Sonntag, 25. Oktober 2009

Der eine und der andere

robbieDer eine trat am letzten Freitag kostenlos runde 40 Minuten im Nieselregen (er selbst samt Band natürlich unter einem schönen Bühnendach) auf, zahlreiche Fans waren dabei. Von diesem relativ jungen Mann habe ich keine Platten. Er musiziert ganz nett, paulchenfinde ich, aber da muss ich nicht hin, selbst wenn’s umsonst ist.

Muss er eigentlich deshalb kaputte Hosen tragen, weil er für solche Minikonzerte keinen Eintritt verlangt?

Der andere, relativ ältere Herr, kommt demnächst, am 3. Dezember, in unsere Stadt, der Konzertbesuch kostet einen ziemlich schmerzhaften Eintritt. Von ihm habe ich etliche Platten. Seine Musik, ob Soloprojekt oder mit seiner ehemaligen Combo, kann mich begeistern, auch nach 40 Jahren noch. Und ich hatte nie die Gelegenheit, ihn (mit oder ohne die damalige Combo) live zu erleben.

Er kann sich intakte Kleidung und eine Krawatte leisten. Unsere Eintrittskarten sind bestellt, damit er auch in Zukunft eine neue Hose kaufen kann, falls eine zerreißen sollte.

Samstag, 24. Oktober 2009

Der Mantel des Schweigens

Über manches sollte man barmherzig oder höflich den Mantel des Schweigens ausbreiten. Zum Beispiel mache ich keine Bemerkungen zu:






Freitag, 23. Oktober 2009

Die Entblößung – Teil 4

abstimmung3 Ich habe keinen Grund, mich über die Entscheidung der geschätzten Leserschaft nach dem 3. Teil zu beschweren. Schließlich habe ich das Schlamassel selbst herbei beschworen. Niemand hat mich gezwungen, eine Frage, ganz zu schweigen von jener Frage, zu stellen.

Die Abstimmung hat ergeben, dass die Fotos echt sind. Nun gut. Ich hatte anderes im Sinn, aber die von mir ersonnenen Spielregeln sollen deshalb nicht außer Kraft gesetzt werden. Also muss mein Freund Haberling erfahren, dass keine Manipulationen vorliegen.

Zunächst jedoch, bevor es weiter geht mit der Entblößung, erneut die faire Warnung: Auch mit dieser vierten Fortsetzung ist die Geschichte nicht zu Ende. Wer weiterliest, bleibt wiederum ohne einen Ausgang der Handlung, womöglich drehen sich hinterher sogar noch mehr Fragen im Kopf als zuvor. Also beschwere sich niemand. Lesen auf eigene Gefahr.

Ach ja, und natürlich noch der Hinweis auf die bisherigen Teile: Teil 1 /// Teil 2 /// Teil 3

Genug der Vorrede.

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»Das kann aber nicht sein«, widersprach Stephan Haberling, »wenn diese Fotos echt sind, wie Ihr Kollege behauptet, warum weiß ich dann nichts davon? Es wurde wirklich nichts daran manipuliert?«

Detlef Fischer zog die Schulten empor. »Ich bin kein Experte, aber für mich klingt die Analyse eindeutig. Lichttemparatur, Konturübergänge, Schattenwurf, digitale Informationen… ich gehe einfach davon aus, dass ein Fachmann wie mein Kollege, ehemaliger Kollege besser gesagt, weiß, wovon er redet, wenn er zu einem so eindeutigen Urteil gelangt. Er hat immerhin auch festgestellt, dass die bisher vorhandenen Bilder nacheinander aufgenommen wurden, und dass die abgebildete Person zwar jeweils die gleiche Haltung eingenommen hat, aber – wie dies bei einem echten Menschen nicht anders zu erwarten wäre – ist das natürlich nicht zu 100 Prozent gelungen. Schon die Stellung der Füße ist auf keinem der vier Fotos wirklich identisch. Wenn man es weiß, sieht man es auch.«

Stephan Haberling betrachtete die Vergrößerungen der Füße auf dem Bildschirm. Es stimmte, was sein Nachbar sagte. Also blieb eigentlich nur eine einzige logische Erklärung: Trotz der Narbe am Knie war diese Person nicht er selbst. Das wiederum war unlogisch, denn eine dermaßen verblüffende Ähnlichkeit mochte es höchstens bei Zwillingen geben, und er hatte keinen Bruder, geschweige denn einen Zwillingsbruder.

»Und der Raum«, fragte Detlef Fischer, »der ist Ihnen wirklich völlig fremd?«

Die mehr und mehr entblößte Figur nahm den größten Teil der Fotos ein, man erkannte im Hintergrund eine Vitrine aus weißem Holz mit Glaseinsätzen, links daneben ein kleines Stück Wand im Terrakottaton offenbar mit einer interessanten Rohputztechnik gestaltet. Rechts waren Zweige und Blätter eines Ficus benjaminii zu erkennen. Was vom Fußboden zu sehen war, schien ein geknüpfter Teppich zu sein. Der Halogenstrahler, nach dem die Gestalt sich ausstreckte, gehörte zu einem Seilsystem. In der Vitrine stand weißes Geschirr, womöglich konnte ein Fachmann anhand der Bilder erkennen, welche Marke das war. Doch ob nun Seltmann oder Rosenthal oder sonst ein Hersteller, das änderte nichts daran, dass Stephan Haberling den Raum nicht kannte oder zumindest nicht erkannte. Er schüttelte den Kopf und meinte: »Keine Ahnung. Nie gesehen. Noch ein Bier, Herr Fischer?«

Vier leere Flaschen Krušovice standen auf dem Schreibtisch. 16 volle Flaschen waren noch vorrätig, aber der Nachbar lehnte dankend ab.

Wieder allein in seinem Arbeitszimmer überlegte Stephan Haberling, ob er nun etwas unternehmen oder einfach abwarten sollte. Polizeiliche Ermittlungen, das hatte er verstanden, waren einstweilen nicht angebracht, da keine eindeutige Straftat vorlag. Es blieb also die Möglichkeit, Picasaweb zu kontaktieren und darum zu ersuchen, die Galerie zu sperren. Allerdings war zu erwarten, dass alter.ego flugs mit anderen Anmeldedaten eine neue Galerie ins Leben rufen würde, ein endloses Katz- und Mausspiel. Auch nicht gerade sinnvoll.

Falls der Urheber des ganzen Schlamassels etwas von ihm wollte, hatte Stephan Haberling bisher nicht begriffen, was. Er öffnete noch einmal die letzte E-Mail. »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu« - mehr nicht. Unverständlich. Absurd. So wie die ganze Angelegenheit.

Er klickte auf »Antworten« und schrieb: »Tut mir leid, ich verstehe nicht, was gemeint ist. Ich weiß nicht, was Sie wollen. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Entweder Sie machen verständliche Aussagen, oder es ist hoffnungslos.«

Nach dem Absenden nahm er die vier leeren Bierflaschen und brachte sie zurück in die Küche. Die Gläser räumte er in die Spülmaschine. Irgend etwas essen könnte jetzt nichts schaden. Ein Ölsardinenbrot? Vielleicht eine Pizza?

Das Telefon unterbrach seine Kostauswahl.

»Haberling.«

»Hier ist Lisa.«

Er hatte keine Ahnung, wer Lisa sein mochte. Das hatte nicht viel zu bedeuten, da er sich Namen schwer merken konnte. »Hallo Lisa.«

»Ich will nur kurz fragen, ob du heute Abend beim Autorenstammtisch dabei bist.«

Also war Lisa wohl eine Autorin? Wenn sie einen Nachnamen genannt hätte, wäre es Stephan Haberling unter Umständen leichter gefallen, sich ein Gesicht vorzustellen. So ganz sicher war allerdings auch dies nicht. »Ich habe vor, zu kommen. Warum?«

»Dann bringe ich dir etwas mit, was vielleicht interessant für deine Arbeit ist. Sonst hätte ich es mit der Post geschickt.«

Nun gut, dann würde er spätestens in dem Moment wissen, wer Lisa ist, in dem ihm eine Dame etwas überreichte. Er nickte, was am Telefon zwar unerheblich, aber dennoch seine Angewohnheit war. »Okay, dann bis später, Lisa.«

Ihre Stimme klang nach einem Lächeln. »Ja, bis nachher, Stephan.«

bergmann
Der Autorenstammtisch fand alle drei Monate statt, zu Stephan Haberlings Leidwesen in Kreuzberg. Am Lokal gab es nichts auszusetzen, Speisen und Getränke waren erschwinglich und gut, der Stammtisch im Kellergeschoss bot genügend akustische Entfernung zum lauten Betrieb oben, um sich ohne erhobene Stimme unterhalten zu können. Das einzige Problem am »Bergmann 103« war die Tatsache, dass es in der Bergmannstraße im Haus Nummer 103 lag, und ringsherum gab es so gut wie keine Parkplätze. So musste er zusätzlich zur normalen Fahrtdauer von 40 Minuten stets eine Parkplatzsuche und dann einen Fußweg von rund 15 Minuten zum Lokal einplanen.

Mitglied konnte jeder in Berlin lebende Autor sein, der mindestens ein Buch in einem »richtigen« Verlag veröffentlicht hatte. Da der Stammtisch nirgends publik gemacht wurde, kamen neue Mitglieder oder Gäste nur durch persönliche Einladung in die Runde. Bei den vierteljährlichen Treffen tauschte man sich zwanglos über Gott und die Welt, das Schreiben und das Lesen aus, ohne dass ein Thema vorgegeben war. Meist ergab sich ein Schwerpunkt von selbst.

Als Stephan Haberling eintraf, saßen bereits vier Stammgäste am Tisch, und darüber hinaus eine junge Dame, die er noch nie gesehen hatte. Da neben ihr ein Stuhl frei war, setzte er sich zu ihr und stellte sich vor: »Guten Abend, ich heiße Stephan Haberling. Sie sind zum ersten Mal dabei?«

»Ja, ich bin gespannt auf den Austausch. Herr Bendix Kleefeld war so freundlich, mich einzuladen.«

Stephan Haberling stutzte. Etwas am Tonfall kam ihm bekannt vor. Aber was?

Bendix Kleefeld lächelte über den Tisch und ergänzte: »Sie ist eine ganz famose Erzählerin und charmante Gesellschafterin, dafür lege ich die Hand ins Feuer.«

»Und haben Sie«, fragte Stephan Haberling, »auch einen Namen?«

»Natürlich. Lisa del Giocondo.«

Die Anruferin. Die Autorin des von ihm hochgeschätzten Buches »Mein zweites Ich«. Seine heimliche Muse. Die Unerreichbare – plötzlich erreichbar, direkt neben ihm am Stammtisch? Er war zu perplex, um sofort zu antworten.


Nach dem Stammtisch begleitete er Lisa in deren Wohnung, die in der gleichen Straße ein paar Hauseingänge entfernt lag. Es war überhaupt nicht seine Gewohnheit, fremde Frauen in deren Privatbereich aufzusuchen, aber hier und jetzt war sowieso alles dermaßen jenseits der Normalität, dass er keinen Augenblick gezögert hatte, als sie beim Aufbruch leise zu ihm sagte: »Wir gehen jetzt zu mir. Dort bekommst du das, was ich am Telefon versprochen habe.«

Sie stiegen die Treppen empor, im dritten Stock schloss Lisa eine Türe auf. Der Flur ließ bereits ahnen, dass diese Wohnung so ungewöhnlich eingerichtet und ausgestattet sein musste, wie ihre Bewohnerin ungewöhnlich war. Die Wände waren mit einem hellbraunen Baumwollstoff bezogen, so sah es auf den ersten Blick aus, aber die Wände leuchteten. Nicht grell, sondern in einer augenschmeichelnden Helligkeit.

Stephan Haberling berührte den Stoff, fasziniert von dem Effekt. Seine Begleiterin erklärte lächelnd: »Das ist mit Stoff bespanntes Glas, vom Boden bis zur Decke. Dahinter ist die LED-Beleuchtung installiert, und dahinter wiederum liegen die ursprünglichen Wände. Wenn ich die Wohnungstüre aufschließe, empfängt mich automatisch das Licht.«

Er nickte und sagte: »Wer bist du eigentlich, Lisa?«

»Geradeaus ist das Wohnzimmer. Setz dich hin, ich bringe ein paar Getränke aus dem Kühlschrank.«

Er war nicht mehr sonderlich überrascht, als er im Wohnzimmer eine Rohputzwand im Terrakottaton sah, an der eine Vitrine mit Geschirr und neben dieser ein Ficus benjaminii stand. Der Teppich war so weich, wie er auf den Fotos aussah. Unter der Zimmerdecke war ein Halogen-Seilsystem angebracht. Was fehlte, war ein zunehmend nackter Mann, der sich zu einem der Strahler empor streckte. Stephan Haberling hob die Arme und stellte fest, dass er, falls er sich auf die Zehenspitzen stellte, den Strahler erreichen konnte.

»Kannst du mir den so verstellen, dass das Licht auf das obere Fach in der Vitrine fällt?«, fragte Lisa del Giocondo, die in der Wohnzimmertür stand und lächelte. »Er ist etwas zu niedrig ausgerichtet.«

»Darf ich meine Kleidung dazu anbehalten?« fragte er zurück.

»Selbstverständlich.« Wieder dieses Lächeln, das ihn erinnerte. Zurückerinnerte. Zurück in jene Zeit, in der sich alles änderte. Endgültig. Unumkehrbar.

Er richtete den Strahler behutsam nach oben, bis er die gewünschte Stelle beleuchtete. Zwischen dem Geschirr im oberen Fach stand ein kleiner Bilderrahmen. Stephan Haberling trat an die Vitrine und betrachtete das Portrait.

»Komm, setzt dich zu mir und erzähl mir von Isis«, bat ihn die Frau, die er wenige Stunden vorher noch nicht gekannt hatte, und die ihm nun plötzlich so vertraut war wie kein anderer Mensch auf dieser Welt.

»Erzähl mir von Isis, bitte.«

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So. Mehr gibt es heute nicht zu lesen. Aber natürlich darf die obligatorische Abstimmung nicht fehlen. Bittesehr:

Wer ist Isis?
Lisas Schwester.
Stephans frühere Frau.
Auswertung

Ich werde am kommenden Montag Ausschau halten, was meine lieben Leser bevorzugen. Und dann weiterschreiben, was unser Stephan über Isis zu berichten hat.

Nachtrag 26.10.: Wer mag, kann noch klicken, aber ich schreibe mit der Entscheidung von heute früh im Kopf und im Herzen weiter: Gleichstand.

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Behälter für den Eierbau?

Diese beiden E-Mails muss man von unten nach oben lesen, weil meine Antwort auf die Anfrage über der Anfrage nach meiner Antwort steht.


P.S.: Wie baut man eigentlich ein Ei? Ich dachte immer, die werden von Vögeln gelegt oder kommen schon fertig mit Kinder-Schokolade umhüllt auf die Welt.

Heute ist Siebentag

joyce Ach waren das noch Zeiten, als ich meinen Schneider-Joyce-Computer zunächst mit einer Diskette füttern musste, von der er das Schreibprogramm in den Speicher lud, um dann von einer zweiten Diskette den gewünschten Text zu laden, an dem ich arbeiten wollte.

Der Bildschirm zeigte, soweit ich mich erinnere, grüne Schrift auf dunklem Hintergrund. Grafik? Nö. Mehrere Anwendungen gleichzeitig öffnen? Nö. Rechtschreibprüfung? Nö. Schriftarten und –größen aussuchen? Kann sein, ich glaube das ging irgendwie…

Immerhin war es eine wunderbare Schreibmaschine, das Ding, und am Ende der Mühe konnte man auf einem ohrenbetäubenden Nadeldrucker das fertige Werk zu Papier bringen. Doch genug von der Nostalgie!

Heute ist nun für viele Menschen Siebentag, die Vorbestellungen von Windows 7 haben in England Harry Potter vom ersten Platz der meiste-Vorbestellungen-aller-Zeiten-Liste verdrängt, und auch hierzulande dürfte vielerorts eine Installationsorgie ausbrechen.

Ich habe Windows 7 in der Beta-Version ausgiebig getestet und werde, obwohl der Postbote das Amazon-Päckchen heute abliefern wird, erst am Wochenende dazu kommen, das neue Betriebssystem zu installieren. Macht ja nix. Geduld ist die Mutter aller Tugend.

Allen, die heute schon loslegen: Vorher Daten sichern und dann viel Spaß dabei!

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Dienstag, 20. Oktober 2009

Schwule verbrennen! Hornviecher steinigen!

Am Sonntag hörte ich eine Predigt, die mich etwas irritierte, soweit ich überhaupt zuzuhören vermochte. Bei rund 75 Minuten Vortragslänge gelingt es mir eher nicht, bei der Sache zu bleiben. Ausgangspunkt waren einige Sätze aus dem 2. Petrusbrief:

Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen. Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem Heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet.

Viele bunte Bibeln Von diesen Versen aus spannte der Pastor seinen Bogen. Er setzte voraus, dass Petrus, als er diesen Brief schrieb, die ganze Bibel gemeint habe, einschließlich Neues Testament natürlich. Denn »die Schrift« beinhalte ja selbstverständlich auch das, was Paulus geschrieben hat. Oder die anderen Autoren des Neuen Testamentes. Verzückt und kopfnickend folgten die Versammelten, soweit ich sie im Blickfeld hatte, den Ausführungen vom Podium, die zunächst nichts anderes waren als die klassische Kurzschlussargumentation: Die Bibel hat recht, weil in der Bibel steht, dass die Bibel recht hat. Als hätte irgend einer der (zweifellos inspirierten) Autoren beim Schreiben ein ledergebundenes Buch, erhältlich auch als Paperback in allerlei bunten Ausführungen, im Sinn gehabt…
Doch zurück zur Predigt, soweit ich zu folgen in der Lage war. Selbstverständlich sei in dem, was Petrus da schrieb, meinte der Pastor, auch das eingeschlossen, was heutzutage als »Prophetien« zu Gehör gebracht wird. Denn eine Weissagung werde ja schließlich, wie Petrus schreibt, nicht aus menschlichem Willen hervorgebracht, sondern getrieben von dem Heiligen Geist würden Menschen im Namen Gottes reden.
Ich überlegte, was Paulus, der ja nicht immer mit Petrus übereinzustimmen bereit oder in der Lage war, dazu sagen würde; hatte er doch den Korinthern empfohlen, dass sie zunächst, wenn es denn sein muss, alle prophetisch reden, und dann das Geredete prüfen und gegebenenfalls verwerfen sollten.
Als der Pastor anschließend damit fortfuhr, die inzwischen weit überfällige Erweckung in seiner schrumpfenden Gemeinde nun für Oktober oder November 2009 anzukündigen, schweifte ich gedanklich ab.

Als ich wieder zu mir - beziehungsweise zum Zuhören - kam, war gerade die Rede davon, dass Gottes Wort nun einmal wörtlich zu nehmen und nicht etwa auszulegen sei.

Ich schweifte schon wieder von hinnen, denn mir fiel ein Brief ein, der bereits etliche Jahre (in Variationen) im Internet kursiert. Er ist an einen der unzähligen »christlichen« Radio- und TV-Stars gerichtet, die wohl auch hierzulande inzwischen via Bibel-TV oder God-Channel oder wie diese Sender heißen, zu besichtigen sein sollen. Es geht um das wörtlich nehmen. Der Brief gefällt mir besser als die Predigt, die ich am Sonntag, soweit ich nicht schweifte, gehört habe, denn er ist erheblich kürzer:

Liebe Dr. Laura!

Vielen Dank, dass Sie sich so aufopfernd bemühen, den Menschen die Gesetze Gottes näher zu bringen. Ich habe einiges durch Ihre Sendung gelernt und versuche das Wissen mit so vielen anderen wie nur möglich zu teilen. Wenn etwa jemand versucht seinen homosexuellen Lebenswandel zu verteidigen, erinnere ich ihn einfach an das Buch Mose 3, Leviticus 18:22, wo klargestellt wird, dass es sich dabei um ein Gräuel handelt. Ende der Debatte.

Ich benötige allerdings ein paar Ratschläge von Ihnen im Hinblick auf einige der speziellen Gesetze und wie sie zu befolgen sind.

  • Wenn ich am Altar einen Stier als Brandopfer darbiete, weiß ich, dass dies für den Herrn einen lieblichen Geruch erzeugt (Lev. 1:9). Das Problem sind meine Nachbarn. Sie behaupten, der Geruch sei nicht lieblich für sie. Soll ich sie niederstrecken?
  • Ich würde gerne meine Tochter in die Sklaverei verkaufen, wie es in Exodus 21:7 erlaubt wird. Was wäre Ihrer Meinung nach heutzutage ein angemessener Preis für sie?
  • Ich weiß, dass ich mit keiner Frau in Kontakt treten darf, wenn sie sich im Zustand ihrer menstrualen Unreinheit befindet (Lev. 15:19-24). Das Problem ist, wie kann ich das wissen? Ich hab versucht zu fragen, aber die meisten Frauen reagieren darauf pikiert.
  • Lev. 25:44 stellt fest, dass ich Sklaven besitzen darf, sowohl männliche als auch weibliche, wenn ich sie von benachbarten Nationen erwerbe. Einer meiner Freunde meint, dass würde auf Polen zutreffen, aber nicht auf Österreicher. Können Sie das klären? Warum darf ich keine Österreicher besitzen?
  • Ich habe einen Nachbarn, der stets am Samstag arbeitet. Exodus 35:2 stellt deutlich fest, dass er getötet werden muss. Allerdings: Bin ich moralisch verpflichtet ihn eigenhändig zu töten?
  • Ein Freund von mir meint, obwohl das Essen von Schalentieren, wie Muscheln oder Hummer, ein Gräuel darstellt (Lev. 11:10), sei es ein geringeres Gräuel als Homosexualität. Ich stimme dem nicht zu. Könnten Sie das klarstellen?
  • Mit Brille zum Altar?In Lev. 21:20 wird dargelegt, dass ich mich dem Altar Gottes nicht nähern darf, wenn meine Augen von einer Krankheit befallen sind. Ich muss zugeben, dass ich Lesebrillen trage. Muss meine Sehkraft perfekt sein oder gibt's hier ein wenig Spielraum?
  • Die meisten meiner männlichen Freunde lassen sich ihre Haupt- und Barthaare schneiden, inklusive der Haare ihrer Schläfen, obwohl das eindeutig durch Lev. 19:27 verboten wird. Wie sollen sie sterben?
  • Ich weiß aus Lev. 11:7-8, dass das Berühren der Haut eines toten Schweines mich unrein macht. Darf ich aber dennoch Fußball spielen, wenn ich dabei Handschuhe anziehe?
  • Mein Onkel hat einen Bauernhof. Er verstößt gegen Lev. 19:19, weil er zwei verschiedene Saaten auf ein und demselben Feld anpflanzt. Darüberhinaus trägt seine Frau Kleider, die aus zwei verschiedenen Stoffen gemacht sind (Baumwolle/Polyester). Er flucht und lästert außerdem recht oft. Ist es wirklich notwendig, dass wir den ganzen Aufwand betreiben, das komplette Dorf zusammen zu holen, um sie zu steinigen (Lev. 24:10-16)? Genügt es nicht, wenn wir sie in einer kleinen, familiären Zeremonie verbrennen, wie man es ja auch mit Leuten macht, die mit ihren Schwiegermüttern schlafen? (Lev. 20:14)

Ich weiß, dass Sie sich mit diesen Dingen ausführlich beschäftigt haben, daher bin ich auch zuversichtlich, das Sie uns behilflich sein können. Und vielen Dank nochmals dafür, dass Sie uns daran erinnern, dass Gottes Wort ewig und unabänderlich ist.

Ihr ergebener Jünger und bewundernder Fan
XYZ

Na denn! Lasst uns die Homosexuellen verbrennen und ein paar Stiere steinigen. Oder war das umgekehrt? Oder sollte ich mir für Dreisiebzich die CD von der Predigt kaufen, die ich gedanklich dermaßen schweifend wohl nicht verstanden habe?

P.S.: Wie schön, dass Berlin so viele sehr verschiedene Kirchen und Gemeinden hat. Bis Weihnachten wollen wir so gut wie jeden Sonntag eine andere kennen lernen oder statt Gottesdienst einen Waldspaziergang machen. Oder ausschlafen. Oder sonst was.

Montag, 19. Oktober 2009

Alles um-, ein- und aufgeräumt

Nachdem Betty wieder abgeflogen ist (regelmäßige Blogbesucher wissen, wer Betty ist), hatte ich am Wochenende einen Computerwechsel zu bewältigen. Das ist nicht so leicht, wie es klingt, denn manche Programme sind ziemlich störrisch, selbst wenn sie auf dem »alten« Rechner bereits deaktiviert und deinstalliert sind, behaupten sie bei der Installation, dass man versuchen würde, sie illegal doppelt zu verwenden. Da war in Sachen Microsoft Office ein Anruf bei der Hotline nötig – die indisch / ägyptisch / irgendwieisch klingende Dame war sehr freundlich, kompetent, sachkundig. Mit ihrer Hilfe konnte die Aktivierung dann sofort durchgeführt werden.

windows

Nun ist alles am Platz auf dem neuen Rechner, schön aufgeräumt wie ich es mag (warum manche Zeitgenossen ihr Hintergrundbild mit lauter Icons verkleistern, ist mir schleierhaft) und ich kann mich wieder an die Arbeit mit dem Computer machen, anstatt den Computer selbst als Arbeitsauftrag zu haben. Und ich kann nachschauen, welchen Pfad die geschätzten Leser mir und dem Herrn Haberling vor die Füße legen wollen.

Samstag, 17. Oktober 2009

Nur für Juppi: Zeitgesteuert Bloggen

Wie kann man nachts um 01:11 Uhr einen Beitrag veröffentlichen und gleichzeitig in den Kissen (falls man mehrere hat) schlummern? Juppi stand vor einem Rätselberg, den ich hiermit gerne überwinden helfe.

Falls man mit Blogger arbeitet, klickt man links unter dem Eingabefeld auf Post-Optionen, und wie von Zauberhand eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten. Kommentare und Backlinks kann man zulassen oder nicht, und man kann Tag und Stunde bestimmen, wann der Beitrag sichtbar werden soll. Das ist natürlich unbiblisch, da es uns ja nicht gebührt, Tag und Stunde zu wissen. Aber es funktioniert!


Wer es vorzieht, mit Wordpress zu bloggen, muss nicht traurig sein. Dort kann man genau den gleichen Schlummern-und-doch-Veröffentlichen-Effekt erzielen.
Allerdings wird man hier nicht unter, sondern rechts neben dem Texteingabefeld fündig. Da steht »Veröffentlichen am: Irgendwas«, und daneben kann man auf »Bearbeiten« klicken. Und schon kann man eintragen, wann das geschätzte Publikum den Beitrag zu sehen bekommen soll.


Da fällt mir ein: Vielleicht ist das Ganze ja doch biblisch, da das Publikum Tag und Stunde nicht kennt? Wie auch immer, diesbezüglich dürfen die Theologen in den nächsten Jahrzehnten Abhandlungen schreiben.

Zu guter Letzt geht das Ganze natürlich auch mit dem Windows-Life-Writer, den ich (wegen seiner komfortablen Gestaltungsmöglichkeiten) am meisten schätze. Egal, wo der Blog beheimatet ist, ob bei Google oder Wordpress oder sonst irgendwo, auch hier gibt es die biblisch riskante Funktion.
Unten rechts im Fenster klickt man auf »Veröffentlichungsdatum«, wählt ein Datum aus und kann, wenn man auf die automatisch eingesteuerte Uhrzeit klickt, auch noch diese verändern.

juppi3
Na siehste. War doch nicht so schwer, oder?

Freitag, 16. Oktober 2009

Die Entblößung - Teil 3

Heute geht es, manche Leser werden rufen »endlich!«, mit der Entblößung des Stephan Haberling weiter. Es empfiehlt sich, Teil 1 und Teil 2 zu kennen - dieser Hinweis nur für den Fall, dass jemand auf verschlungenen Internetpfaden irgendwie unvermittelt zu diesem dritten Teil gelangt ist.

Am Schluss des vorangegangenen Abschnittes hatte ich die Leser eingeladen, den Fortgang mitzugestalten. Auch am Ende dieses Teiles gibt es kein Ende der Geschichte, sondern eine Frage an die Leser, denn wiederum ist die Fortsetzung noch nicht geschrieben. Doch nun erfahren wir zunächst, was in der E-Mail stand, die Stephan Haberling um 11:45 Uhr bekommen hatte.

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»Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu« las er. Nun ja. Wie erwartet nicht wirklich hilfreich, was alter.ego da schrieb. Aber immerhin ein kleiner Hinweis, dass der ominöse Tunichtgut meinte, einen Anlass für die Entblößung zu haben.
Stephan Haberling überlegte, was er wohl wem wann angetan haben mochte, um diese seltsame Galerie auszulösen. Ihm fiel nichts ein, so sehr er auch grübelte. Seine journalistischen Aktivitäten waren seriös, er schrieb nicht für niveaulose Blätter wie die BILD-Zeitung oder die Regenbogenpresse. Er bemühte sich bei seiner Arbeit stets um Objektivität, selbst wenn er – auch das war nun mal Aufgabe eines Journalisten – einen Missstand aufzudecken, Machenschaften beim Namen zu nennen oder kriminelles Tun zu beschreiben hatte, unterschied er nach bestem Wissen und Gewissen zwischen zu verurteilendem Handeln und Herabwürdigung einer Person. Und manches, was einschlägige Blätter und Sender für berichtenswert hielten, war für ihn einfach keine Nachricht. Ob Veronica Ferres in Rom geheiratet oder Stephen Gatley vor seinem Tod einen Schwulenclub besucht hatte – das gehörte nicht zu dem, was in der Öffentlichkeit breitgetreten werden musste. Natürlich passierte genau das trotzdem, und die Auflage mancher Publikation hing genauso davon ab wie die Einschaltquoten gewisser Sender. Es gab einen Markt für derartige Inhalte, aber Stephan Haberling weigerte sich, diesen zu bedienen.
Er war sich keines einzigen Falles bewusst, wo er jemanden auf eine Weise öffentlich bloßgestellt hätte, die alter.ego nun zur sonderbaren Entblößung seiner Person hätte veranlassen können.
Auch seine Geschichten und Romane kamen nicht in Betracht, denn darin traten ausschließlich fiktive Personen auf.
Also blieb nur das wirkliche Leben, falls es überhaupt einen Anlass geben sollte. Stephan Haberling grübelte, ohne Erfolg. Es gab keine Episode in seiner Biographie, bei der er jemanden buchstäblich oder metaphorisch entblößt hätte. Er lebte ohne Ausschweifungen und Skandale, hatte keine Affären, stellte niemanden bloß, nur sich selbst gelegentlich, in der Sauna oder am geeigneten Strand. Das konnte alter.ego ja nicht meinen?

Einstweilen gab Stephan Haberling das Grübeln auf, um den zweiten Auftrag zu erledigen, der heute noch fällig war. Er hatte eine Routineaufgabe für die Redaktion der Deutschen Presseagentur zu erledigen: Den Nachruf für Bernhard Victor Christoph-Carl von Bülow, allgemein bekannter als Loriot, aktualisieren. Für Prominente, die ein gewisses Lebensalter erreicht hatten, wurden Nekrologe bereit gehalten, damit im Fall des Falles nicht erst recherchiert werden musste, und Loriot gehörte seit einigen Jahren zu denjenigen, deren Lebensdaten in diesem Archiv vorgehalten wurden. Insgesamt war Stephan Haberling für 40 Nachrufe für Personen aus dem kulturellen Bereich verantwortlich, er überprüfte und ergänzte an jedem Arbeitstag einen, so dass er ungefähr alle zwei Monate jedem einzelnen potentiell demnächst Verstorbenen gedanklich begegnete.
In den letzten Jahren war bei Loriot nicht viel dazu gekommen, am 8. Juni 2009 hatte die Stiftung Deutsches Kabarett den Künstler mit einem Stern der Satire bedacht, davor hatte es sie Verleihung des Ehrenpreises der Deutschen Filmakademie gegeben. Im September hatte eine Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte begonnen, aber das war für den Nachruf unerheblich, zumal sie vorher in Berlin zu sehen gewesen war. Die beiden Ehrungen waren schon vermerkt.
Bernhard Victor Christoph-Carl von Bülow war nun 86 Jahre alt und Stephan Haberling gönnte ihm noch viele Jahre des wohlverdienten Ruhestandes. Loriot gehörte zu denjenigen, deren Filme und Sketche ihn auch beim x-ten Mal nicht langweilten. Für seine Schaffensperiode war er gelegentlich etwas risqué gewesen, von den entblößten Busen der vermeintlichen Mainzelmännchen (die ja wohl dem Oberkörper zufolge eher Mainzelmädchen waren) bis zu den Herren im Bad, die sich gelegentlich aus der Badewanne erhoben, wobei auch die etwas klein geratene Männlichkeit nicht verborgen blieb. Da war auch die Dame im Spielzeuggeschäft, die versonnen einen Holzstab in einem Bauklötzchen mit passendem Loch hin und her bewegte, oder die alkoholgeschwängerte Feststellung: »Es saugt und bläst der Heinzelmann, wo Mutti sonst nur blasen kann.« Nicht zu vergessen die Frage »Und wann wird er steif?« im Sketch mit der hochmodernen Feuerwehrspritze…

Solche Dinge waren natürlich verglichen mit dem, was heute im Kino und Fernsehen oder im Internet zu sehen war, harmlos. Wie harmlos mochte, überlegte Stephan Haberling, wohl seine Entblößung im Internet ausfallen, die ja kaum noch aufzuhalten schien? Er blickte auf seine Armbanduhr. 12:30 Uhr, somit konnte er sich ein Bier genehmigen, ohne sein selbst auferlegtes Gesetz zu brechen: Kein Alkohol vor 12 Uhr Mittags. Vielleicht sollte er auch einen Happen essen?

Ein Blick in den Kühlschrank überzeugte Stephan Haberling davon, dass der Besuch im Supermarkt nicht mehr aufzuschieben war. Der kümmerliche Rest Butter und eine einzige Scheibe Maasdamer ließen keine magenfüllende Mahlzeit erwarten, im Gefrierfach wartete eine einsame Pizza Tonno auf ihren Verzehr, mehr Vorräte gab es nicht. Er wusste selten, was er an Lebensmitteln einkaufen wollte, deshalb ging er so ungern zu Reichelt oder Rewe. Die endlosen Regale mit den verwirrend vielen Angeboten irritierten ihn jedes Mal, und in der Regel kam er Woche für Woche mit der gleichen Ausbeute zurück. Maasdamer und Kochschinken, Butter, Krustenbrot und Ölsardinen, Bier aus der Brauerei Krušovice oder Staropramen, zur Abwechslung auch mal Breznak. Dazu irgend etwas aus der Tiefkühlabteilung, meist Pizza. Langweilig, zugegeben, aber dafür war er sicher, dass ihm seine Mahlzeiten schmecken würden.
Er verließ die Wohnung und begegnete im Treppenhaus seinem Nachbarn Detlef Fischer. Genau der Mann, der ihm vielleicht bei seinem Entblößungsproblem helfen konnte. Warum war er nicht früher darauf gekommen? Detlef Fischer war Kriminalpolizist im Ruhestand, ein liebenswerter, gebildeter und immer freundlicher Mensch, dem Stephan Haberling schon bei einigen Computerproblemen hatte helfen können.
Der Einkauf war einstweilen vergessen.
»Guten Tag, Herr Fischer, haben Sie einen Moment Zeit?«
»Gerne, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Das hoffe ich. Würden Sie so freundlich sein, in mein Arbeitszimmer zu kommen? Ich muss ihnen etwas zeigen, das nur so zu erklären, wäre zu schwierig. Und außerdem auch gar nicht logisch. Weil das, was da vor sich geht, gar nicht geht.«
»Da bin ich aber gespannt!«
Die beiden setzten sich an den PC und Stephan Haberling zeigte seinem Nachbarn die E-Mails und die Galerie mit den Bildern der fortschreitenden Entblößung. Er erklärte, dass er keine Ahnung hatte, wer alter.ego sein mochte und worauf er eigentlich hinaus wollte. Dann fragte er: »Und was mache ich nun?«
Detlef Fischer runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. »Viel können Sie da nicht tun. Soweit ich es beurteilen kann, liegt keine strafbare Handlung vor.«
»Jemand zieht mich im Internet aus, und das ist nicht strafbar?«
»Darüber könnten die Juristen sich vermutlich jahrelang streiten. Die Fakten sehen für mich als Polizist so aus: Sie sind als Journalist und vor allem als Autor eine Person öffentlichen Interesses. Daher ist es zulässig, Fotos von Ihnen aufzunehmen und diese auch öffentlich zugänglich zu machen, ohne dass Sie vorher zustimmen müssen. Die Bilder zeigen einen Mann, der ein Kleidungsstück nach dem anderen – äh – ablegt wäre ja falsch, also verliert. Bisher ist nichts zu sehen, was als anstößig gelten könnte, Männer in Unterhose und T-Shirt sind kein Grund, sich zu entrüsten. Vorausgesetzt es geht so weiter, werden Sie übermorgen im Adamskostüm zu sehen sein. Dann – aber auch erst dann – könnte die Schwelle des Zulässigen überschritten sein, weil Ihre Intimsphäre verletzt ist. Voraussetzung ist, dass die Aufnahmen nicht an einem öffentlichen Ort gemacht wurden, zum Beispiel am FKK-Strand. Das ist ja ersichtlich nicht der Fall. Also sind es private Bilder. Wenn die in der Wohnung der Person entstanden sind, der sie nun veröffentlicht, ist dagegen erst mal nichts zu unternehmen. Wenn die Aufnahmen aus Ihrem Wohnzimmer stammen würden, wäre das eventuell anders, es sei denn, Sie hätten zugestimmt.«
»Habe ich nicht. Und die Bilder sind auch überhaupt nicht echt. Ich kenne weder den Raum, noch habe ich mich jemals auf diese Weise fotografieren lassen.«
»Aber die Narbe am Knie ist Ihre?«
»Ja.«
»Und die Kleidungsstücke?«
»Ich besitze das, was hier zu sehen ist, wenngleich es keine Einzelstücke sind.«
»Haben Sie nachgeschaut, ob vielleicht gerade dieses Freizeithemd oder diese Unterhose in ihrem Kleiderschrank fehlen?«
Darauf war Stephan Haberling nicht gekommen. Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Das gestreifte Hemd hing auf einem Bügel, die drei Jockey-Briefs lagen vollzählig in der Schublade.
»Alles da«, erklärte er seinem Nachbarn.
Detlef Fischer war einigermaßen ratlos. »Was mit Fotos beziehungsweise der Bildbearbeitung am Computer alles möglich ist, da kann man heutzutage nur noch staunen. Ich könnte einen ehemaligen Kollegen bitten, sich das anzuschauen, nicht dienstlich natürlich, da ja keine strafbare Handlung vorzuliegen scheint. Der Mann ist noch nicht pensioniert, hat also die komplette polizeiliche Ausrüstung zur Verfügung, und er ist Experte für Fälschungen und Manipulationen an Bildern. Er könnte, da die Auflösung ja sehr hoch ist, zumindest zweifelsfrei feststellen, dass es stimmt, was Sie sagen, nämlich dass diese Bilder nie aufgenommen wurden, sondern durch technische Manipulation zustande gekommen sind.«
»Würde er Ihnen denn diesen Gefallen tun?«
»Bestimmt. Soll ich?«
»Ja. Schon um meine Zweifel an der eigenen Zurechnungsfähigkeit zu beseitigen. Und dann?«
»Dann wüssten Sie, womit Sie es zu tun haben. Mit welchen technischen Tricks hier gearbeitet wird, vorausgesetzt, mein früherer Kollege kann das herausfinden.«
»Immerhin wäre ich einen Schritt weiter. Danke, Herr Fischer! Darf ich Sie zu einem Bier einladen?«
»Gerne. Sie haben immer diese tschechischen Sorten, ausgesprochen lecker.«
Stephan Haberling ging zum Kühlschrank und blickte auf eine Scheibe Maasdamer und einen Rest Butter.
»Entschuldigung, ich wollte gerade zum Supermarkt gehen, als wir uns im Treppenhaus gesehen haben. Nach dem Einkauf gibt es auch wieder Bier in meinem Kühlschrank. Im Augenblick leider nicht.«
Detlef Fischer nahm es nicht krumm, er versprach, am späten Nachmittag – womöglich schon mit Ergebnissen bezüglich der Fotos – auf die Einladung zurückzukommen.
Kann man innerhalb weniger Minuten vergessen, dass der Kühlschrank leer ist? Stephan Haberling schüttelte den Kopf. Werde ich mit meinen 48 Jahren schon senil? Wenn ja, was ist dann mit diesen Fotos? Habe ich mich vor einer Kamera entblößt und das einfach vergessen? Gibt es so etwas?
Verlorene Minuten, Stunden Tage – so etwas mochte es in Romanen und Filmen geben. Es mochte vorkommen, dass Menschen sich so betranken oder mit Drogen anfüllten, dass sich ihnen später Erinnerungslücken auftaten. Stephan Haberling konnte sich nicht erinnern, sich in den letzten zwanzig Jahren dermaßen betrunken zu haben, und von Drogen hielt er sich sowieso fern.
Er nahm seinen Mantel vom Haken im Flur und schloss die Tür hinter sich. Vielleicht klärte die frische Luft auf dem Weg zum Einkaufen ein wenig sein wie vernebeltes Gehirn. Im Treppenhaus meinte er, das Klingeln seines Telefons aus der Wohnung zu hören, aber er machte nicht kehrt sondern ging hinaus auf die Straße.

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Und nun, verehrtes virtuelles Publikum, liegt es in Eurer Hand, zu entscheiden, ob die Fotos der fortschreitenden Entblößung »echt« sind oder durch technische Tricks zustande gekommen sind. Davon wird letztendlich der Schluss dieser Erzählung abhängen, falls es jemals einen geben wird. Ich habe für beide Fälle eine ganz vage Idee, aber – Hand aufs Herz! – noch keine Ahnung, was wirklich als nächstes passiert.
Paul Auster schrieb in seinem Buch Leviathan: »Nobody knows where a book comes from, least of all the person who writes it.« Im Fall dieser Geschichte weiß ich zumindest, woher ein Teil der Wendungen kommt: Von den geschätzten Lesern.

Klarer Fall:
Die Fotos sind echt!
Die Fotos sind manipuliert!
Auswertung

Nachtrag 19. Oktober: Wer mag, kann noch klicken, aber ich nehme das Ergebnis von heute zur Kenntnis und als Grundlage für die Fortsetzung. Eine Zweidrittelmehrheit wünscht sich, dass die Fotos echt sind. Au weia!