Freitag, 16. September 2011

Lieber Gott, zorniger Gott

Kürzlich habe ich mich im Rahmen eines Wochenendausfluges mit anderen Christen gedanklich intensiv mit Gottes Eigenschaften auseinandergesetzt. Ich kam wieder einmal zu dem Schluss: Gott ist schwierig. Das macht aber nichts, denn er findet mich wahrscheinlich auch manchmal schwierig.

P9103594Wenn ich über die Eigenschaften Gottes nachdenke, dann drängt sich mir der Eindruck auf, dass Gottes Wesensart, sein Charakter, sich gewandelt hat. Hört man der Mehrheit der heutigen Christenheit zu, dann wird ausschließlich ein liebender, gnädiger, gütiger, seinen Geschöpfen wohlgesonnener Vater im Himmel verkündet, der selbstverständlich das Motto »Frieden schaffen ohne Waffen« unterschreibt und am liebsten will, dass es allen auf der Erde rundum gut geht. Da dies aber ganz offensichtlich nicht der Fall ist, wird dann argumentiert: Schuld an Krankheit, Not, Hunger, Krieg und Gewalt hat sein finsterer Gegenspieler, der Teufel, manchmal auch als Satan oder Beelzebub tituliert.

Der eifersüchtige, zornige, mit unerbittlicher Härte züchtigende und strafende Gott ist weitgehend aus den Köpfen verschwunden. Er wird – wenn überhaupt erwähnt – in den alten Bund, der mit Jesus ungültig geworden und durch einen neuen ersetzt worden ist, verbannt. Das klingt erst einmal logisch. Die Strafe, die unweigerlich auf die Sünde folgt, hat nun stellvertretend der Erlöser auf sich genommen und es bedarf nur noch des Glaubens an seinen Tod und seine Auferstehung, um die Begnadigung genießen zu können. Vor rund 2000 Jahren, nach Jahrtausenden des unerbittlichen Zorns, hat sich Gott besonnen und den Messias geschickt, ist sozusagen zum »lieben« Gott geworden.

Warum nicht viel früher, fragt mancher. Und wieso gilt die Erlösung, also der »liebe« Gott, nur denen, die unter den Milliarden Menschen überhaupt die Chance bekommen, von Jesus Christus zu hören und anschließend an ihn zu glauben? Alle anderen, die Mehrheit der Bevölkerung auf diesem Planeten, bleiben weiter ohne Hoffnung auf eine paradiesische Ewigkeit. Wie passt das zu einem liebenden Vater, der für seine Geschöpfe nur Gutes will?

Im Alten Testament wird Gottes Gnade und Erbarmen sehr selektiv ausgeteilt. Angefangen von Kain und Abel, die beide ihren Lebensumständen und Möglichkeiten gemäß ein Opfer brachten, wobei das eine Opfer angenehm und das andere verworfen wurde bis hin zur Erwählung eines Volkes unter Ausschluss aller übrigen Völker. Wer als Kind im Volk der Philister zur Welt gekommen war, hatte eben Pech gehabt. Philister wurden nämlich vernichtet. Wer als Sohn ägyptischer Bauern geboren wurde, hatte ebenfalls Pech – beziehungsweise seine Eltern. Die Erstgeborenen der Ägypter wurden nämlich vom Würgeengel des Herrn erschlagen, weil der Regierungschef die Israeliten nicht ausreisen lassen wollte.

Es gibt ab und zu eine Ausnahme in den Berichten, jemanden unter den Heiden, der Gott wohlgefällig war und Gutes erleben durfte. Aber das waren nur ein paar wenige Menschen, die allenfalls die Regel bestätigten.

Jesus Christus hat dann einen anderen Gott verkündet. Einen, der keinen Unterschied macht zwischen Angehörigen des auserwählten Volkes und dem Rest der Menschheit. Dieser andere, neue Gott sah das Herz an, nicht die Abstammung. Auf einmal konnte ein Jude verloren und ein Heide gerettet sein. Jesus vergab den Menschen ihre Sünde, ohne dass sie zuvor Reue gezeigt, Opfer gebracht oder sonstige Bußübungen absolviert hatten. Er heilte. Er liebte. Er gab den Hungernden Nahrung.

Gelegentlich, den biblischen Überlieferungen zufolge, allerdings auch selektiv. Da wird einer am Teich Bethesda geheilt - und alle anderen bleiben krank zurück. Da wird eine kanaanäische Frau von Jesus abgewiesen, weil er zu den verlorenen Schafen Israels gesandt sei. Sie bleibt hartnäckig und hat dann schließlich - zur Verwunderung der Jünger - doch noch Erfolg.

Die ersten christlichen Gemeinden hatten nach der Auferstehung noch immer erhebliche Probleme mit der Zugehörigkeitsfrage. Es wollte nicht in ihre Köpfe, dass nichtjüdische Gläubige »einfach so« dazugehören konnten, ohne Beschneidung, ohne die religiösen Vorschriften und Gesetze einzuhalten.

Der Gott, den Jesus und dann (zum Teil noch zögerlich und mit Einschränkungen) seine Apostel verkündet haben, ist jedenfalls ein anderer als der des Volkes Israel, wie er an zahlreichen Stellen in den biblischen Büchern beschrieben wird.

Bei einer Unterhaltung zum Thema auf Facebook schrieb vor einigen Wochen jemand: »As far as the Old Testament goes, perhaps the stories are written by the winners trying to justify the horrors they visited on others. Just a thought.« (Was das Alte Testament betrifft, so sind die Geschichten vielleicht von den Siegern aufgeschrieben worden, die versucht haben, das Grauen, das sie anderen zugefügt haben, zu rechtfertigen. Nur ein Gedanke.)

Das ist ein denkbarer Gedanke, zweifellos, und er würde die Diskrepanz zwischen verschiedenen Darstellungen Gottes in der Bibel, die so offensichtlich ist, einigermaßen erklären.

Natürlich passt ein solcher Ansatz denjenigen Christen nicht, die davon ausgehen, die Heilige Schrift sei wörtlich zu verstehen und anzuwenden (ganz abgesehen davon, dass selbst solche Christen sich nicht an das eigene Credo halten, sondern sehr gezielt auswählen, was »heute noch gilt« und was man »geistlich verstehen« muss, weil die wörtliche Anwendung denn doch in unserer Gesellschaft nicht funktionieren würde).

Andere lehnen angesichts der Metzeleien, die laut der Bibel im Auftrag Gottes (oder gar direkt durch ihn und seine Engel) stattgefunden haben, jeglichen Glauben an diesen jüdisch-christlichen Gott ab und suchen eine friedlichere Religion, landen womöglich letztendlich glücklich im Buddhismus, der ohne einen persönlichen Gott auskommt und eher einer Philosophie als einem Glauben ähnelt. Oder sie sind und bleiben Atheisten.

Auch das sind denkbare Wege, um dem Dilemma mit dem widersprüchlichen Gottesbild und der Diskrepanz zwischen dem Zustand der Welt und der Existenz eines Schöpfers zu entfliehen. Kein Gott oder ein anderer Gott, wie auch immer der aussehen mag.

Und dann gibt es diejenigen (mich eingeschlossen), die solche Widersprüche einfach stehen lassen, ohne etwas erklären zu wollen oder zu müssen, was ihnen unerklärlich ist. Solche Menschen folgen Jesus nach, indem sie versuchen, das zu tun, was er den Berichten zufolge getan und gelehrt hat. Sie glauben ihm, dass er von Gott gesandt wurde, um einen neuen, anderen Weg zu weisen. Dabei hat er an vielen Stellen das falsche Bild korrigiert, das die Autoren des Alten Testamentes von Gott gemalt haben.

Auch was wir über Jesus wissen, wurde von Menschen aufgeschrieben, die sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben. Aber sie waren eben Menschen, die – wie wir alle, wenn wir etwas berichten – bewusst oder unbewusst ihre Sicht mit einfließen ließen. (Von der Qualität der zunächst mündlichen Überlieferungen und der zahlreichen Übersetzungen und Überarbeitungen über Jahrhunderte sei hier gar nicht erst die Rede.) Daher ist auch das Bild von Jesus, das ich aus den Schriften erkenne, kein vollständiges und wird beim Lesen wiederum durch meinen Verstand, meine Vorstellungen, mein Denken gefärbt.

Nicht alles, was mit Gott zu tun hat, kann und muss ich verstehen, mein Verstand ist unzureichend. Ich kann keine Beschreibung abliefern: So ist Gott, so ist Jesus, so ist der Geist. Und das ist auch gut so, denn ich bin Mensch und er ist Gott.

Ich finde Gott schwierig. Ihm geht es wahrscheinlich mit mir genauso.

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Dienstag, 13. September 2011

Herr K. besucht einen Hauskreis

Diese Episode schließt inhaltlich an die Erlebnisse des Herrn K. beim Besuch eines Gottesdienstes an, kann aber ohne weiteres auch ohne Kenntnis jener älteren Glosse gelesen und verstanden werden. Wer sich allerdings zunächst mit Herrn K. über Salbe wundern möchte, klickt hier: [Segen, Salbe, Sammeleimer – Herr K. besucht einen Gottesdienst]

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19:00 Uhr: Etwas unentschlossen steht Herr K. vor dem Haus, in das er zu einem Hauskreis eingeladen wurde. Das Gebäude ist nicht rund. Es ist in einer gerade Straße gelegen, nicht etwa in einem Kreis von Häusern um einen Platz herum. Was ein Hauskreis sein mag, weiß er nicht, die Dame, die ihn so freundlich eingeladen hatte, ging wohl davon aus, dass der Begriff Allgemeingut sei. Nun zögert Herr K.: Ob es wirklich angebracht ist, bei wildfremden Menschen an einem Mittwoch um 19 Uhr aufzukreuzen und zu erklären, dass man eingeladen sei? Auf dem Zettel hatte er »Steffi Müller« und die Adresse notiert, neben der Klingel steht Fam. Müller, also wird es wohl das richtige Haus sein, Kreis hin oder her.

Frisch gewagt ist halb gewonnen, das hat seine Mutter immer gesagt. Herr K. drückt auf den Klingelknopf. Zu seiner Erleichterung öffnet die Dame, die ihn eingeladen hat. Er muss also nicht umständlich erklären, warum er hier ist. Sie strahlt ihn an: »Herzlich willkommen! Hereinspaziert!«

»Guten Abend«, antwortet er höflich, »wenn ich nicht ungelegen komme ...«

»Nein nein, heute ist doch Hauskreis. Immer rein in die gute Stube!«

Herr K. folgt ins Wohnzimmer und merkt sich, dass ein Hauskreis offenbar nicht ein Gegenstand, sondern ein Zeitpunkt ist.

19:03 Uhr: »Bin ich zu früh dran?«, fragt Herr K., als er sieht, dass außer ihm und Frau Müller niemand zugegen ist.

»Nein, keineswegs. Wir fangen immer um Sieben an.«

Herr K. sitzt in einem Sessel und sieht sich um. Er befindet sich in einem gutbürgerlichen Heim, aufgeräumt und sauber, nicht teuer eingerichtet, aber auch nicht schäbig möbliert. Auf dem Couchtisch stehen Mineralwasser von Aldi, Obstsaft in Kartons von Lidl und zehn Gläser mit unterschiedlichem Dekor bereit. In einer Schale liegen Kekse.

Frau Müller fragt: »Darf ich etwas anbieten?«

»Ein Mineralwasser, vielen Dank«.

Sie schenkt ihm ein.

19:07 Uhr: Es klingelt, Frau Müller eilt zur Tür. »Hallo Monika!«, hört Herr K. ihre Stimme aus dem Flur.

Frau Müller kommt mit eine älteren Dame zurück. Diese eilt gleich auf Herrn K. zu und streckt ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Monika. Wer bist du?«

Herr K. ist etwas irritiert. Gehört es zu den Kreisgepflogenheiten, dass man unbekannte Erwachsene duzt?

»Daniel«, murmelte er.

»Der Herr ist wunderbar!« ruft Monika. Herr K. zweifelt daran, dass er selbst damit gemeint ist. Es muss wohl um einen anderen Herrn gehen, vielleicht den noch abwesenden Hausherrn?

19:15 Uhr: Ein junges Paar stößt dazu, Michael und Esther, auch sie reden Herrn K. sofort mit dem vertraulichen Du an. Herr K. vermeidet in seinen gemurmelten Sätzen die persönliche Anrede, hält sich überhaupt aus dem Gespräch zurück, das sich um alltägliche Dinge wie Einkauf und Wetter dreht. Ihm ist noch nicht so ganz klar, was hier eigentlich veranstaltet wird. Ein Plauderabend?

19:25 Uhr: Nun sind wohl alle Teilnehmer da, acht Personen zählt Herr K., zuletzt kam eine Helga mit Gitarre. Die anderen Namen hat Herr K. nicht behalten. Helga stimmt ihr Instrument auf eine Weise, die zur wesentlichen Verbesserung des Klanges nicht beiträgt, während ringsum noch die Gespräche dahinplätschern.

19:30 Uhr: Michael räuspert sich und erklärt: »Dann wollen wir vielleicht mal anfangen.«

Es wird still. Herr K. ist gespannt.

»Wir machen vielleicht erst Lobpreis, dann das Thema«, fährt Michael fort. »Und am Schluss vielleicht dann die Gebetsgemeinschaft.«

Herr K. fragt sich, ob das mehrfache »vielleicht« Flexibilität im Ablauf signalisiert oder eine dem Sprecher unbewusste Angewohnheit darstellt. Da niemand abweichende Vorschläge unterbreitet, vermutlich letzteres.

19:35 Uhr: Es wird gesungen, mehr oder weniger. Herr K. kennt die Lieder nicht und rätselt an manchen Textstellen bezüglich der Aussage. Helga beherrscht offenbar nur einen einzigen Rhythmus, ein schrammelndes Auf und Ab des Plektrons über die Seiten, aber Herr K. will sich daran nicht stören. Es ist dies ja kein Konzert, bei dem man einer musikalischen Darbietung lauscht.

Die anderen haben alle die Augen geschlossen und einen leicht verklärten Gesichtsausdruck. Ob man beim Singen nicht umherschauen darf? Herr K. ist unsicher, aber es sieht ja keiner, dass er etwas sieht.

19:45 Uhr: Es wird immer noch gesungen. Zur Abwechslung auf Englisch, mehr oder weniger. »Siss is se däi, siss is se däi, sätt se lord häs mäid ...« - Herr K. würde gerne des englische th mit den Anwesenden einstudieren, aber er ist ja schließlich nur zu Gast und nicht als Englischlehrer engagiert worden. Allerdings tut es ihm in den Ohren weh, und leider muss offensichtlich das kurze Liedchen sechs - nein! sieben Mal! - wiederholt werden. Er überlegt, ob dies ein Feiertag für die Gläubigen ist, von dem er nichts weiß, oder warum ausgerechnet diesen Tag Gott auf eine Weise »gemacht« hat, die zu solch anhaltendem Gesang der spärlichen zwei Sätze, aus denen der Text besteht, Anlass gibt. Eigentlich ist es ein ganz normaler Mittwoch, etwas verregnet noch dazu.

image19:55 Uhr: Die Gitarre liegt endlich neben dem Stuhl von Helga. Michael hat eine dicke Bibel auf dem Schoß, in der er suchend vorwärts und rückwärts blättert, bis er die gewünschte Seite gefunden hat. »Vielleicht lese ich mal vor«, sagt er und räuspert sich bedeutungsvoll. Er runzelt die Stirn, macht eine kleine Pause und liest dann tatsächlich vor.

»Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist.«

20:00 Uhr: Nach der Lesung herrscht Schweigen. Herr K. würde gerne fragen, warum das Zitat mitten in einem Satz mit »denn« anfängt und worauf sich dieses »denn« beziehen könnte, aber er ist ja nur zu Gast und vermutlich wäre das unangebracht. Möglicherweise wird vorausgesetzt, dass in einem Hauskreis der Wortlaut des kompletten Abschnittes bekannt ist, und alle anderen haben ja ihre Bibeln auf dem Schoß, so dass sie gegebenenfalls nachlesen können.

Dass man bei Gott berühmt sein kann, ist Herrn K. neu, aber warum auch nicht. Die Sache mit dem trotz mangelnden Ruhmes gerecht werden findet er ganz angenehm. Dadurch scheint man aber trotzdem bei Gott noch nicht berühmt zu sein. Und wer mit dem »sie« überhaupt gemeint ist, alle Menschen oder nur eine bestimmte Gruppe, ist Herrn K. auch nicht so recht klar. Nun ja.

Herr K. wartet ab, was nach dem andächtigen oder verlegenen Schweigen kommt. Helga seufzt schließlich: »Ach ja, der Herr ist so gut.«

»Amen«, ruft Monika.

Herr K. meint sich zu erinnern, dass das Amen den Schluss einer Predigt oder eines Gebetes markiert - aber vielleicht täuscht ihn ja die Erinnerung.

Michael erklärt nach einem tiefen Seufzer: »Wir sind also gerecht, ohne es verdient zu haben.«

»Die Gnade!«, freut sich einer von denen, deren Namen Herr K. sich nicht gemerkt hat.

Steffi nickt verzückt und fügt hinzu. »Mit ihm hat er uns ja auch alles geschenkt.«

Herr K. ist nun völlig verwirrt, wer hat wem was geschenkt? Ging es nicht um Ruhm und Erlösung, irgendwie? Na ja, denkt er, vielleicht wird das ja im weiteren Gespräch noch erklärt?

20:15 Uhr: Das Gespräch dreht sich inzwischen um die Frage, wann die neue Arbeitsstelle kommt, die Gott dem eben über die Gnade so erfreuten Teilnehmer, dessen Namen sich Herr K. nicht merken konnte, versprochen hat. Soweit Herr K. der Unterhaltung folgen kann, muss das Versprechen irgendwie während eines Gebetes, womöglich sogar in diesem Hauskreis, gegeben worden sein, und daher sucht Thomas? Johannes? Tobias? (jedenfalls irgendwas mit O im Namen) nun nicht nach einem Job und schreibt auch keine Bewerbungen. Gott hat ihm wohl gesagt, dass die Arbeitsstelle »kommt«, wie auch immer das vonstatten gehen mag. Wenn der Mann mit dem O nun aktiv würde, erfährt Herr K., dann wäre das Unglaube, da der Job ja aus Gnade schon gegeben sei – nur eben noch nicht sichtbar geworden ist. Und im Falle des Unglaubens »käme« dann die Arbeitsstelle eben nicht.

Herr K. staunt. Noch mehr würde er staunen, wenn der Arbeitsplatz schon »gekommen« wäre, das Verfahren könnte ja im Erfolgsfall ein probates Mittel gegen Arbeitslosigkeit werden.

20:25 Uhr: Monika und Helga erzählen, wie Jesus ihnen beim Einkaufen aus Gnade geholfen hat, ein Sonderangebot zu finden, von dem sie nichts gewusst hatten. Herr K. fragt sich, ob auch bei allen anderen Kunden, die an jenem Tag im Laden waren und zugegriffen haben, eine göttliche Hand im Spiel war.

Dabei fällt ihm ein, dass er noch ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau benötigt, der Geburtstag ist zwar erst in vier Wochen, aber Herr K. hat gerne rechtzeitig alles parat. Dabei fällt ihm ein, weil parat so ähnlich klingt wie Paral, dass er den Mückenschutz an der Balkontüre reparieren sollte. Dabei fällt ihm ein, dass er vergessen hat, die Pflanzen auf dem Balkon zu gießen, aber es hat ja heute ein paar mal geregnet. Dabei fällt ihm ein …

20:35 Uhr: Als es plötzlich eine Weile still ist, kehrt Herr K. aus seinen Gedankengängen wieder zurück in den Hauskreis. Michael blickt auf die Uhr und sagt: »Dann wollen wir vielleicht mal noch beten. Hat jemand vielleicht ein Anliegen?«

Herr K. hat keins, denn er muss zwar demnächst einkaufen gehen, sucht aber kein Sonderangebot und er hat auch einen Job, mit dem er ganz zufrieden ist.

Helga hat Kopfweh gehabt, am Morgen, jetzt nicht mehr, aber man könne ja mal für sie beten, damit es nicht wiederkommt.

Der Mann mit dem O im Namen wünscht Gebet, damit seine neue Arbeitsstelle bald »kommt«.

20:40 Uhr: Helga greift nach der Gitarre und stimmt ein Lied an, während alle wieder die Augen fest geschlossen halten. Herr K. wundert sich, dass sie singen »… wir heben die Hände auf zu dir Herr …«, obwohl niemand seine Hand auch nur ein paar Zentimeter nach oben bewegt. Aber er ist ja der einzige, der das sieht, und vielleicht heben die Leute metaphorische Hände? Herr K. kann sich jedenfalls nicht vorstellen, dass sie ausgerechnet in einem gesungenen Gebet Gott etwas vorschwindeln würden. Der kann, vermutet Herr K., nichterhobene Hände sogar mit geschlossenen Augen sehen.

Dann ist es still, die Augen bleiben aber zu. Offenbar kann man mit Gott nur sprechen, wenn man nichts sieht. Oder sehen diese Leute den Unsichtbaren gerade dadurch, dass sie die Augen zukneifen? Dann könnten sie ja beim Singen auch Hände gehoben haben, die man eben nicht sehen kann, wenn man etwas sieht.

Michael, der neben Helga sitzt, legt schließlich eine Hand auf deren Arm und sagt: »Jesus kommt und berührt dich mit seinen gesalbten Händen und du wirst frei sein von deiner Migräne. Amen.«

Dann geht es um den Mann mit dem kommenden Job: »Wir sagen komm, Arbeitsstelle, im Namen Jesu …«

20:50 Uhr: »Und wie hat es dir gefallen?«, fragt Steffi Herrn K., als der offizielle Teil vorüber ist. Alle Augen ruhen erwartungsvoll auf ihm. Herr K. findet das peinlich und ringt um Worte. »Es war … vielen Dank für die Nachfrage … interessant … viel Neues für mich, aber anregend, zum Nachdenken anregend.«

»Der Herr ist wunderbar!«, ruft Monika und Herr K. nickt vorsichtshalber.

Ob er noch zur »Gemeinschaft« bleiben wolle, wird er gefragt, es gäbe nämlich noch Knabbereien und Tee, dabei könne er doch ein wenig von sich erzählen. Herr K. schüttelt den Kopf und erklärt, dass seine Frau zu Hause auf ihn warten würde, er müsse nun zügig aufbrechen.

»Bring deine Frau doch nächste Woche mit«, schlägt Helga vor, als Herr K. sich verabschiedet.

21:00 Uhr: Herr K. tritt auf die Straße und fragt sich, wie er seiner Frau von dem Abend berichten kann, ohne den Eindruck mentaler Verwirrung zu erwecken. Mitbringen wird er sie sicher nicht, da er keinen zweiten Besuch plant.

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P.S.: Die fast fertige Version dieser Glosse habe ich auf der Gemeindefreizeit einer Freikirche vorgelesen und wertvolle Tipps bekommen, die nun hier eingeflossen sind. Dank an die fleißigen Kommentatoren bei der improvisierten Lesung!

Samstag, 10. September 2011

»oora« verdient Aufmerksamkeit

Es kommt eher selten vor, dass ich eine Zeitschrift von der ersten bis zur letzten Seite lese. Das liegt daran, dass ich kaum einmal eine in die Hand nehme, abgesehen von der »Federwelt«, einem Periodikum für Autoren, habe ich keine Abonnements mehr. Mir würde die Zeit zum regelmäßigen gründlichen Lesen weiterer Zeitschriften fehlen - da greife ich doch lieber zu einem Buch, wenn Lesen auf dem persönlichen Stundenplan steht.

Das aktuelle Heft der »oora« fand als Belegexemplar für meinen Artikel »Liebe machen« den Weg in meinen Briefkasten und wurde zur Ausnahme: Ich habe alles gelesen. Vom Editorial, das auf den Inhalt einstimmt, bis zum Leserbrief auf der letzten Seite, der meine Zustimmung nicht zu gewinnen vermochte.

Das Hauptthema dieser Ausgabe, »Macht«, wird auf sehr unterschiedliche Weise beleuchtet, vom Interview mit einem mächtigen Menschen (Firmeninhaber) über Machtstrukturen im (frei)kirchlichen Bereich und die Ohnmacht einer Lehrerin bis zum geistlichen Machtmissbrauch und seinen bitteren Folgen. Sieben Beiträge umfasst dieser Schwerpunkt, und sechs davon konnten mich fesseln, bereichern. Die »Zahlen der Macht« hätten nicht sein müssen, aber immerhin ist die Doppelseite optisch ansprechend - tolle Idee, Infografiken als Flaschen und Dosen zu verkleiden.

Unter dem Motto »quergedacht« sind die übrigen Artikel im Inhaltsverzeichnis zu finden, darunter Unterhaltsames, Informatives, Nachdenkliches und Kritisches. Darunter ist auch mein Beitrag über Sex in der Ehe zu finden, aber zu dem enthalte ich mich jeden Kommentares.

»Möpse zum Frühstück« gibt Denk- und Handlungsanstöße in einer Sprache, die mir nicht zueigen ist, die ich aber durchaus mit Genuss lesen konnte. Ein Pop-Pilger kommt zu Wort, es werden einige misslungene deutsche Buchtitel von gelungenen englischsprachigen Büchern aufs Korn genommen, eine Niere im Leib Christi erklärt auf verblüffende Weise ihre Funktion und auch die weiteren Beiträge habe ich gerne gelesen.

»oora« will die »christliche Zeitschrift zum Weiterdenken« sein, - für mich ist das vorliegende Heft der Beweis, dass der Anspruch erfüllbar ist. Die Autoren der Artikel haben Antworten, aber die werden dem Leser nicht aufgedrängt oder gar aufgezwungen, und gerade das macht für mich den besonderen Reiz aus. Ich soll, darf und kann Weiterdenken. Einiges Weniges, was ich gelesen habe, will ich mir nicht zueigen machen, aber das ändert nichts daran, dass mich die Lektüre der entsprechenden Passagen zumindest um die Ansichten oder Einsichten anderer Menschen bereichert hat.

Mein Fazit: Dass ich (erstmalig) eine Rezension über eine Zeitschrift verfasst habe, darf der geschätzte Leser dieser Zeilen durchaus so verstehen, wie ich es meine: »oora« verdient Aufmerksamkeit, und wer wie ich mit dem »christlichen« Zeitschriftenmarkt zu hadern pflegt, kann sich hier davon überzeugen, dass es zumindest eine lesenswerte Alternative zum Üblichen gibt. Bei Interesse hier klicken: [oora - Die christliche Zeitschrift zum Weiterdenken]

Freitag, 9. September 2011

Unterwegs ...

... mit der Kirche auf ein Wochenende am Köriser See. Und zur abendlichen Lektüre dient Schopenhauer. Fein.


Donnerstag, 8. September 2011

Aber was ist denn nun erlaubt? Was ist verboten?

Neuer Artikel von meiner Wenigkeit in oora:

Adam besaß Penis und Hoden, Eva Vagina, Klitoris und Brüste. Da sie Kinder in die Welt setzten, wussten sie offenbar auch damit umzugehen.

Wer will, kann anhand der Bibel auch nachweisen, dass Sex außerhalb der Ehe erlaubt ist.

Oralsex, gegenseitige oder gemeinsame Masturbation, verschiedene Stellungen, Experimente mit Vibrator oder anderem Spielzeug, intime Massagen, Sex an ungewöhnlichen Orten ...

Huch? Wie bitte? Aber hallo! Ich muss doch sehr bitten! Wo kämen wir denn da hin!

Den ganzen Text lesen kann man bei oora.

Mittwoch, 7. September 2011

… insgeheim schon wieder Ideen …

»Da sind ja noch diese Fragmente, Ideen, Notizen ...«, sagte ich zu mir. »Vielleicht, falls ich mich doch nicht endgültig leergeschrieben habe, kann ja daraus etwas entstehen.«

»Und was sind das so für Notizen, Fragmente oder Ideen?«, fragte ich mich.

Ich schaute mir ein paar Dokumente aus dem Verzeichnis unfinished an und zählte auf: »Ein angefangener Text über den Zweifel oder das Zweifeln. Eine angefangene erotische Geschichte. Ein Dokument, in dem nichts weiter steht als Nur weil du durch die Wüste wanderst, heißt das noch lange nicht, dass es ein verheißenes Land gibt. Ein angefangener Text mit dem Titel Herr K. besucht einen Hauskreis. Der mörderische Anfang einer Kurzgeschichte dann ein paar Fragezeichen. Ein Sachtext zur Frage, ob, und wenn ja, warum und wann Gott seine Meinung, seinen Charakter geändert hat. Und ein Dokument mit halben Sätzen, ganzen Sätzen, einzelnen Wörtern, aus denen vielleicht mal etwas hätte werden sollen. Aber jetzt habe ich mich ja leergeschrieben.«

»Erotische Geschichte - das klingt doch gut. Warum nicht an der arbeiten?«

»Da müsste ich«, versicherte ich mir, »zuerst ein Pseudonym ersinnen. Ein weibliches.«

»Ach.«

»Erotische Geschichten sind nur erfolgreich, wenn sie von einer Autorin stammen. Zumindest angeblich. Es muss ein weiblicher Name drüberstehen. Oder drunter. Hauptsache, eine Frau hat es geschrieben.«

»Ach was.«

»Das weiß doch jeder.«

»So.«

»Klauen wir schon wieder bei Loriot?«. fragte ich mich leicht zynisch.

»Nein nein nein! Worte wie ach oder so oder was sind allgemeiner Wortschatz.«

»Egal. Jedenfalls wird das nichts mit der erotischen Geschichte. Der Schauplatz funktioniert nicht, das weiß ich schon nach den ersten beiden Szenen. Mehr habe ich daher auch nicht geschrieben.«

»Dann ändere den Schauplatz.«

»Mir fällt kein anderer ein. Ich habe mich leergeschrieben.«

»Dann fang was ganz Neues an. Fabeln erzählen, oder Märchen. So mit allem drum und dran, Prinzessinnen, Drachen, vielen Bösewichtern und einem strahlenden Helden.«

Ich schüttelte den Kopf. »Och nö, macht keinen Spaß.«

»Seeräubergeschichten.«

»Nö.«

»Science Fiction. Raumschiffe, Außerirdische und so weiter.«

»Nie und nimmer! Ich habe mich gerade durch 1312 Seiten Frank Schätzing gearbeitet, und das war überwiegend mühsam. Von Raumschiffen und Helium 3, fliegenden Autos und Chinesen auf dem Mond habe ich erst mal die Nase voll.«

»Dann mach doch etwas ganz anderes. Bilder malen, Fotokunst herstellen, einer politischen Partei beitreten ...«

»Ja ja. Ich werde Bundeskanzler.«

Ich grinste meinen Bildschirm an, auf dem immer noch das Verzeichnis unfinished mit den diversen Dokumenten zu sehen war. Politisch durchaus interessiert mochte ich mich doch nicht in die Sachzwänge und Programmvorgaben einer bestimmten Partei einfügen müssen. Selbst der parteilose Finanzsenator in Berlin muss schließlich den Vorgaben des Herrn Regierenden Partymeister Wowereit folgen. »Och nö«, sagte ich mir, »den Job dürfen gerne andere Menschen übernehmen.«

»Du weißt aber auch nicht, was du willst.«

»Doch. Schreiben will ich. Aber ich habe mich nun mal leergeschrieben.«

»Dafür, dass du dich leergeschrieben hast, tippst zu eine Menge Buchstaben und Satzzeichen.«

Ich musste mir irgendwie recht geben, so schwer es mir auch fiel. »Ja ja, schon ...«

»Und wenn du diese Dateien so betrachtest, hast du doch insgeheim schon wieder Ideen, wie dieses oder jenes weitergehen könnte.«

»Ja ja, schon ...«

»Also hör auf zu jammern und fang an zu schreiben.«

»Aber welches Dokument soll ich denn als erstes aufgreifen?«

»Was hätten deine Blogbesucher denn gerne?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Also das ist ja nun wirklich eine blöde Frage.«

»Stimmt.«

Die geschätzten Blogbesucher hätten gerne ...
... eine erotische Geschichte gelesen.
... Herrn K. im Hauskreis beobachtet.
... ein Loblied auf das Zweifeln gehört.
... eine mörderische Kurzgeschichte genossen.
... über Gottes Charakterveränderung nachgesonnen.
... alles auf einmal!
Auswertung

Samstag, 3. September 2011

Freitag, 2. September 2011

Leergeschrieben

Pencil... 1»Ich habe mich leergeschrieben«, sagte ich zu mir. »Ganz und gar leergeschrieben.«

»Leergeschrieben? Wie soll das denn gehen?«

»So wie man ein Notizbuch oder einen Block vollschreibt. Nur umgekehrt. In das Notizbuch passt nichts mehr hinein, bei mir ist nichts mehr drin.«

»So ein Unfug. Man kann sich nicht leerschreiben.«

»Doch«, widersprach ich mir, »das kann man. Oder ich zumindest. Mir fällt nichts mehr ein.«

»Und die Gedankensplitter, Textfragmente, angefangenen Artikel?«

»Die schaue ich an, lese sie, aber ich habe nichts hinzuzufügen.«

Ich schien mich langsam zu verstehen. »Also leergeschrieben. So etwas wie eine Schreibblockade.«

»So ähnlich, nur dass man eine Blockade durchbrechen kann, und dann ist da etwas, was durch die Beseitigung des Hindernisses frei wird. Da ich mich aber leergeschrieben habe, ist da nichts mehr.«

Ich dachte darüber nach, was ich mir da eben erklärt hatte. Wenn der Sachverhalt tatsächlich zutraf, dann war einstweilen - oder gar dauerhaft - Schluss mit dem Schreiben von Geschichten, Büchern, Artikeln.

»Wäre es möglich«, schlug ich mir zögernd vor, »eine Quelle anzuzapfen, damit - also zum Nachfüllen? Wenn der Kühlschrank leer ist, gehst du zum Supermarkt und schwupp ist er wieder gefüllt.«

»Gibt es denn einen Supermarkt für Ideen? Eine Tankstelle für Einfälle?«

Ich runzelte nachdenklich die Stirn und fragte dann: »Wo kamen denn bisher die Ideen her?«

»Überall.«

»Und das Überall ist jetzt weg?«

»Unsinn.«

»Aber es gibt keine Einfälle mehr preis?«

»Du treibst mich in die Enge mit deinen Fragen«, schimpfte ich mit mir. »Ich habe mich leergeschrieben und damit basta.«

»Ach so. Der Herr wünscht, sich in schriftstellerischem Elend zu suhlen.«

Ich zischte: »Und was geht dich das an?«

»Ich wohne hier.«

»Aber doch nicht jetzt, um diese Zeit!«, antwortete ich entrüstet.

»Fängst du jetzt an, bei Loriot zu klauen? Pfui!«

»Stimmt. Das ist pfui. Also streiche ich den letzten Satz. Und stelle fest: Ich habe mich leergeschrieben.«

»Und was machst du nun?«

»Weiß ich nicht.«

»Darf ich was vorschlagen?«

»Bitteschön.«

»Schreib das auf.«

Ich verstand mich nicht. »Was schreibe ich auf?«

»Na das mit dem leergeschrieben sein. Oder haben.«

»Ach so. Ja, das kann ich immerhin machen.«

Also zog ich die Tastatur zu mir heran und schrieb: »Ich habe mich leergeschrieben«, sagte ich zu mir. »Ganz und gar leergeschrieben.«

Dienstag, 30. August 2011

»Nicht lesen!«, ruft Jessika, …

image… »es sei denn, du willst wirklich wissen, was Johannes geschrieben und verworfen hat. Ob dir die Lektüre bekömmlich ist«, fährt sie mit besorgtem Blick fort, »vermag ich nicht zu sagen.«

Na denn: Für die (bisher) 66,7 Prozent der geschätzten Blogbesucher, hier die alternative Version des letzten Kapitels. Ach so – noch ein Blick zurück zuvor? Bitteschön: [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4] [Teil 5] [Teil 6] [Teil 7] [Teil 8] [Teil 9] [Teil 10] [Teil 11]

Und nun Teil 12 in der verworfenen Variante:

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Ich hatte keine Ahnung von Waffen. Im Fernsehkrimi jemanden anlegen und schießen sehen – das ist das eine, aber selbst dieses Metallgerät in der Hand zu halten, aus dem auf Wunsch tödliche Projektile in die angepeilte Richtung entwichen, war etwas ganz anderes.

»Ist das Ding entsichert oder so?«, fragte ich.

Jessika nickte. »Nur abdrücken.«

Die Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, aufzuschreiben (und zu lesen, was die geschätzten Empfänger dieser Zeilen betrifft) dauert wesentlich länger als die Momente vor der Tür zur Toilette lang waren. Es war eine Art Wirbelwind in meinem Kopf, da waren Satzfetzen und einzelne Worte, die sich gegenseitig verfolgten, überlagerten eliminierten, verstärkten …

Jetzt bekomme ich die Kontrolle über mein Leben zurück – Illusionen bis zum Ende - wir sind nicht einschätzbar, nicht von euch Menschen und auch nicht von unseresgleichen- liebst du mich? – it ain’t why why why - du träumst also, dass du geträumt hast – ich bin nicht hier, es gibt keine Jessika - Ur Local is protected by all applicable Paradox Laws. Do you agree?- warum sitzt hier ein Mädchen im roten Kleid? Das habe ich nicht gewollt – nicht einschätzbar – how does it feel? – mein Leben zurück haben - Ich. Habe. Den. Verstand. Verloren. – nasse Badehose, dreizehn Jahre alt, heftige Erektion – das ist kein Buch hier, das ist dein leben - Jessifranziska, Fanjekakaka – jetzt drehst du wirklich durch – ich werde mein Leben wieder bekommen – viele Thriller gelesen, und nun? - nicht einschätzbar – wie viele Schüsse sind in dem Ding eigentlich drin? – in diesen Büchern sind auch Opfer, und vielleicht suche ich einen Weg, von ihnen zu lernen – wir sind nicht einschätzbar - das traust du dich nicht! – kann sie Gedanken lesen? - liebst du mich?

Die Tür ging auf, ein beleibter Herr in Jeans und T-Shirt kam auf uns zu. Auf mich zu. Jessika war hinter mich getreten. Der Mann sah die Waffe und zögerte.

»Ich kann nichts dafür«, sagte ich, »andere haben entschieden. Anonym abgestimmt. Es tut mir leid.«

Dann drückte ich ab. Der Fernfahrer – ich ging davon aus, dass es sich um diesen handelte – taumelte einen halben Schritt zurück und starrte mich überrascht an. Fühlt er Schmerz? Irgend etwas? Denkt er etwas? Auf dem T-Shirt, dort wo sich der Bauch wölbte, entstand rund um das nagelneue Loch, das es Sekunden zuvor noch nicht gegeben hatte, ein roter Fleck, der ungefähr die Form des Bodensees annahm.

Zu tief gezielt. Der Mann ist nicht tot. Du musst ihn erlösen, damit es schnell vorüber ist.

Ich wollte noch einmal schießen, aber keine Zeit, ich muss erst frei werden von diesem Albtraum. Ich fuhr herum und schoss Jessika drei Kugeln in den Kopf, bevor sie begreifen konnte, was ich vorhatte. Liebst du mich?

Während sie zu Boden sank, drehte ich mich wieder zu dem Mann am Boden und schoss ihn zwei mal in den Kopf. Dann klickte die Waffe nur noch, es waren also sechs Kugeln im Magazin gewesen.

Du hättest ihn auch noch retten können, oder? Zum Tunnel gefahren wäre er ja nun nicht mehr.

Ich hätte … ich hatte sogar gewollt … mein Plan hatte anders ausgesehen. Aber es war wiederum etwas mit mir geschehen, was ich nicht geplant und nicht gewollt hatte. In den Sekunden, bevor der Mann aus der Toilette gekommen war, war ich mir sicher, dass ich ihn nur verletzen wollte, ins Bein schießen meinetwegen, und dann Jessika töten und verschwinden.

Töten? Man kann doch niemanden töten, der gar nicht existiert.

Doch dann war alles so schnell passiert, dass ich keinen klaren Gedanken mehr hatte fassen können. Ich zweifelte, dass ich jemals wieder zu klaren Gedanken fähig sein würde. Ich, der Wehrdienstverweigerer, der Freund des Friedens, hatte zwei Menschen erschossen.

Einen. Einen Menschen und eine Nephilim.

Ich schloss die Augen, mir war übel und schwindelig. Ich wollte die Leichen nicht mehr betrachten, ich wollte nicht mehr hinter dieser Tankstelle stehen, ich wollte aufwachen in einer Welt, in der es keine Jessika gab, keine Jana Nováková, keine Alesia und keinen Luca. Von Nitzrek ganz zu schweigen.

Es wurde dunkler, noch dunkler, bemerkte ich durch die geschlossenen Augenlider, als sei die kleine Lampe über der Toilettentür erloschen. Ich riss die Augen auf und sah nichts. Völlige Finsternis hüllte mich ein. Ich fühlte etwas, was ich nicht benennen konnte. Eine Anwesenheit, von irgend etwas bösem. Etwas sehr bösem. So etwas wie ein Stromschlag traf mich, allerdings wie von innen heraus, ich starrte in die Finsternis und erkannte eine Gestalt, nein, ich erkannte die Ahnung einer Gestalt.

»No man sees my face and lives«, sagte Nitzrek.

»Ich liebe Jessika«, hörte ich mich sagen, »ohne sie will ich nicht leben.«

»Du törichter Mensch.«

Die Gestalt kam mir näher. Etwas berührte mein Bein, tastend.

Dann wurde ich meines Bewusstseins beraubt.

 

Der Rest meiner Geschichte ist schnell erzählt. Der Angestellte hatte im Verkaufsraum der Tankstelle die Schüsse gehört und die Polizei alarmiert, seine Tür verriegelt und hinter dem Tresen versteckt gewartet, auf Anraten des Beamten, mit dem er am Telefon sprach. Auch als die Streifenwagen eintrafen, blieb er noch in seinem Versteck, erst als zwei Polizisten an die Glastüren klopften, machte er auf.

Als Zeuge taugte er nicht, da er nichts gesehen hatte. Es gab zwar Videokameras, aber keine Aufzeichnungen, da die Anlage seit Wochen defekt und noch immer nicht repariert war. Weitere Kunden hatten im fraglichen Zeitraum nicht an der Tankstelle gehalten.

Die Beamten fanden die Leiche des Fernfahrers, mich und eine Menge Blutspuren, die nicht von dem Toten stammten. Ich war äußerlich unverletzt, im Krankenhaus wurde dann wenig später ein Herzinfarkt diagnostiziert. Eine Waffe wurde genauso wenig gefunden wie die Person – die Leiche! – deren Blut hier so reichlich geflossen war.

Die Ermittlungen blieben letztendlich ergebnislos. Als ich wieder vernehmungsfähig war, wurde ich als Zeuge befragt und erklärte, dass ich angehalten hatte, um die Toilette aufzusuchen, dort sah ich die Leiche und wurde ohnmächtig. Ich hatte keine weiteren Kunden gesehen, auch war mir weder ein wegfahrendes Auto noch ein verletzter, blutender Mensch aufgefallen.

Das Blut am Tatort, das nicht von dem toten Fahrer stammte, wurde vermutlich untersucht und analysiert, davon würde ich zumindest ausgehen. Falls dabei eine Abweichung von normalem menschlichen Blut aufgefallen war, wurde dies nicht öffentlich bekannt gegeben – was mich nicht sonderlich erstaunte. Ich wusste ja, falls alles wirklich so geschehen war, wie ich es hier aufgeschrieben habe, um das weitverzweigte Netz der Nephilim. Warum sollten sie nicht auch im kriminaltechnischen Labor in Prag ihre Leute haben. Andernfalls war es eben nur menschliches Blut von dem selbst verletzten Täter gewesen, der rechtzeitig mit seiner Waffe entkommen war, oder von einem weiteren Opfer, das der Täter mitgenommen hatte.

Niemand war auf die Idee gekommen, meine Haut auf Schmauchspuren zu untersuchen. Ich war nur ein – allerdings nicht sehr ergiebiger – Zeuge.

Als ich, nach für die Ärzte erstaunlich schneller Genesung, aus dem Krankenhaus entlassen wurde, brachte man mich zu meinem Auto, das von der Polizei in Verwahrung genommen worden war. Im Kofferraum lag mein Gepäck, keine Spur von Jessikas Reisetasche. Da war ich mir sicher, dass ich wieder bei Sinnen und im echten Leben angekommen war. Was mit mir passiert war, seit ich beim Spaziergang im Park von Budweis eine junge Frau gesehen hatte, bei der mir meine erdachte Jessika einfiel, konnte ich und wollte ich nicht analysieren. Jetzt jedenfalls war ich – um die Erfahrung eines Herzinfarktes reicher – wieder ich und Herr meines Lebens. Die nächtlichen Träume lassen wir mal beiseite, da bin ich ja nicht der einzige, der hin und wieder schweißgebadet aufwacht und ein paar Momente braucht, um sich wieder zurecht zu finden.

Nun bin ich seit etlichen Wochen wieder in Berlin und habe meine Geschichte aufgeschrieben. Als Versicherung. Nur für den Fall der Fälle. Falls mir etwas zustoßen sollte, wird die Welt erfahren, was wirklich geschehen ist vor dem Mord an der Tankstelle. No man sees my face and lives. Man weiß ja nicht, was solche Worte letztendlich bedeuten.

Allerdings rechne ich eher damit, dass ich noch sehr lange und sehr gesund leben werde. Schließlich sehe ich jeden Morgen nach dem Duschen im Badezimmerspiegel das sternförmige Muttermal direkt über meinem Penis. Ich habe überlegt, ob ich meine Haare da unten wieder wachsen lassen sollte, um den Leberfleck zu verbergen, aber mich dann doch für die gewohnte tägliche Rasur entschieden. Eine kleine Hautverfärbung ist ja nichts, wofür man sich schämen müsste.

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Da manche Menschen und viele Nephilim so gerne auf etwas klicken und sich die Frage ja förmlich aufdrängt, darf nun zum Schluss noch einmal abgestimmt werden.

Besser gefiel mir ...
... diese verworfene Version, die hier steht.
... jene gültige Version vom vergangenen Freitag.
... dieses und jenes.
Auswertung