Gibt es zufällig jemanden unter meinen geschätzten
Blogbesuchern, der im Laufe eines Tages (oder einer Woche) nie frustriert,
gereizt, verärgert reagiert? Dann möge er oder sie mir doch mal das Rezept
zukommen lassen, ich wäre sehr neugierig.
Für alle anderen, mich eingeschlossen, gilt: Der
Straßenverkehr zerrt an den Nerven, ein Mensch reagiert nicht wie erwartet,
jemand sagt uns, wir wären im Irrtum, die Technik funktioniert nicht wie
gewünscht, das Abendessen misslingt ... und so weiter und so fort.
Solche Frustrationen können uns unglücklich machen, zu
Beziehungsproblemen führen, den Arbeitsplatz vermiesen, Stress erzeugen ... und
schließlich explodiert man, anstatt einen kühlen Kopf zu bewahren. Das ist
alles andere als hilfreich. Noch schlimmer: Inzwischen zweifelt die Medizin
nicht mehr daran, dass Frust ernsthafte und sogar tödliche Erkrankungen
begünstigen, womöglich auch herbeiführen kann.
Aber können wir uns denn überhaupt wehren? Müssten wir dazu
nicht auf eine einsame Insel ziehen oder uns in einem Kloster verkriechen? Und
wer weiß, ob nicht auch dort Verdruss und Enttäuschungen auf uns lauern würden.
Meine Erfahrung: Unsere Blickrichtung können wir selbst
bestimmen – und das ist eine Möglichkeit,
die Folgen solcher Frustrationen zu
mildern oder ganz zu vermeiden. Praktizierte Achtsamkeit ist der Schlüssel, den
ich aus Erfahrung nur empfehlen kann.
Dabei ist die erste Frage, woher Frustrationen stammen, und
wenn wir die beantwortet haben, geht es darum, den Blickwinkel zu ändern.
Frustration bemerken
Wenn sich wieder einmal Frust aufbaut, beobachten Sie sich ganz
bewusst. Achten Sie darauf, wenn Sie über etwas oder mit jemandem unzufrieden sind,
dass und wie in Ihrem Körper diese Enttäuschung
spürbar wird.
Beobachten Sie Ihre Atmung. Entsteht ein Gefühl der Enge in
der Brust? Bemerken Sie verspannte Schultern oder eine angespannte
Bauchmuskulatur? (Letzteres ist bei mir persönlich das untrügliche Signal.) Was
passiert mit Ihren Gesichtszügen? Ballen sich Ihre Hände zu Fäusten?
Finden Sie heraus, wie sich Frustration in ihrem Körper
bemerkbar macht. Und dann bleiben Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit bei dem Gefühl,
nur für ein paar Momente, wenn Sie den Mut dazu aufbringen. Normalerweise tun
wir alles andere lieber, als diesen Empfindungen Beachtung zu schenken. Wir
versuchen vielmehr, sie schnellstens loszuwerden, indem wir die Situation
ändern, Menschen dazu bringen, sich anders zu verhalten, oder indem wir uns
ablenken. Aber bleiben Sie einmal ein paar Momente mit Ihrer Aufmerksamkeit
bewusst bei ihrer körperlichen Reaktion, wenn Sie es schaffen. Dann fällt es
Ihnen nämlich beim nächsten Mal leichter, es gar nicht erst so weit kommen zu
lassen, dass das Fass überläuft.
Sie wissen also jetzt, dass Sie gerade Frustration erleben und was dieser Zustand mit ihrem Körper anstellt.
Nun achten Sie darauf, was Sie in diesem Augenblick gerne anders hätten als es ist.
Was fehlt Ihnen in diesem frustrierenden Moment? Frust ergibt sich so gut wie
immer aus dem, was wir nicht haben.
Haben Sie das schon einmal bemerkt? Es fehlt in solchen Augenblicken etwas. Man wünscht, es wäre vorhanden. Der Mangel frustriert.
Ein paar Beispiele:
- Ihr Kind verhält sich nicht so, wie Sie es erwartet hätten ... was Sie also nicht haben, ist »ideales« Verhalten des Kindes. (Eigentlich ist es Ihr Ideal, nicht das des Kindes.)
- Ihr Computer stürzt immer wieder ab, und Sie können nicht flüssig arbeiten ... was Sie nicht haben, ist ein Computer, der reibungslos funktioniert.
- Die Leute reden in einer Weise über Sie, die Sie ärgert ... was Sie nicht habe, sind Menschen, die mit Ihnen einverstanden sind oder die sich so verhalten, wie Sie es wollen.
- Der Feierabendverkehr wird zum Chaos, Sie kommen nicht voran ... was Sie nicht haben, ist eine stressfreie, ruhige Fahrt nach Hause.
Das sind nur Beispiele, aber in allen Fällen wird deutlich,
dass etwas fehlt, dass Sie etwas (anderes) haben wollen. Normalerweise haben
Sie eine Idealvorstellung, von der die Wirklichkeit abweicht. Also versuchen Sie beim nächsten Frust einmal, das Gefühl
in Ihrem Körper bewusst wahrzunehmen und dann festzustellen, was Ihnen fehlt,
warum Sie jetzt enttäuscht, verärgert, wütend oder traurig sind. Was passiert
da im Kopf?
Wenn wir einen Mangel empfinden, frustriert, gereizt und verärgert
sind, dann drehen wir uns oft gedanklich ziemlich im Kreis. »Es ist so
ärgerlich, dass er so etwas immer wieder tut« oder »warum kann sie nicht
einfach mal so und so sein.«
Wir verhaspeln uns in diesen (völlig nutzlosen!) Überlegungen,
bleiben daran kleben, werden schließlich zum Gefangenen der Gedankengänge. Wir
wünschen, die Umstände wären anders, die Menschen würden sich nicht so und so
verhalten, die Leute würden einsehen, dass wir Recht haben. Es ist leicht, sich
darin zu verfangen.
Es ist dagegen nicht so leicht, überhaupt zu bemerken, dass
wir in Gefangenschaft geraten, während es passiert. Wenn es Ihnen aber gelingt,
diese Verstrickung zu bemerken, dann können Sie sich leichter darüber klar
werden, dass Sie gerade eine Phantasiegeschichte bezüglich der Situation
entwerfen. Eine Geschichte darüber, wie Sie sich die Umstände anders wünschen,
wie andere Menschen nach Ihrer Vorstellung sein und handeln sollten.
Beobachten Sie ruhig einmal, wie Sie sich in dieser
Geschichte verfangen. Beobachten Sie, welche Gefühle das in Ihnen auslöst. Wie
Ihr Körper reagiert. Sind Ihre Gesichtszüge noch entspannt? Können Sie ruhig
und gleichmäßig atmen? Wie fühlen sich Ihre Schultern, Ihr Bauch an? Und dann
versuchen Sie sich darüber klar zu werden, dass Ihre Geschichte alles andere
als die felsenfeste Wahrheit ist. Sie entspricht nicht der Realität. Sie ist
ein Traum, den Sie herbeiwünschen. Kann es die Situation ein wenig aufhellen,
wenn Sie die traumhafte Natur Ihrer Geschichte bemerken?
Was ist denn
eigentlich vorhanden?
Wenn unsere Konzentration auf das, was wir nicht haben, uns frustriert und
letztendlich krank macht ... dann könnte
das Gegenteil uns doch womöglich helfen? Das Gegenmittel zum Frust könnte doch
lauten: Zu schätzen wissen, was schon hier, in ausgerechnet diesem Moment
vorhanden ist.
In den Augenblicken, in denen die Frustration aufsteigt,
dürfte das kaum gelingen, denn wir wollen einfach nur, dass alles so ist, wie
wir es uns vorstellen oder wünschen. Die anderen Menschen sollen sich
gefälligst so verhalten, wie wir es wollen. Das Leben soll auf den Bahnen
verlaufen, die wir uns ausgemalt haben. Leider ist das in der Regel nicht immer
der Fall. Manchmal können wir Menschen zwingen, so zu handeln, wie wir wollen, weil
wir Macht über sie haben, aber daraus kann keine gute Beziehung zu anderen
entstehen, und am Ende werden weder der andere noch man selbst glücklich sein.
Aber ich habe festgestellt, dass es mit etwas Übung möglich
ist (und immer leichter wird), mich darauf zu konzentrieren, was ich immer noch und trotz der Umstände zu
schätzen weiß, wenn Frust entstanden ist und wenn ich meine Gefangennahme
anhand der Symptome bemerke. Lassen Sie uns die Beispiele von oben nehmen:
- Ihr Kind verhält sich nicht so, wie Sie es erwartet hätten ... aber Sie können tief durchatmen und in diesem Moment so einiges zu schätzen wissen: Ihr Kind ist ein wunderbarer Mensch, der sich zwar nicht ständig perfekt benimmt (wer tut das?), aber Sie haben ein Kind und Ihr Kind ist lebendig, entdeckt die Welt und lernt, sich in ihr zurechtzufinden! Es ist bei Ihnen! Und Sie lieben Ihr Kind.
- Ihr Computer stürzt immer wieder ab, und Sie können nicht flüssig arbeiten... aber Sie können tief durchatmen und dankbar sein, dass Sie einen Computer haben, dass Sie nicht im Elend leben, dass es Menschen in Ihrem Leben gibt, die Sie lieben. Sie können die Pause, in der das Gerät neu startet oder ein Reparaturprogramm läuft, dazu nutzen, sich zu strecken, in die Natur zu gehen; Sie können fantastische Dinge um sich herum bemerken oder auch einfach nur fünfzehn Minuten auf dem Sofa liegend die Augen schließen und nichts tun müssen.
- Die Leute reden in einer Weise über Sie, die Sie ärgert ... aber Sie können tief durchatmen und feststellen, dass diese Leute eine abzählbare Schar sind und nicht die ganze Welt! Und Sie sind am Leben und im Leben! Die Menschen sind unterschiedlich, interessant und chaotisch, aber gerade das sorgt für Vielfalt im Leben. Und Sie müssen ja nicht unbedingt mit jedermann bestens zurechtkommen. Schon der Apostel Paulus riet seinen Lesern in Rom: »Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.« Sie werden manche Leute und deren Gerede nicht ändern können. Also wenden Sie sich denen zu, mit denen Sie Frieden haben können.
- Der Feierabendverkehr wird zum Chaos, Sie kommen nicht voran ... aber Sie können tief durchatmen und die Tatsache genießen, dass Sie schöne Musik im Auto hören können, dass Sie eine ruhige Übergangszeit zwischen Arbeit und zu Hause haben, in der Sie über das Leben nachdenken können, dass Sie überhaupt ein Zuhause habe, das jetzt vor Ihnen liegt, oder dass Sie Zeit haben, die Architektur oder Landschaft am Rand der Straße in Ruhe zu betrachten.
Das soll nun nicht heißen, dass wir nur positive Gedanken
denken sollen ... ganz im Gegenteil. Unsere negativen Gedanken zu bemerken und
bei ihnen zu bleiben, ist wichtig. Wir können die frustrierenden Begegnungen
und Geschehnisse nicht vermeiden, aber wir können uns bewusst machen, dass das
nicht alles ist – und diese bewusste Achtsamkeit auf das, was gerade geschieht
und was es darüber hinaus noch gibt, kann sehr hilfreich sein.
Wenn wir nämlich nicht mit unseren Frustrationen umgehen
können, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, aus der Wut heraus und mit Gewalt
zu reagieren, und das ist nicht sinnvoll. Weder für uns selbst, noch für die
Situation, in der wir stecken.
---
P.S.: Hilfreiches zum Thema steht auch in diesen beiden Büchern:
- Entschleunigung und Achtsamkeit (Günter J. Matthia)
- Das kleine Buch über die Zufriedenheit (Leo Babauta)
.
2 Kommentare:
Wenn man zu viel Frust im Leben hat, gibts drei Möglichkeiten.
(nee, ich hab deinen Artikel nicht gelesen, der ist mir zu lang. sorry.)
erstens: das Leben ändern.
zweitens: sich nicht frustrieren lassen.
drittens: die Einstellung zum Frust ändern.
Das letzte funktioniert bei mir meist am besten, denn ich hab einen Gott, der mir dabei hilft. Und wenn er meine Einstellung ändert und ich mich einfach nicht mehr so über den Kram ärgere, kann er mein Leben ändern, damit ich eines Tages nicht immer wieder über den Dreck stolpere, der mich frustriert.
So.
Los! Leben!
Ein guter Text. Dazu passt, was ich wenige Tage später, schrieb:
https://manfredreichelt.wordpress.com/2016/07/21/himmel-und-hoelle/
Kommentar veröffentlichen