur eine verblüffende Ähnlichkeit gegeben. Es konnte schließlich nicht sein, was nicht sein durfte. Doch das war natürlich Wunschdenken, das wusste ich, so verlockend es auch schien, mir etwas anderes einzureden.

Ich schlenderte durch die ausgedehnte Parklandschaft in Budweis, genoss die Stille, war mit meinen Gedanken ganz woanders gewesen. Auf den Wiesen lagen Pärchen in der Sonne, zahlreiche Jogger und Skater waren unterwegs, auch Radfahrer zuhauf, und natürlich Spaziergänger wie ich. Zwei kleine Mädchen rannten vergnügt an den Schnüren ihrer Papierdrachen am See entlang, ein Angler blickte ihnen leicht missmutig hinterher. Vermutlich gab er den tobenden Kindern die Schuld an der Leere in seinem für die gefangenen Fische bereitgestellten Eimer.

Meine gemurmelte Verneinungen nützten nichts. An einen Baum gelehnt blickte mir Jessika entgegen.

Ich hatte einige Monate zuvor ihre Existenz beendet, indem ich die letzten Sätze über sie geschrieben hatte. Eine von mir ersonnene Figur konnte natürlich in den Träumen meiner Leser weiterleben und – wie im Fall Jessika anzunehmen war – ihr Unwesen treiben. Aber für mich war sie Vergangenheit, denn ich war fest entschlossen, sie nicht wieder hervorzuholen. Es ging also nicht an, dass sie nun plötzlich im wirklichen Leben auftauchte. Ungefragt. Uneingeladen. Unverhofft.

Eine verblüffende Ähnlichkeit, sagte ich mir, weiter nichts.

Je näher ich kam, desto weniger konnte ich meiner halbherzigen Vergewisserung glauben. Ich beschloss, in eine andere Richtung zu schauen und weiterzugehen, als hätte ich die junge Frau nicht bemerkt oder ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt. Also blickte ich den beiden Kindern mit ihren Drachen hinterher und schlenderte den Weg hinunter.

»Du freust dich wohl gar nicht, mich zu sehen«, sagte sie, als ich an ihrem Baum vorüberging.

Ich hatte nichts gehört, ich konnte ja schließlich abgelenkt oder schwerhörig sein; jedenfalls reagierte ich nicht auf die Worte und ging weiter.

Erst mehrere Hundert Meter weiter schaute ich zurück. Jessika war nicht mehr zu sehen. Ich wollte aufatmen, aber es fehlte mir denn doch die innere Überzeugung, dass die Sache ausgestanden war, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Während ich zurück zu meinem Hotel wanderte, schaute ich mich immer wieder aufmerksam nach allen Seiten um. Menschen waren unterwegs, alte, junge, hübsche und weniger ansehnliche, aber nirgends sah ich eine junge Frau im weißen Sommerkleid mit dunklen, schulterlangen Haaren. Kein Gesicht besaß die Augen, die dem einen grünlich, dem anderen dunkel, dem nächsten eisgrau erschienen. Nur Menschen bevölkerten den Park, keine Nephilim.

Vor dem Hotel Klika luden wie üblich Tische und Stühle dazu ein, im Abendsonnenschein Platz zu nehmen und ein Bierchen zu genießen. Der Kellner begrüßte mich freundlich wie gewohnt und brachte mir bald mein pivo.

»Děkuji«, bedankte ich mich mit einem der wenigen Brocken der Landessprache, die ich mir merken konnte. So sehr ich Land und Leute in Tschechien liebte, mit der Sprache kam ich auch nach Jahren der regelmäßigen Besuche nicht zurecht. Kouření může zabíjet stand auf meiner Zigarettenpackung, und da ich das nicht lesen konnte, war der Tabakgenuss hierzulande mit Sicherheit weniger gesundheitsgefährdend als zu Hause in Berlin. Man wusste sowieso nie so recht, wie viel man bereits geraucht hatte, da der Aschenbecher alle paar Minuten gegen einen sauberen ausgetauscht wurde.

Ich musterte die Passanten aufmerksam, noch immer misstrauisch wegen der undenkbaren Begegnung im Park. Inzwischen war ich allerdings einigermaßen beruhigt. Ich habe mir das eingebildet. Meine Fantasie hat mir einen Streich gespielt. Es soll ja vorkommen, dass man Stimmen hört, die gar nicht da sind. Menschen verwechselt.

Darüber, dass ein solcher Zustand womöglich nicht weniger bedenklich wäre als die Begegnung mit einer nicht existierenden Person, wollte ich lieber nicht nachdenken.

Von meinem Platz konnte ich die Einfahrt zum Hotelparkplatz, gleich jenseits der Brücke über den toten Flussarm, beobachten. Das Tor konnten Hotelgäste mit einem kleinen Schlüsselanhänger öffnen, der auf einen Sensor gelegt wurde. Ich hatte mehrfach versucht, hinter mir die Einfahrt wieder zu verschließen, aber der Mechanismus setzte sich offenbar nur in eine Richtung in Bewegung.

Ein rotes Mercedes Cabriolet, soweit ich das aus der Entfernung erkennen konnte wohl ein Oldtimer aus den 60ger Jahren, rollte an das Tor, das sich öffnete, obwohl niemand ausstieg. Am Steuer saß eine Person mit einem großen Sonnenhut.

Mit einem gut gelaunten »rače prosím, na zdraví« stellte der Kellner mein zweites Bier ab. Ich bedankte mich.

»Wollen Sie eine Kleinigkeit essen?«, fragte er.

Hunger hatte ich nicht, aber doch Appetit, also nickte ich. »Ich schaue gerne mal in die Speisenkarte.« Die war, darüber war ich bei jedem Besuch froh, dreisprachig in Tschechisch, Englisch und Deutsch verfasst.

Während ich noch überlegte, ob und was ich bestellen wollte, nahm ungefragt Jessika an meinem Tisch Platz und legte ihren weißen Sonnenhut auf einen weiteren leeren Stuhl.

»Dein Dodge ist ziemlich schmutzig«, beschwerte sie sich, »es gibt auch hier Waschanlagen. Alle anderen Autos auf dem Parkplatz sind blitzsauber!«

Ich trank einen Schluck Bier, um Zeit zu gewinnen. Dann sagte ich wenig geistreich: »Also bist du tatsächlich hier in Budweis.«

»Und du bist nicht schwerhörig.«

»Nein.«

»Freust du dich gar nicht, dass ich dir Gesellschaft leiste?«

Sie setzte ein bezauberndes Lächeln auf. Im Park hatte ich sie bewusst nicht angeschaut, jetzt betrachtete ich sie aufmerksam. Sie hatte sich ein Alter von Ende 20 oder Anfang 30 ausgesucht, jedenfalls war sie nicht das 18jährige Mädchen, das in Italien sein Unwesen getrieben hatte. Nicht ganz freiwillig, wie ich wohl wusste. Und genau das war der springende Punkt.

»Du kannst gar nicht hier sein«, antwortete ich.

»Ach. Aha. So.«

»Das geht nicht.«

»Und warum soll das nicht gehen?«

Wie sollte ich ihr erklären, dass sie im wirklichen Leben gar nicht existierte, wenn sie nun neben mir am Tisch saß? Da die Situation völlig absurd war, zweifelte ich an meinem Verstand. Oder an der Wirklichkeit. Vermutlich lag ich im Bett und träumte. Wenn das der Fall war, spielte es natürlich auch keine Rolle, wie ich antwortete. Also konnte ich ihr ruhig die Wahrheit sagen.

»Jessika, du bist eine ersonnene Person. Ich habe dich für eine Geschichte erfunden, das ist lange her. In der Erzählung warst du 13 Jahre alt. Ein paar Jahre später hatte ich die Idee, dich als Erwachsene wieder auftreten zu lassen, in einer anderen Geschichte. Und dann fiel mir die Italien-Episode ein. Aber du existierst nicht in dieser Welt.«

Sie nahm eine meiner Zigaretten aus der Schachtel, ich gab ihr Feuer und zündete mir auch eine an. Der Kellner brachte ein Bier für Jessika. Hatte sie überhaupt etwas bestellt? Nein. Aber, so sagte ich mir, im Traum ist ja alles möglich.

»Der Kellner weiß, was ich will«, erklärte sie mir. »Ich sitze ja nicht zum ersten Mal auf dieser Terasse.«

Du sitzt überhaupt nicht auf einer Terasse. Dich gibt es nicht!

Ich zuckte mit den Schultern und fragte: »Wer bin ich denn, wenn du echt bist?«

»Du bist Johannes, lebst in Berlin, arbeitest als Journalist und nebenbei als Schriftsteller. Du bist ledig, hast keine Freundin und ein ziemlicher Einsiedler geworden. Die Chancen, dass du eine Frau fürs Leben triffst, sind denkbar gering.«

»Stimmt. Und du bist eine fiktive Person, die nicht auf diesem Stuhl an meinem Tisch sitzt und meine Zigarette raucht. Eine Nephilim. Du kannst dein Aussehen variieren und bist eine tödliche Gefahr für andere Menschen, vornehmlich für Männer.«

»Nein, ich bin keine Gefahr für Menschen«, widersprach sie. Ich bin ja nicht wie die Hausmeisterin, Evi Müller, falls du dich an deine eigene Geschichte erinnerst.«

»Aber wenn Nitzrek es will, tötest du.«

»Wenn du mich erfunden hast, wie du meinst, dann hast du auch Nitzrek ersonnen. Also töte ich nur, wenn du es willst. Wer von uns beiden ist nun eigentlich gefährlich?«

Selbstverständlich hatte sie damit die Wahrheit gesagt - hätte sie damit die Wahrheit gesagt, wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, dass wir zusammen Bier tranken und MOON-Zigaretten rauchten.

Der Autor einer schlimmen Geschichte darf sich nicht darauf hinausreden, dass die Figuren in seinem Text machen, was sie wollen. Das stimmt zwar häufig, aber kein Leser, der nicht selber leidenschaftlich schreibt, würde es jemals glauben. Als ich Jessika, die 13jährige, ersann, wusste ich noch nichts von ihr, außer dass ich eine für das Publikum harmlos und schutzbedürftig scheinende Figur brauchte, die sich auf den letzten Zeilen als noch viel schlimmer entpuppt als die böse Person in der Geschichte. Im Lauf der Jahre waren jedes mal, wenn ich Jessika einsetzte, neue Details sichtbar geworden. Aber erst bei der letzten Erzählung, die in Italien spielte, hatte ich ihre wahre Herkunft, ihre Abstammung von den Nephilim, begriffen.

Dass Jessika nun aus heiterem Himmel in Budweis auftauchte, offenbar im gleichen Hotel wohnte, dass ich mit ihr plauderte ... undenkbar. So etwas mochte Goethes Doktor Faust passieren, dass er die Geister, die er rief, nicht loswurde. Und überhaupt: Auch Goethes epochales Werk war ja Dichtkunst, kein Tatsachenbericht. Und überhaupt: Ich hatte keine Geister gerufen, mich nicht einmal zum Schreiben hingesetzt. Und überhaupt: Dass ich Jessika kannte, mochte ja angehen. Aber sie mich?

Ich beschloss, zumindest diesen Punkt zu klären und fragte sie: »Wenn du mich zu kennen meinst, dann erzähl mir bitte, welchen für mich damals unerträglich peinlichen Moment aus meinem 13ten Lebensjahr ich bis heute nicht vergessen habe.«

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Und, weil das immer so schön spannend ist, nun eine Frage an das verehrte Publikum:

Na klar:
Jessika weiß Bescheid.
Jessika hat keine Ahnung.
Aber hallo!
Auswertung

Fortsetzung folgt!

Donnerstag, 19. Mai 2011

Aus ist es mit der schönen Welt

Inzwischen hat es sich ja weitgehend herumgesprochen, dass am kommenden Samstag der Weltuntergang stattfindet. Mein Freund Haso hat dem Weltuntergang ein »sozusagen« zur Seite gestellt, ordentlich durch einen Beistrich vom Substantiv getrennt. [Weltuntergang, sozusagen]

Im Gegensatz zu Haso habe ich keine Koffer gepackt, denn ich gehe davon aus, dass die Versorgungslage im Jenseits eine gute ist und abgesehen von Kleidung alles zur Verfügung steht, was ein Mensch so brauchen könnte. Über die Sache mit den fehlenden Textilien hatte ich auf diesem Blog bereits vor geraumer Zeit berichtet. [Endzeit – alle nackig!]

Die Uhrzeitangaben sind ein wenig unklar, aber vermutlich befinde ich mich zum Zeitpunkt des Weltendes auf dem Rüdesheimer Platz in Berlin, um anlässlich des Winzerfestes mit einem kühlen Weinchen anzustoßen. Na denn … zum Wohl! Wir sehen uns auf der anderen Seite, gelle?

Montag, 16. Mai 2011

2. Juni: Benefizkonzert mit Sonrise Mountain Revival

Die evangelische Johannes-Gemeinde in Berlin – Steglitz veranstaltet am Himmelfahrtstag, dem 2. Juni 2011, ein Open-Air-Benefizkonzert für Afrika.

Die Band Sonrise Mountain Revival aus New Jersey, USA wird mit Bluegrassmusik für gute Laune sorgen. Bluegrass gehört zur Country-Musik, wobei insbesondere die Instrumente Banjo, Mandoline, Gitarre, Violine und Bass zum Einsatz kommen. Die Mandoline und Gitarre ersetzen dabei das Schlagzeug und erzeugen perkussive Schläge.

Die in lockerer Atmosphäre gehaltene Open-Air-Veranstaltung beginnt um 17.30 Uhr im Garten des Hauses Nazareth, Berlin Steglitz, Wrangelstr. 6/7 (ca. 500 Meter vom Rathaus Steglitz).

Auftritte der Band Sonrise Mountain Revival sind jeweils zur vollen Stunde für 18.00, 19.00 und 20.00 Uhr vorgesehen. Zwischen den Auftritten besteht die Möglichkeit, sich über das Afrika-Projekt zu informieren. Während der gesamten Veranstaltung kann man Kartoffeltornados, selbstgemachte Kartoffelchips, hausgemachte Limonade nach original amerikanischem Rezept, Kaffee und Kuchen sowie Grillspezialitäten genießen.

Der Eintritt zum Benefizkonzert ist frei! Der gesamte Erlös aus dem Verkauf der Speisen und Getränke kommt Projekten in Swasiland zu Gute.

Das am Berliner Stadtrand lebende Ehepaar Frank und Britta Bauchrowitz besuchte 2009 und 2010 das im südlichen Afrika gelegene Königreich Swasiland. Die Bedingungen, unter denen insbesondere viele Kinder in Swasiland leben müssen, ließen den Kaufmann und die Schulleiterin nicht mehr los. Es gibt meistens keinen Strom, nur einfachste Hütten zum Wohnen, Trinkwasser aus dem schmutzigen Fluss und die Kinder müssen zwei Stunden zu Fuß laufen, um zur nächsten Schule zu kommen.

Doch es lässt sich mit einfachen Mitteln sehr viel bewegen und verändern. In den letzten Wochen haben Frank und sein Freund Petros aus Swasiland bereits ein social business ins Leben gerufen, welches es Menschen in der Region Hlobane ermöglicht, kleine Solarleuchten zu kaufen und damit auf die gefährlichen und teuren Petroleumlampen zu verzichten. 20 Familien in Swasiland konnten bereits davon profitieren. Um das Projekt auf ganz Swasiland zu vergrößern und weitere Projekte zu starten, wird noch mehr Kapital benötigt. Das Benefizkonzert trägt dazu hoffentlich spürbar bei.

Frank und Britta Bauchrowitz wollen demnächst den gemeinnützigen Verein „Ein Herz für Afrika e.V.“ gründen, um zukünftig mehr solche Projekte in Swasiland zu initiieren  und zu fördern. Infotelefon zur  Benefizveranstaltung 03328 / 339 6892. Weitere Informationen auf Franks Blog.

Sonntag, 15. Mai 2011

Die Dürre dieses Blogs …

sage10 … wird nicht auf Dauer anhalten. Ich habe das Bloggen nicht an den virtuellen Nagel gehängt.

Zur Zeit jedoch nutze ich freie Stunden hauptsächlich dazu, an dem Roman Sabrinas Geheimnis zu arbeiten. Das braucht Zeit, Energie, Mühe, Fleiß, Überlegung, Geduld, Ideen.

Kapitel, die ich für fertig gehalten hatte, schreibe ich um. Lücken, die ich in den acht Jahren seit der ersten Fassung der Geschichte nicht gesehen habe, rufen mir zu: Hallo, ich bin eine Lücke, willst du mich nicht füllen? Absätze, die meinten, unverrückbar zu stehen, schaue ich an und frage: Was macht ihr denn in meinem Roman? Raus hier!

Perfekt wird der Roman nicht sein, aber ich will den Lesern etwas Ordentliches für ihr Geld bieten. Eine gute Idee reicht ja nicht, auch handwerklich soll alles möglichst stimmen. Daher, liebe Blogbesucher, bleibt für Lesefutter und Unterhaltsames an dieser Stelle wenig Zeit. Oder gar keine. Doch das soll, wie gesagt, kein Dauerzustand sein.