Eigentlich wollte ich die Szene, mit der diese Folge endet, noch weiter schreiben. Aber der Sonntag war denn doch mit anderen Aktivitäten gut gefüllt – daher bleiben wir am Schluss dort sitzen, wo wir eben sitzen.
Wie üblich hier die Verknüpfungsorgie vorab: [Teil 1] /// [Teil 2] /// [Teil 3] /// [Teil 4] /// [Teil 5] /// [Teil 6] /// [Teil 7] /// [Teil 8] /// [Teil 9] /// [Teil 10] /// [Teil 11] /// [Teil 12] /// [Teil 13]
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Die Stimme war so unirdisch wie die Finsternis, aus der sie kam. »Du musst ihr das Leben schenken.«
Johannes war nicht nach Scherzen zumute, zu beklemmend war die Atmosphäre, zu groß die Sorge um Jessika. Sonst hätte er so etwas wie »wenn ich muss, dann gehe ich aufs Klo« geantwortet. Aber solche Sprüche gehörten in eine andere Welt, in ein anderes Leben. In eine andere Zeit womöglich. Statt dessen fragte er: »Wer ist da?«
»Ich bin Nitzrek. Du musst sie retten.«
»Aber ich weiß nicht, wie.«
»Wie du sie in diese Lage bringen konntest, wusstest du. Und nun bist du am Ende deiner Fähigkeiten?«
Johannes versuchte, die Gestalt zu erkennen, die mit ihm sprach. Es war jedoch zu dunkel, um mehr zu sehen als ein Etwas, ein Wesen, einen großen, tiefschwarzen Schatten, noch schwärzer als die Finsternis. Kein Gesicht, keine Konturen.
»Ich bin Nitzrek.«
Er antwortete: »Ich weiß. Und du willst Jessika nicht verlieren. Du kannst ihr helfen, ich nicht.«
Johannes wollte diesem Wesen in die Augen sehen, ihm Jessika in die Arme – falls Nitzrek Arme hatte – legen. Er nahm Jessika auf seine Arme, trat einen Schritt auf die Schattengestalt zu. Womöglich wurde es noch finsterer, als ginge von der Gestalt ein negatives Leuchten aus. In Johannes normaler Welt vertrieb das Licht stets die Finsternis, hier löschte sie dagegen jeglichen Schimmer aus. Ein weiterer Schritt in die gleiche Richtung, Johannes sah nichts mehr, konnte keine Konturen mehr ausmachen, stand orientierungslos in einem schwarzen Nichts. Die Stimme, die er hörte, mochte in seinem Kopf entstehen oder an seine Ohren dringen, sie war unwirklich weit entfernt und doch so nah, als spräche das Etwas direkt in sein Ohr.
»No man sees my face and lives«, sagte Nitzrek.
Johannes spürte, wie Jessika in seinen Armen erbebte, als habe sie ein Stromschlag getroffen. Gleichzeitig berührte ihn etwas an der Stirn, kalt, eisig kalt und feucht fühlte es sich an. Alle Kraft wich aus seinen Muskeln, seine Knie knickten ein und er sank, Jessika in seinen Armen, auf das Gras. Bevor sich Stille über ihn legte, hörte er noch wie aus unglaublich weiter Ferne einen Ruf. »Ich muss zu ihr«, schien die Stimme zu schreien, »wo ist sie?« - aber seine Sinne verließen ihn bereits, bevor er wusste, ob er wirklich etwas gehört hatte.
Als Johannes zu sich kam, lag die Lichtung im Abendsonnenschein, im Geäst zwitscherten ein paar Vögel. Die Luft war noch angenehm warm. Jessika lag halb auf seinem Körper, ihr Kopf ruhte auf seiner Brust. Ihre Haut war kühl, zu kühl für die Umgebungstemperatur. Er nahm das Gesicht behutsam in beide Hände und sagte mit brüchiger Stimme: »Jessika. Wach auf. Es ist vorbei.«
Sie reagierte nicht.
Aus der Ferne meinte Johannes, einen Motor zu hören, ein Motorrad mochte es sein. Das Geräusch klang weit entfernt.
»Jessika, bitte wach auf.«
Johannes bettete Jessikas Kopf vorsichtig auf ihren gesunden Arm und stand auf. Ich muss Hilfe holen. Ich brauche jemanden, der ihr hilft. Mir hilft. Aber wer?
Neben seinem Auto lag die Leiche mit der klaffenden Wunde im Hals, der zweite Angreifer war nicht mehr zu sehen. Ob der Mann tot gewesen war, konnte Johannes nicht sagen, er hatte nur noch Augen für Jessika gehabt in den Momenten, bevor die Finsternis vom Himmel gefallen war. Wie lange war das her? Seine Armbanduhr hatte er abgelegt bevor er ins Wasser ging. Johannes ging zu den Wolldecken hinüber und schaute auf das Ziffernblatt. Drei Stunden war es her, dass sie hier angekommen waren. Er vergaß, dass er sein Telefon holen wollte, um den Notruf zu wählen, sein Denken war blockiert. Er starrte in die Ferne, dann nahm er eine der Decken, ging zurück zu Jessika und breitete den Stoff über ihren Körper. Er kniete neben ihr nieder und versuchte festzustellen, ob sie noch atmete. Die Lippen waren halb geöffnet, ob die Lungen stillstanden oder noch schwach funktionierten, konnte er nicht feststellen. Johannes presste seinen Mund auf ihren, hielt ihre Nase zu und blies seinen Atem in sie hinein. Seine Finger suchten nach dem Puls an ihrem Kinn. Schwach, ganz schwach meinte er, ihn zu spüren, flüchtig nur und sehr langsam. Wieder blies er Luft in ihre Lungen.
Das Motorengeräusch wurde zunehmend lauter. Johannes dachte an die Lederkleidung der beiden Angreifer und sah sich nach dem Messer um, das er hatte fallen lassen. Es lag drei Schritte entfernt im Gras.
Vielleicht kommt Hilfe? Woher denn! Ich habe ja niemanden verständigt. Der Hüne kommt mit Verstärkung zurück, um seinen toten Freund zu rächen. Ich brauche jemanden … ich … jemanden von ihrer Art. Ich brauche Alesia.
Johannes stand wieder auf und holte sich den Dolch. Das Motorrad kam näher. Er überlegte, ob er sich etwas anziehen sollte, doch dazu hätte er sich zu weit von Jessika entfernen müssen. Ich werde dich verteidigen, bis zum letzten Atemzug, selbst wenn du stirbst. Zumindest das bin ich dir schuldig. Johannes starrte auf den Waldrand.
Sekunden später brach eine schwere Maschine durch das Unterholz. Der Fahrer trug einen Helm mit dunklem Visier, hinter ihm saß eine schmächtigere Gestalt auf dem Sitz. Einen Augenblick glaubte Johannes, den riesigen Räuber vor sich zu haben, aber dann sah er, dass der Motorradfahrer nicht so gigantisch war. Er steuerte sein Fahrzeug über die Lichtung und kam neben Jessika und Johannes zum Stehen. Der Motor verstummte. Die kleinere Gestalt sprang vom Motorrad und nahm den Helm ab, bevor der Mann das Gefährt auf den Ständer wuchten konnte.
»Jessika! Ich bin da! Ich bin gekommen!«
Luca warf den Helm beiseite und beugte sich über den leblosen Körper. »O bitte, lass es nicht zu spät sein!« rief er, während er die Decke beiseite zog und hinter sich warf.
Johannes war sprachlos. Woher … wieso …
Als der Fahrer der Maschine den Helm abnahm, erkannte er Giacomo. Dieser nickte ihm kurz zu und fragte dann seinen Sohn: »Was brauchst du?«
Luca zog seine Lederjacke aus und warf sie zur Decke hinter sich. »Mein Blut. Schnell.«
Giacomo griff in seine Jackentasche und brachte ein Rasiermesser zum Vorschein. Er klappte es auf und zog die Klinge ohne zu zögern über den ausgestreckten rechten Unterarm seines Sohnes. Das helle Blut floss schnell und reichlich.
Luca presste die Wunde auf Jessikas Oberarm, direkt auf den klaffenden Schnitt in ihrer Haut. Giacomo sah Johannes an und befahl: »Verbandskasten. Aus dem Auto. Sofort.«
Aus Jessikas Mund kam ein Stöhnen, ihre Augenlider flatterten. Johannes beugte sich zu ihr hinab.
»Subito! Sofort!« schrie Giacomo ihn an.
Johannes erwachte aus seiner Erstarrung und rannte los. Der Verbandskasten lag unter dem Fahrersitz. Er zog ihn hervor und eilte zurück. Giacomo streckte die Hand aus und nahm den Kasten an sich.
Luca war bleich geworden, Jessika öffnete die Augen. »Es ist …«, flüsterte sie.
»Nicht reden«, sagte der Junge. Er hob seinen blutenden Arm, riß sich das T-Shirt vom Leib und legte sich auf Jessikas Körper, schlang den freien linken Arm um sie und presste wieder Wunde auf Wunde. Jessika zitterte kurz, dann legte sie ihren unverletzten Arm um Luca und drückte ihn an sich. Wenige Minuten später sagte sie: »Es ist genug. Danke, Luca.«
»Sicher? Ganz bestimmt?«
»Ja. Hör auf. Lass dich verbinden.«
Giacomo half seinem Sohn beim Aufstehen und presste sofort eine Kompresse auf den Schnitt. Johannes nahm eine Binde und wickelte sie fest um den Unterarm des Jungen. Dann hatte er wieder Augen für Jessika. Sie lächelte. Sie bekam wieder Farbe ins Gesicht. Sie hatte sich aufgesetzt und deutete auf den Verbandskasten, der im Gras lag. »Eine Kompresse, bitte. Nur für ein paar Minuten.«
»Luca war es, der deinen Schrei gehört hat«, erklärte Giacomo.
Zu viert saßen sie auf der Terrasse eines Restaurants beim Essen. Jessika trug wieder das rote Kleid von Alesia und Johannes starrte alle paar Minuten auf ihren Arm, der keine Spur der beinahe tödlichen Verletzung mehr zeigte. Nur wenn man wusste, wo die Stelle war, konnte man noch eine leichte Schwellung sehen – oder sich eine solche einbilden. Luca hatte ein schwarzes T-Shirt an, keine Spur von dem Schnitt mit der Rasierklinge war auf seinem Unterarm zu erkennen.
»Ich glaube, dass das alles Einbildung war. Wir sind nicht überfallen worden, Jessika wurde nicht verletzt. Wir haben uns zufällig hier in diesem Restaurant mit Giacomo und Luca getroffen«, murmelte Johannes.
Luca gab zurück: »Und der Mond ist eine Scheibe«
Giacomo ermahnte ihn: »Erst runterschlucken, was du im Mund hast, dann reden. Niemand will die halb zerkaute Pasta auf deiner Zunge bewundern, monello.«
Jessika legte ihren Arm um den Jungen, drückte ihn an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Heute darfst du alles«, sagte sie. Luca wurde rot, ließ sich aber auch noch einen Kuss auf die Wange gefallen.
Giacomo schüttelte resignierend den Kopf. »Ah bella! Wie soll man seinen Kindern Anstand beibringen, wenn einem ständig widersprochen wird?«
Johannes griff nach seinem Bierglas und trank einen kräftigen Schluck. Der herbe Geschmack, das kühle Glas – wunderbar real und zweifellos echt, im Gegensatz zu den verworrenen Erinnerungen an den Nachmittag am Lago di Montepulciano. Tiefe Schnittwunden, die innerhalb von Minuten verschwinden – heilen – sich auflösen, was auch immer; und überhaupt: eine merkwürdige Lebensrettungsmethode, die blutende Verletzung des Retters auf die des Opfers zu drücken und sich dabei mit so viel Hautkontakt wie möglich auf den ausgestreckten Körper zu legen …
»Ich sagte dir doch«, unterbrach Jessika seine Grübeleien, »dass wir schnell heilen.«
Johannes runzelte die Stirn und sagte: »Das habe ich bei meinen Recherchen über eure Art auch gelesen, aber so schnell? Und außerdem wärest du beinahe gestorben, nicht wahr? Wo war denn die schnelle Heilung, als sie gebraucht wurde?«
Luca schob den letzten Löffel Pasta in seinen Mund und erklärte: »Schneller ging es nicht. Mama hat uns den Ort beschrieben, an dem wir euch finden, aber fliegen können wir nicht. Papa ist immerhin gefahren wie ein Rennfahrer.«
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Tja. Und nun?
Luca und Giacomo ... |
... brechen alleine auf, zurück nach Hause. |
... bleiben noch mit Johannes und Jessika zusammen. |
Auswertung |
…
4 Kommentare:
Ich vermeide dergleichen Urteile normalerweise, weil ich ja selbst nicht so gut schreibe, dass ich mir welche erlauben dürfte - aber darf ich mir mal ausnahmsweise erlauben, zu sagen, dass du das sehr schön geschrieben hast? Ich hab an ein, zwei Stellen innerlich gejauchzt über die Ausdrucksweise. :)
Na welcher Autor würde so was nicht gerne lesen ... vielen Dank für die Blumen! :-)
was sagtest Du, wann es weitergehe?
Morgen?
Das find ich gut.
Sicher NICHT morgen, und am Wochenende habe ich viel zu tun / viel vor. Tja.
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